V. Ebert u.a.: Europa ohne Fahrplan?

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Title
Europa ohne Fahrplan?. Anfänge und Entwicklung der gemeinsamen Verkehrspolitik in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (1957–1985)


Author(s)
Ebert, Volker; Harter, Phillip-Alexander
Series
Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Beihefte 211
Published
Stuttgart 2010: Franz Steiner Verlag
Extent
278 S.
Price
€ 52,00
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Gernot Müller, Wissenschaftliches Institut für Infrastruktur und Kommunikationsdienste GmbH

Die Auseinandersetzung mit der Entwicklung der europäischen Verkehrspolitik von ihren Ursprüngen bis 1985 wird von fast allen wissenschaftlichen Disziplinen vernachlässigt. Gründe sind die während dieser Periode dominierenden nationalstaatlichen Interessen bei der Ausgestaltung einer gemeinsamen Verkehrsmarktordnung und die daraus resultierenden bescheidenen Erfolge. Insbesondere existierte für den Gesamtzeitraum bisher keine umfassende rein historische Aufarbeitung der gemeinsamen Verkehrspolitik. Im Mittelpunkt standen vielmehr die einzelstaatlichen Konzeptionen oder bestimmte Phasen der europäischen Verkehrspolitik. Anzuführen sind allerdings neuere Veröffentlichungen, die die Genese der europäischen Verkehrspolitik schwerpunktmäßig aus wirtschaftspolitischer bzw. -theoretischer Perspektive darstellen und analysieren.1

Die vorliegende Veröffentlichung schließt diese geschichtswissenschaftliche Lücke für die gemeinsame Straßen- und Eisenbahnverkehrspolitik der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG). Auch methodisch geht das Werk einige Schritte weiter, indem es nicht nur die bekannten Dokumente der Gemeinschaftsorgane (Rechtsvorschriften, Stellungnahmen und Entschließungen, Mitteilungen und Berichte), die zusammenfassenden Darstellungen (Gesamtberichte über die Tätigkeit, Bulletins) und die Sekundärliteratur berücksichtigt, sondern auch bisher nicht aufgearbeitetes Archivmaterial (Tagungsprotokolle der europäischen Institutionen, Akten des Bundesverkehrsministeriums) auswertet.

Das Buch gliedert sich in acht Kapitel. Im Anschluss an die Einleitung, die sich mit der Fragestellung und Vorgehensweise sowie mit dem Forschungsstand und der Quellenlage befasst, geht das zweite Kapitel auf die Ausgangsbedingungen bis zur Gründung der EWG ein. Zum einen werden die ordnungspolitischen Grundprinzipien in der Verkehrspolitikder Nachkriegszeit, das regulatorische Instrumentarium und die Verkehrsmarktordnungen der Vertragsstaaten behandelt. Zum anderen werden die gemeinsamen Initiativen der Jahre 1945−1957, die Herausbildung institutioneller Rahmenbedingungen und die Verhandlungen um die Ausformulierung des Verkehrstitels des EWG-Vertrags beschrieben.

Die Kapitel III bis VII teilen die Entwicklung der europäischen Verkehrspolitik zwischen 1958 und 1985 in fünf von den Autoren identifizierte Phasen ein. Ausgangspunkt sind zumeist die jeweils neuen Konzepte bzw. Initiativen der Europäischen Kommission in Form von Mitteilungen oder Programmen sowie die nachfolgenden Grundsatzdiskussionen (Abschnitt A). Danach werden die marktordnungspolitischen Maßnahmen auf den Gebieten der Tarifpolitik (Abschnitt B.1.a.), der Marktzugangs- und Kapazitätspolitik (Abschnitt B.1.b.), der Harmonisierung der Wettbewerbsbedingungen (Abschnitt B.1.c.) und der Verkehrsinfrastrukturpolitik (Abschnitt B.2.) besprochen. Die Kapitel III und VII beinhalten einen Abschnitt C, der grundlegende Entwicklungen am Ende der beiden Perioden thematisiert. Am Ende der Kapitel III bis VI findet sich jeweils eine instruktive Zusammenfassung. Das achte Kapitel zieht ein Gesamtfazit zur europäischen Verkehrspolitik zur europäischen Verkehrspolitik bis 1985. Der Anhang besteht aus einem Tabellen-, Abbildungs-, Abkürzungs-, Quellen- und Literaturverzeichnis. Hilfreich wäre hier ein Personen- und Sachregister gewesen.

In inhaltlicher Hinsicht bringt das Buch in mehrfacher Hinsicht einen Erkenntnisgewinn. Da es den Schwerpunkt weniger auf die detaillierten Regelungen der endgültigen Rechtsvorschriften, sondern auf die Inhalte der Kommissionsveröffentlichungen, wie Mitteilungen, Berichte und Vorschläge, den Verhandlungs- und Rechtssetzungsprozess im Verkehrsministerrat sowie auf die Stellungnahmen und Entschließungen des Europäischen Parlaments und des Wirtschafts- und Sozialausschusses legt, werden sowohl der Einfluss der verschiedenen Gemeinschaftsinstitutionen als auch der sechs bzw. neun Mitgliedstaaten auf die Dynamik oder Stagnation der europäischen Verkehrspolitik deutlich. Durch die Einteilung in relativ kurze Zeitphasen, deren Abgrenzung und Charakterisierung man im Übrigen aber nicht in jeder Hinsicht folgen muss, wird außerdem erreicht, dass die Wechselwirkungen zwischen der Tarifpolitik, der Marktzugangs- und Kapazitätspolitik, der Politik zur Harmonisierung der verschiedenen Wettbewerbsbedingungen und der Verkehrsinfrastrukturpolitik deutlich hervortritt.

Vor allem wird sehr gut herausgearbeitet, welche Gründe dazu führten, dass bestimmte Ergebnisse rasch, verzögert, in reduzierter bzw. geänderter Weise oder gar nicht erreicht wurden. Anzuführen sind auf nationaler Ebene die marktordnungspolitischen Kontroversen zur Notwendigkeit der Schaffung eines gemeinsamen Marktes im Gegensatz zur Annäherung der nationalen Märkte, zur Frage nach der Abschaffung oder Vereinheitlichung ordnungspolitischer Interventionen (Besonderheiten des Verkehrs, Kontroverse über Markt-, Wettbewerbs- und Politikversagen), zum Primat der Liberalisierung des Marktzugangs und der Preisbildung einerseits und der Harmonisierung der Wettbewerbsbedingungen anderseits sowie zur Bedeutung der Vorleistungsfunktion des Verkehrssektors für andere Wirtschafts- und Politikbereiche im Verhältnis zur eigenständigen Entwicklung des Verkehrsmarktes. Ebenfalls zu nennen sind Konzepte zur Bevorzugung des Verkehrsträgers Eisenbahn (öffentliches Eigentum, Marktanteilsverluste an den Straßenverkehr, Verschuldung) sowie andere spezifische nationale Besonderheiten und Interessen. Maßgeblich sind auch die unpräzisen Vorgabenzur Verkehrspolitik im EWG-Vertrag und die manchmal wenig durchdachten Konzepte der Europäischen Kommission.

Besonders lesenswert sind in diesem Kontext die Ausführungen zu den Kommissionsinitiativen der Jahre 1961/62, 1967, 1971 und 1973 sowie zu den nachfolgenden Auseinandersetzungen im Ministerrat (S.63−89, 121−126, 160−169, 191−198). Die wesentlichen Befassungsbereiche der europäischen Straßen- und Eisenbahnverkehrspolitik der ersten 25 Jahre werden umfassend beleuchtet und analysiert. Hierzu zählen zum einen die Einführung eines Margen- bzw. Referenzpreissystems (S.91−94, 127−131, 173−176, 199−203, 241−243) und die Einrichtung eines Kontingents für Gemeinschaftslizenzen in Verbindung mit der Abschaffung bilateraler Genehmigungen im Straßengüterverkehr (S.94−100, 131−134, 176−179, 203−210, 244−245).

Große Aufmerksamkeit verdient die ansonsten oft vernachlässigte Harmonisierung der Wettbewerbsbedingungen in finanzieller (Abgeltung gemeinwirtschaftlicher Verpflichtungen, Beihilfen, sonstige Subventionen) (S.106−107, 141−156, 215−226, 247−248), steuerlicher (Doppelbesteuerung, Kraftfahrzeugsteuer, abgabenfreie Einfuhr von Kraftstoffen) (S.102−103, 138−139, 212−214, 247), sozialer(S.135−137, 180, 214−215, 247) und technischer (Angleichung der Maße, Gewichte und Achslasten von Lkw) (S.103−105, 140−141, 180−183, 211−212, 245−247) Hinsicht. Die zentrale Bedeutung der Harmonisierung der Anlastung von Verkehrsinfrastrukturkosten (Wegekosten) (S.102, 139−140, 180) und der Verkehrsinfrastrukturpolitik (S.109−111, 156−157, 184−188, 226−231, 249−250) kommt leider etwas zu kurz.

In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die Verfasser einige − wenn auch von der Bedeutung her sekundäre – Bereiche der europäischen Straßen- und Eisenbahnverkehrspolitik nicht betrachten.2 Auch von den meisten − allerdings vielfach erfolglosen − Kommissionsvorschlägen auf dem Gebiet der Binnenschifffahrtspolitik abstrahiert die Veröffentlichung3, worauf die Autoren allerdings explizit hinweisen.(S.13) Nicht Bestandteil des Buches sind die Bemühungen der Gemeinschaft um die Entwicklung verkehrspolitischer Beziehungen zu Drittländern im Bereich des Landverkehrs (Verhandlungen mit Österreich, der Schweiz und Jugoslawien; Abschluss von AETR-, TIR- und ASOR-Abkommen). Ebenfalls nicht berücksichtigt wird die europäische Verkehrspolitik im Bereich des Luft- und Seeverkehrs. Zwar lassen sich diese Auslassungen angesichts der gewählten Fragestellung zumeist durchaus rechtfertigen, der Vollständigkeit halber hätte dies jedoch erwähnt werden müssen.

Trotz dieser Einschränkungen kann das Buch dem polit- und wirtschaftshistorisch interessierten Leser, der einen tieferen Einblick in die Ursprünge der europäischen Verkehrspolitik erhalten möchte, zur Lektüre empfohlen werden. Gleiches gilt für den wirtschafts-, politik- und rechtswissenschaftlich ausgerichteten Verkehrswissenschaftler sowie für alle in der Verkehrswirtschaft und -politik tätigen Personen.

Anmerkungen:
1 Johannes Frerich/Gernot Müller, Europäische Verkehrspolitik. Von den Anfängen bis zur Osterweiterung der Europäischen Union, Bd. 1: Politisch-ökonomische Rahmenbedingungen – Verkehrsinfrastrukturpolitik, Bd. 2: Landverkehrspolitik, Band 3: Seeverkehrs- und Seehafenpolitik – Luftverkehrs- und Flughafenpolitik – Telekommunikations-, Medien- und Postpolitik, München 2004 und 2006.
2 Verkehrsstatistik, Marktbeobachtungssystem, Prüfungs- und Beratungsverfahren künftiger Rechts- und Verwaltungsvorschriften, Genehmigung des grenzüberschreitenden Straßenpersonenverkehrs, gemeinsame Regeln für den kombinierten Verkehr, Einrichtung paritätischer Ausschüsse für soziale Probleme, Fahrerausbildung, Einführung eines Kontrollgeräts im Straßenverkehr, Führerschein, technische Überwachung von Kraftfahrzeugen, Begrenzung von Schadstoffemissionen, Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung.
3 Versuche zur Regelung des Markt- und Berufszugangs (1967, 1970, 1975), zur Einführung eines Referenzpreissystems (1975) und zur Annahme von Sozialvorschriften (1975); Diskussion über eine gemeinsame Strukturbereinigung; Vorschriften zu Verkehrsstatistik, Einrichtung paritätischer Ausschüsse, Anerkennung von Binnenschifffahrtsattesten und technischen Vorschriften für Binnenschiffe.

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09.12.2011
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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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