S. Kunkel u.a. (Hrsg.): Aufbruch ins postkoloniale Zeitalter

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Title
Aufbruch ins postkoloniale Zeitalter. Globalisierung und die außereuropäische Welt in den 1920er und 1930er Jahren


Editor(s)
Kunkel, Sönke; Meyer, Christoph
Series
Globalgeschichte 12
Published
Frankfurt / New York 2012: Campus Verlag
Extent
277 S.
Price
€ 34,90
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Nathanael Kuck, Graduiertenkolleg „Bruchzonen der Globalisierung“, Universität Leipzig

Die Jahre zwischen den beiden Weltkriegen erscheinen in Darstellungen zur Globalgeschichteoft als eine Zeit abnehmender Dichte und Intensität weltumspannender Verflechtungen: Ein sinkendes Welthandelsvolumen, Protektionismus und die zunehmende Verbreitung nationalistischer Bewegungen scheinen diese Grundthese zu stützen. Die Beiträger des vorliegenden Sammelbandes setzen dem ein Narrativ entgegen, das von mehr Widersprüchlichkeit und gegenläufigen Tendenzen charakterisiert ist. In der Einleitung betonen die Herausgeber Sönke Kunkel und Christoph Meyer globale Verbindungen jenseits der Handelsstatistiken und sehen in den 1920er und 1930er Jahren „eine konstitutive Experimentierphase des 20. Jahrhunderts [...] in der maßgebliche Probleme, Lösungsansätze, Prozesse und Praktiken des 20. Jahrhunderts, ausgelöst, erprobt, verworfen oder erfunden wurden“ (S. 9).

Damit positionieren sie sich gegen eine aus ihrer Sicht europa-zentrierte Charakterisierung der Zwischenkriegszeit als Phase der Deglobalisierung. Ein Blick auf die außereuropäische Welt eröffne vielmehr den Blick auf neu entstehende Akteure, Vorstellungen und machtpolitische Verschiebungen, die bis in die Gegenwart fortwirkten. Allerdings beschäftigen sich die meisten der nachfolgenden Beiträge nicht allein mit der außereuropäischen Welt, sondern stellen die Wechselwirkungen und Verbindungen zwischen dem Westen und den weiteren Weltregionen in den Mittelpunkt. In diesem Kontext erscheint auch die Zwischenkriegszeit – in vielen außereuropäischen Regionen kaum eine zusammengehörige Periode – ein sinnvoller Untersuchungszeitraum

Der Band geht zurück auf einen Workshop zu Globalgeschichte an der Jacobs University Bremen 2009 und bietet vor allem jungen Forschenden ein Forum. Erfreulich ist, dass die Beiträge sich vielfältiger Herangehensweisen bedienen, um sich der komplexen Thematik zu nähern. Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte sind genauso vertreten wie diskursanalytische und postkolonial inspirierte Ansätze oder die histoire croisée.

In einem ersten Teil setzen sich drei Beiträge mit der ökonomischen Dimension der Globalisierung auseinander. Der Beitrag von Christof Dejung analysiert die weltwirtschaftlichen Entwicklungen der Zwischenkriegszeit weniger als eine Deglobalisierung, denn als eine Ent-Europäisierung dominanter Welthandelsmuster, die letztlich schon die heute offensichtliche Schwerpunktverschiebung des Welthandels in Richtung Pazifik ankündigte. Zudem veranschaulicht sein Blick auf Schweizer Maschinenhersteller, dass einzelne Unternehmen durchaus intensive Internationalisierungsbemühungen verfolgten, die in makroökonomischen Welthandelsstatistiken nicht sichtbar werden. In Anlehnung an Frederick Cooper argumentiert Dejung damit überzeugend, dass Globalisierung als komplexer Prozess gegenläufiger Tendenzen zu untersuchen sei.
Solche gegenläufigen Tendenzen führt auch der zweite Beitrag von Christiane Berth zum Kaffeehandel zwischen Deutschland und Zentralamerika an. Auf der Ebene der einzelnen Akteure macht sie in der verstärkten Migration von Deutschen nach Zentralamerika und den verbesserten Kommunikationswegeneine Intensivierung transnationaler Beziehungen
aus. Auf der Ebene staatlicher Politik nahm mit der Weltwirtschaftskrise beidseits des Atlantiks eine interventionistische, regulierende Regierungspraxis als Strategie der Krisenbekämpfung eine immer wichtigere Rolle ein.
Die neu entstehenden Praktiken der Marktintervention stehen auch im Mittelpunkt des dritten Beitrags von Fritz Georg von Graevenitz. Am Beispiel der Zuckerexporteure beschäftigt er sich mit der Entstehung von transnationalen Interessenvereinigungen als neuen wirtschaftspolitischen Akteuren, die versuchten, die internationale Politik aktiv mit zu gestalten. Zugleich kündigten diese neuen Akteure eine wirtschafspolitische Neuorientierung an, die weder globalen Freihandel noch nationalstaatlichen Protektionismus vertrat, sondern sich für die Einrichtung einer zentralen Instanz der globalen Markplanung einsetzte.
Trotz sinkender Welthandelsvolumen machen die Beiträge des ersten Teils deutlich, dass sich in der Zwischenkriegszeit neue Akteure und wirtschaftspolitische Leitideen formierten und sich das Ende der dominierenden Stellung Europas in der Weltökonomie schon deutlich ankündigte.

Der zweite Teil des Bandes setzt sich mit der Entstehung der Entwicklungspolitik als globalem Handlungsfeld auseinander. Zuerst wirft Daniel Maul einen Blick auf amerikanische Nichtregierungsorganisationen und die Institutionalisierung humanitärer Hilfe in den USA an der Schnittstelle von privater, nationalstaatlicher und internationaler Organisierung. Die zunehmend verfeinerte Anbindung humanitärer Hilfe an staatliche Interessenpolitik und erste Versuche der internationalen Institutionalisierung von Not- und Krisenhilfe sind dabei zwei Entwicklungslinien, die bis heute fortdauern.
Sich ganz auf die diskursive Ebene konzentrierend untersuchen die Herausgeber Sönke Kunkel und Christoph Meyer einige im Rahmen des Völkerbundes angefertigten Schlüsselstudien. In ihnen fanden sie „ein Set an leitenden theoretischen Grundannahmen, die dem totalisierenden Zugriff der späteren Modernisierungstheorie schon erstaunlich nahekamen“ (S. 140). Mit ihrer Untersuchung gelingt es den Autoren überzeugend, die Anfänge des Entwicklungsdenkens als einer der politischen Leitvorstellungen des 20. Jahrhunderts in den Gremien und Kommissionen des Völkerbundes zu verorten.

Daran anschließend widmet sich der dritte Teil den Ursprüngen derDekolonisierung. Die ersten beiden Beiträge setzen sich beide mit der Aneignung und Transformation westlicher Subjektivitätskonzepte zur Einforderung von Souveränitätsrechten auseinander. Torsten Weber untersucht den zivilgesellschaftlichen Panasianismus der 1920er-Jahre anhand zweier Konferenzen, die auf eine Initiative von chinesischen und japanischen Aktivisten zurückgingen. Konfligierende nationale Interessen bedeuteten, dass dieser Asianismus-von-unten stets ein brüchiges Unterfangen blieb und sich zu keiner Zeit auf ein gemeinsames Subjektverständnis abstützen konnte. Auch wenn die eingeforderte Gleichberechtigung Asiens in der internationalen Arena als eine Aneignungs- und Ermächtigungsstrategie gelesen werden kann, bedeutete die Funktionalisierung panasiatischer Diskurse für den japanischen Imperialismus das schnelle Ende dieser Bestrebungen. Dieses Experiment der Zwischenkriegszeit endete also schnell in einer Sackgasse.
Ähnlich gelagert erscheint Elisabeth Engels Untersuchung zum Umgang mit dem race-Konzept in Britisch-Westafrika. Die Autorin rekonstruiert Verbindungen und Abgrenzungen sowohl mit europäisch-kolonialen wie auch afroamerikanischen Vorstellungen von race, sieht die Spezifik des westafrikanischen Diskurse aber gerade in seinem Beharren auf innerer Pluralität. Damit ergab sich die interessante Konstellation einer auf race aufbauenden Subjektkonstitution, die nicht automatisch die Essentialisierung des europäischen Rassismus übernahm.
Die weiteren Beiträge des dritten Teils beschäftigen sich mit den Debatten und Organisierungsversuchen antikolonialer Bewegungen. Maria Framke untersucht anhand der indischen Rezeption des Abessinienkriegs die Entstehung eigenständiger außenpolitischer Positionen und alternativer Vorstellungen von internationaler Ordnung. Sie führt damit die konzeptionelle Grundlage für postkoloniales Regierungshandeln auf die Wahrnehmung von politischen Konflikten in anderen Weltregionen zurück und betont somit die Wichtigkeit eines Bewusstseins für globale Zusammenhänge. Jürgen Dinkel schließlich sieht in dem Versuch der Liga gegen Imperialismus, unterschiedliche antikoloniale Bewegungen in einer Organisation zu vereinen die Vorgeschichte der Blockfreienbewegung.

Die beiden Beiträge des letzten Teils zu Europas Außenbeziehungen zeigen stärker als die vorangehenden die Kontinuitäten europäischer Wahrnehmungsmuster und Bilder des „Anderen“. Esther Möller setzt sich mit der Präsenz französischer Schulen aus dem Libanon an der Kolonialausstellung von 1931 in Paris auseinander. Die Selbstinszenierung der Kolonialmacht Frankreich erscheint hier noch weitgehend ungetrübt von den Verwerfungen, die gerade im vorangehenden Teil thematisiert wurden.
Florian Riedler, der sich anhand des Veteranenvereins Bund der Asienkämpfer mit dem deutschen Türkeibild auseinandersetzt, betont einerseits die anhaltende orientalistische Stereotypisierung. Allerdings bewirkte die Nationalisierung der Türkeigleichzeitig, dass sie in den Publikationen des Vereins als gleichrangiges, sich modernisierendes Mitglied der internationalen Ordnung anerkannt worden ist.

Insgesamt zeigen die vielfältigen Zugänge dieses Bandes, dass sich viele für eine globalisierte Welt bestimmende Praktiken, Organisations- und Denkformen auf die Zwischenkriegszeitzurückführen lassen: die Institutionalisierung internationaler Ordnungsversuche, das Entstehen neuer transnationaler Akteure, das Entwicklungsdenken oderdie Universalisierung des Nationalen sind einige wichtige Aspekt, die mit den hier versammelt Beiträgenangesprochen werden. Auch wenn diese stichprobenartige Tiefenbohrungen noch kein systematisches Bild der globalen Verflechtungen zeichnen können, so regen sie doch sicherlich dazu an, die 1920er- und 1930er-Jahre als Zeit der Rekonfiguration globaler Verbindungen neu zu denken.

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24.05.2013
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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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