Mit der Aufnahme des Themas «Grenzen» für die Zweiten Schweizerischen Geschichtstage lädt die SGG zum Einreichen von Panel-Vorschlägen für alle historischen Zeiträume und für die verschiedenen thematischen, methodischen und konzeptuellen Betrachtungsweisen ein. «Grenze» soll dabei in erster Linie als Wahrnehmungskategorie verstanden werden, die das Spannungsverhältnis zwischen Grenzziehung und Entgrenzung ebenso umfassen kann, wie Grenzüberschreitungen und Transgressionen im physischen wie im metaphysischen Sinn.
Politische Räume, historische Konstruktionen und kulturelle Identitäten Grenzen scheinen derzeit ihre Bedeutung zu verlieren, überregionale und internationale Beziehungen, transnationale Prozesse und globale Strukturen prägen zunehmend die Wirtschafts-, Kommunikations- und Denkstrukturen. Dabei geraten aber interessanterweise gerade Grenzen vermehrt in den Blickwinkel politischer Auseinandersetzungen und geschichtswissenschaftlicher Reflexion. Und dies nicht nur im Blick auf die Etablierung und Verfestigung nationaler Grenzen seit dem 19. Jahrhundert, das Zeiträume mit einem anderen Verständnis von Pass(age) und Grenze ablöste: etwa die Zollgrenze an Brücken und Passstrassen, die das Konzept der Grenze als lückenlose Grenz-Linie infrage stellt. Grenzen können einerseits zwar trennen und beschränken, andererseits aber auch Schutz oder Orientierung bieten. Insofern geht die Betrachtung von politischen Grenzen auch über die politik- und wirtschaftsgeschichtliche Dimension hinaus zu einer kulturgeschichtlichen Dimension – etwa dort, wo es um Markierungen und Identifizierungen von Personen(-gruppen) geht, die von den Grenzen ein- bzw. ausgeschlossen werden (sollen), aber auch solche, die gezwungenermassen oder bewusst als «Grenzgänger» oder gar als «Nomaden» agier(t)en und damit die Durchlässigkeit der Grenzziehung auf die Probe stell(t)en.
Globale Grenzen
Die Aufhebung der Wirtschafts- und Zollgrenzen, das zunehmende Bewusstsein von Globalität und internationaler Verbindung bedeutet nicht das Ende der Grenzen, es setzt vielmehr ambivalente neue Prozesse der Grenzziehung in Gang, in denen intellektuelle Konstruktionen, historische Begründungen und Legitimationen von Grenzen sichtbar werden, sei es in der Debatte um die «Grenzen Europas», in der Verfestigung und «Verteidigung» europäischer Grenzen gegenüber Afrika in Italien, Griechenland und Spanien oder der heftig diskutierten Ziehung von «Kreisen» als Demarkationslinien zwischen erwünschten und unerwünschten «Einwandererstaaten» in der Schweiz.
Um ganz andere Grenzüberschreitungen in einer globalisierten Welt handelt es sich bei der Ausbreitung von Krankheiten wie SARS oder BSE: Krankheitserreger, die nicht nur Ländergrenzen sondern auch Artengrenzen überwinden und ihrerseits mit grenz- und disziplinenüberschreitender Wissenschaft erforscht werden. In der öffentlichen Auseinandersetzung werden historische Bezüge zum Verständnis und zur Betonung der Gefährdung herangezogen – wie etwa der Hinweis auf die Spanische Grippe zur Zeit des Ersten Weltkriegs. Diese «Grenzüberschreitungen» bieten Anlass zu einer grundlegenden Auseinandersetzung mit gesellschaftlich konzipierten Grenzen – und deren Überwinden durch Viren, Bakterien und Prionen.
Geographische Räume, Karten und Wege
Die Vorstellung, dass Berge, Täler oder Flussläufe «natürliche Grenzen» darstellen, wurde bereits von Lucien Febvre in den 1930er Jahren hinterfragt. Neuere Untersuchungen – etwa zur Geschichte des Rheins als Grenzfluss – verdeutlichen das Verständnis von Grenzen als «gemachte Gebilde», zeigt sich doch, dass je nach politischer Situation die Funktion als Abgrenzung oder diejenige als Verkehrs- und Verbindungsweg von grösserer Bedeutung ist.
Das als spacial turn bezeichnete Interesse an Räumen und Raumvorstellungen hat zusammen mit den digitalen Erfassungs- und Erschliessungsmitteln neue Möglichkeiten zur Darstellung von Raum und Zeit in Karten geschaffen. Sie eröffnen neue Forschungen, lassen aber auch die «alte» Frage nach der Rolle von Karten und von Kartographie als Machtfaktor in einem neuen Licht erscheinen.
Lebensräume, Soziale Mobilität, Geschlechtergrenzen
In Prozessen von Grenzziehung, Grenzüberschreitung und Entgrenzung sind Differenzkategorien wie Schicht, Geschlecht, Stand, Religion, Konfession, Kaste, Ethnie oder «Rasse» von entscheidender Bedeutung. Verletzung und Neudefinition von Rollennormen und Rollenerwartungen können im Zusammenhang mit Grenzziehungsprozessen und als Grenzerfahrungen gefasst werden. Grenzen halten Verschiedenheit, aber auch Ungleichheit fest in so unterschiedlichen Bereichen wie (Stadt-)Raumgestaltung, Wohnen, Ernährung, Lebenserwartung, Gesundheitsvorstellungen. Wie und wann wurde z.B. die vermeintlich «natürliche» Geschlechtergrenze im historischen Verlauf konstituiert, definiert und schliesslich auch hinterfragt – theoretisch, in postmodernen queeren Orientierungen ebenso wie in alltäglichen Handlungen einzelner Akteurinnen und Akteure? Wie wurden und werden soziale Grenzen markiert – etwa diejenige zwischen Herr/in und Sklave/Sklavin in antiken oder kolonialen Sklavenhaltergesellschaften, aber auch die zwischen Reichen und Armen, Gebildeten und Ungebildeten, «Etablierten» und «Aussenseitern»? Und wie konnten solche Grenzen überwunden, wie aufrechterhalten werden? Welche Voraussetzungen und Folgen hat soziale Mobilität, und wie ist sie mit räumlicher Mobilität verbunden?
Konzeptionelle Grenz(ziehung)en:
Schliesslich ist das wissenschaftliche Denken über Grenzen selbst zu hinterfragen, sei dies bezüglich der Grenzen der Geschichte als wissenschaftlicher Disziplin, aber auch der in ihr wirksamen Grenzen – so etwa die Epochengrenzen und ihre Voraussetzungen und Folgen, aber auch die «Datumsgrenzen», die auf die Dimension von Zeit und deren historische und kulturelle Be-Messung und Begründung verweisen. Daneben ist an weitere Grenzziehungen zu denken, die mit den Gegenständen historischer Forschung verbunden sind - etwa die zwischen «Natur(-wissenschaft)» und «Kultur(-wissenschaft)», zwischen Mensch, Tier und Umwelt, zwischen «Diesseits» und «Jenseits», zwischen Religion, Magie und Wissenschaft.
Termin zur Eingabe von Panelvorschlägen: 30. November 2008