Besatzungserfahrungen in Europa (1914-1945)

Besatzungserfahrungen in Europa (1914-1945)

Organizer(s)
Centre Marc Bloch (Berlin); CEGES (Brüssel); Frankreichzentrum der TU (Berlin)
Location
Berlin
Country
Germany
From - Until
09.09.2004 - 11.09.2004
Conf. Website
By
Fabian Lemmes, Europäisches Hochschulinstitut, Florenz

Besatzungssituationen wurden in den Jahren zwischen 1914 und 1945 für breite Bevölkerungsteile in Europa zu einer zentralen Erfahrung. Im Falle des Zweiten Weltkrieges sind Besatzungsherrschaft und -erfahrungen schon seit geraumer Zeit Gegenstand der Forschung, wenn auch vor allem in nationalgeschichtlich begrenzter und nur selten in vergleichender Perspektive. Für den Ersten Weltkrieg ist die Thematik erst in jüngerer Zeit ins Blickfeld der Historiker geraten. Diese beiden historiographischen Traditionen unter Einbeziehung der Besatzungserfahrungen der Zwischenkriegszeit miteinander zu verbinden, setzte sich der von Centre Marc Bloch, Frankreichzentrum der Technischen Universität Berlin und Centre d'Etudes et de Documentation Guerre et Sociétés contemporaines (CEGES, Brüssel) vom 9. bis 11. September 2004 in Berlin veranstaltete Workshop über "Besatzungserfahrungen in Europa (1914-1945)" zum Ziel. Er fügte sich in eine breitere Tendenz der neueren - insbesondere französischen - Forschung ein, den "dreißigjährigen Krieg" zwischen 1914 und 1945 unter vornehmlich erfahrungs- und kulturgeschichtlichen Fragestellungen als Einheit zu betrachten.1 Die Tagung gab 26 Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern aus Deutschland, Frankreich, der Schweiz, Russland und Irland Gelegenheit, aktuelle Forschungsprojekte zu präsentierten und zu diskutieren. Arbeitssprachen waren Deutsch und Französisch.

Die Eröffnungsveranstaltung fand am Abend des 9. September 2004 im Hauptgebäude der Technischen Universität (TU) Berlin statt. Nach Begrüßungsansprachen von Bernhard Struck (Frankreichzentrum), Jörg Steinbach (erster Vizepräsident der TU) und Olivier Beaud (stellvertretender Direktor des Centre Marc Bloch) trug Michael Geyer (University of Chicago) zum Thema "Besatzungsherrschaft und Selbstbestimmung im 20. Jahrhundert" vor. Im Mittelpunkt stand die Entwicklung des humanitären Völkerrechtes von der Haager Landkriegsordnung (1907) bis heute; die einzelnen Entwicklungsstadien wurden mit der jeweiligen Praxis seiner (Nicht-)Anwendung konfrontiert. Geyer zeigte, wie sich als Folge der Kriegserfahrungen die Priorität des humanitären Völkerrechts schrittweise von der Wahrung staatlicher Souveränität hin zum Schutz der Bevölkerungen verschob. In der Besatzungspraxis wurde das humanitäre Völkerrecht freilich nur in wenigen Fällen angewandt. Gleichwohl fand es Eingang in den Diskurs und setzte Standards, die die Besatzungsmacht unter Rechtfertigungsdruck gegenüber der "international community" setzten. Überdies lassen sich im Grad seiner Be- bzw. Missachtung bedeutende Unterschiede feststellen, deren Untersuchung in synchroner wie diachroner Perspektive eine Aufgabe für die vergleichende Forschung darstellt.

An den beiden folgenden Tagen stellten in den Räumen des Centre Marc Bloch 26 Jungwissenschaftler, überwiegend Doktoranden und Post-Doktoranden, die Ergebnisse laufender oder gerade abgeschlossener Forschungsarbeiten zur Diskussion. Als Leitfaden dienten vier von den Organisatoren Nicolas Beaupré (Centre Marc Bloch), Bernhard Struck (Frankreich-Zentrum der TU) und Benoît Majerus (CEGES) einleitend formulierte Fragenkomplexe: (1) Inwiefern handelt es sich bei Besatzung um ein Phänomen des 20. Jahrhunderts? Kann man angesichts der neuen Qualität der Okkupationen zwischen 1914 und 1945 dem Paradigma des ‚totalen Krieges' entsprechend von einer ‚totalen Besatzung' sprechen? (2) Welche Formen von Besatzungen sind anzutreffen? Welche Typen, welche Kontinuitäten und Transferprozesse lassen sich herausarbeiten? (3) Inwiefern stellen Besatzungen Brüche in der alltäglichen Erfahrungswelt der Bevölkerung dar? Wie wird die Spannung zwischen dem Alltag samt seinen wirtschaftlichen sozialen und kulturellen Logiken und dem jederzeit möglichen ‚Sondertag' erlebt? (4) Bilden die Besatzungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Grunderfahrung der europäischen Gesellschaften? Kann ihre Erforschung durch Komparatistik, Transfergeschichte und histoire croisée als Grundlage für eine europäische Geschichte dienen? Die Beiträge verteilten sich auf vier Sektionen, in denen nacheinander die Themen "pratiques des occupants", "violences d'occupation", "expériences d'occupation" und "représentations" behandelt wurden.

Besatzungspraktiken

Die sechs Beiträge der ersten Sektion, die von Bernhard Struck (TU Berlin) geleitet wurde, befassten sich mit Besatzungspraxis. Lisa Mayerhofer (München) stellte in ihrem Vortrag "Missglückte Integrationsversuche: die Okkupation Rumäniens durch die Mittelmächte 1916-1918" heraus, wie mit der "Totalisierung" der Kriegführung die Grenzen zwischen ziviler und militärischer Sphäre zunehmend verschwammen und sich die Aufgaben der Besatzungstruppen ausweiteten. Aufgrund der gemeinsamen Militärverwaltung der Verbündeten beschränkten sich in Rumänien interkulturelle Schwierigkeiten, Sprachbarrieren und gegenseitige Vorurteile nicht nur auf das Verhältnis Okkupant-Okkupierter, sondern setzten sich innerhalb der Militärverwaltung fort.

Ebenso wie im rumänischen Falle scheiterte die versuchte Integration makedonischen Gebiets durch die bulgarische Besatzungsmacht, wie Björn Opfer (Leipzig) in seinem Referat über "Die bulgarische Besatzungsherrschaft in den ‚befreiten Gebieten' Vardar-Makedoniens 1915-1918" zu berichten wusste. Ohne Rücksicht auf langfristige Ziele kam es neben einer Unterdrückung der anderen Volksgruppen zur massiven Ausbeutung der Ressourcen, gegen Kriegsende zu Plünderungen, unkontrollierter Gewalt und Zwangsverpflichtungen ganzer Dörfer. Von einer Begeisterung der Slawo-Makedonen über ihre sog. "Befreiung" kann daher keine Rede sein.

In seinem Beitrag "La France à Memel (1919-1923): occupants ou libérateurs?" befasste sich Julien Gueslin (Paris 1) mit einem besonderen Fall militärischer Präsenz, sollte diese doch a priori nicht Besatzung, sondern eine Übergangslösung auf dem Weg zu einer neuen, vom Selbstbestimmungsrecht der Völker geprägten internationalen Ordnung darstellen. Entgegen anfänglicher Vorstellungen von einer Befreiung der Bauern vom Joch preußischer Junker kristallisierte sich bald eine Affinität zwischen französischen Beamten und deutschen Eliten heraus. Die Zielvorstellung einer Freien Stadt vor Augen, versuchten die Memeler selbst, die französische Präsenz zu perpetuieren, da sie allein Autonomie gegenüber Deutschland wie Litauen garantierte.

Brigitte Braun (Trier) betrachtete in ihrem Vortrag über "Franzosen und Deutsche im Kampf um Kino und Film im besetzten Rheinland, 1918-1930" zunächst die deutsch-französischen Auseinandersetzungen um die Nutzung der Kinos, dann den Bereich der Filmzensur und schließlich die Frage der Propaganda. In propagandistischer Hinsicht überwog auf französischer Seite das Werben für Frankreich über die Darstellung von Landschaften und Kultur, während die deutsche Seite sich insbesondere auf die Darstellung der "schwarzen Schmach" konzentrierte.

Mit französischen Versuchen einer kulturellen Durchdringung des Rheinlandes befasste sich auch Alexandre Kostkas (Cergy / Berlin) Beitrag "La tentative de rattachement artistique de la Rhénanie occupée après la Grande guerre (1919-1923). Kunstpropaganda wurde hier als Mittel zur "pénétration pacifique" eingesetzt. In Fortsetzung vor den Ersten Weltkrieg zurückreichender Rivalitäten zielten französische Ausstellungen darauf ab, Frankreich als "gardienne de la culture et du goût" und die rheinische Kunst als zutiefst französischer Ästhetik verpflichtet darzustellen, während deutsche Ausstellungen insbesondere auf die Romantik und eine tiefe Verwurzelung der Rheinlande in der Tradition deutscher "Innerlichkeit" abhoben.

Den Bogen zum Zweiten Weltkrieg schlug Boris von Haken (Thurnau), der über "Kulturelle Besatzungspolitik am Beispiel der deutschen Theater während des II. Weltkrieges" referierte. Das Deutsche Reich unterhielt in den besetzten Ländern 47 finanziell gut ausgestattete Theater. Anhand eines Vergleiches des Reichsgautheaters Posen und des deutschen Theaters Straßburg konnte van Haken ein deutliches West-Ost-Gefälle aufzeigen: Während die Kultur in Polen ganz ausgeschaltet war, befand sich das Straßburger Theater in einen mit großem propagandistischem Aufwand geführten antifranzösischen Konkurrenzkampf im Dienste der Germanisierungspolitik im Elsass.

In seinem Kommentar zu den Beiträgen der Sektion führte Peter Schöttler (Centre Marc Bloch / IHTP Paris) zunächst einige methodische Probleme aus, so zum Beispiel die extensive Verwendung "imaginärer Kollektivsubjekte" anstelle der Betrachtung konkreter Akteure oder "Tunneleffekte", etwa durch eine zu starke Fokussierung des Gegensatzes Besatzer-Besetzte, die das Fortbestehen von soziale Konflikten und Klassenkämpfen unter der Fremdherrschaft ausblendet. Darüber hinaus hob Schöttler die Bedeutung von Transfergeschichte und Komparatistik auf dem Weg zu einer entnationalisierten Geschichte hervor.

Besatzung und Gewalt

Gewalt ist ein zentraler Bestandteil von Besatzungspraxis. Entsprechend war diesem Thema eine eigene, insgesamt sieben Beiträge umfassende Sektion gewidmet, die von Benoît Majerus (CEGES) moderiert wurde. Jeweils unterschiedlichen vergleichenden Ansätzen folgend, nahmen die ersten drei Beiträge Westeuropa in den Blick. Den Anfang machte Jens Thiel (HU Berlin) mit seinem Vortrag "Anwerbung oder Zwangsrekrutierung - Deutsche Arbeitskräftepolitik im besetzten Belgien während der beiden Weltkriege". Trotz bedeutender quantitativer und qualitativer Unterschiede sind, so Thiel, die Parallelen zwischen beiden Weltkriegen unübersehbar. Dies gilt insbesondere für die Mischung aus Werbung und Zwangsdeportation - aus "Zuckerbrot und Peitsche" - bei der Rekrutierung, wie sie in ähnlicher Weise schon in den deutschen Kolonien praktiziert worden war.

Im Anschluss an diesen diachronen Vergleich untersuchte Nathalie Piquet (Bochum / Lille) unter dem Titel "Belgien und Nordfrankreich unter deutscher Herrschaft: gleiche Gewalt - gleiche Erfahrungen?" synchron vergleichend die Arbeitsverhältnisse im nordfranzösischen und belgischen Steinkohlebergbau während es Zweiten Weltkrieges. Sie betrachtete sowohl die Lage der dort angelegten sowjetischen Zwangsarbeiter als auch die der einheimischen Bergarbeiter. Dabei zeigte sich, dass im Gegensatz zur belgischen Situation die Okkupation in Nordfrankreich den Konflikt zwischen Unternehmern und Arbeitern verstärkte. Die neue, sich aus der Okkupation ergebende Konfliktlinie führte hier also nicht zu einer Abschwächung bestehender innergesellschaftlicher Auseinandersetzungen, sondern verschärfte im Gegenteil den Klassenkampf.

Dominik Rigoll (HU Berlin) stellte in seinem Vortrag "Nobody moves, nobody gets hurt? Grenzen der ‚zyklischen' Gewalteskalation im besetzten Frankreich 1940-1944" die Entwicklungen in den Departements Gironde und Côtes du Nord einander gegenüber. Im Rahmen dieses interregionalen Vergleichs konnte Rigoll zeigen, dass gängige Radikalisierungsschemata keinesfalls überall zutreffen, sondern sogar gegenteilige Entwicklungen anzutreffen sind, etwa im Falle der Gironde. Als methodisch wesentlich erweist sich neben der regionalen Differenzierung die Einbeziehung der Perspektive sowohl der Besatzer als auch der Besetzten.

Kommentator Dieter Pohl (IFZ, München) unterstrich die Bedeutung der Frage nach Kontinuitäten zwischen Erstem und Zweitem Weltkrieg, stellte die Bedeutung des Konzeptes einer Besatzer wie Besetzte umfassenden "Besatzungsgesellschaft" heraus und wies auf die wichtige Rolle von Transfers im Rahmen des Ost-West-Vergleiches hin. Damit leitete er zum zweiten Teil der Sektion über.

Mit den "violences d'occupations" in Osteuropa befassten sich die folgenden vier Beiträge. Pavel Polian (Moskau / Freiburg) und Victor Beltran (Stavropol) untersuchten die "Deutsche Besatzungspolitik in Nordkaukasien" während des Zweiten Weltkrieges. Dabei konzentrierten sie sich auf die Judenverfolgung und -vernichtung in dieser Region, in der sich zahlreiche Juden, insbesondere Vertreter der jüdisch-sowjetischen Intelligenz aus Leningrad aufhielten.

Masha Cerovic (ENS / Paris I) ging in ihrem Vortrag über "Les habitants de Minsk face à l'occupant allemand (juin 1941-février 1942)" im Rahmen eines lokalgeschichtlichen Ansatzes der Frage nach, wie sich die Gesellschaft des östlichen, "altsowjetischen" Weißrusslands an die deutsche Besatzung anpasste. Sie betrachtete zunächst die Welle der deutschen Gewalt, untersuchte dann die von dieser verursachte gesellschaftliche Dekomposition, um zuletzt nach Reaktionen der Bevölkerung und Restrukturierung der weißrussischen Gesellschaft zu fragen.

Mit dem erst 1939 von der Sowjetunion besetzten westlichen Teil Weißrusslands befasste sich Alexander Brakels (Mainz) Vortrag über "Nationalitätenpolitik und nationale Konflikte unter sowjetischer und deutscher Besatzung am Beispiel Baranowicze". Während mit der sowjetischen Besetzung 1939 zahlreiche "Zugezogene", u.a. überproportional viele Juden, in politisch-administrative Funktionen kamen, stützten sich die deutschen Besatzer 1941 zunächst auf die Polen, später auf die Weißrussen und versuchten ganz allgemein, für ihre Zwecke die Nationalitäten gegeneinander auszuspielen.

Olaf Mertelsmann (Tartu) zeigte in seinem Referat über "Bevölkerung und Okkupation in Estland (vierziger und fünfziger Jahre)", wie nur ein Jahr sowjetischer Besatzung 1940/41 so viele antisowjetische Ressentiments hervorrief, dass die Deutschen 1941 zunächst als Befreier begrüßt wurden. Zwar ließen diese keine Eigenstaatlichkeit zu, doch nahm die deutsche Besatzung in Estland insofern eine Sonderstellung in Osteuropa ein, als nirgendwo der Einfluss landeseigener Selbstverwaltungen so groß war und so viele Einheimische für deutsche Verbände mobilisiert werden konnten. Da nach dem Krieg die Macht der Kommunisten in der neuen Sowjetrepublik als Fremdherrschaft empfunden wurde und im Wesentlichen auf Armee und Sicherheitsdienst beruhte, kann laut Mertelsmann noch bis in die fünfziger Jahre hinein von einer militärischen Okkupation gesprochen werden.

Dieter Pohl hob in seinem Kommentar die Bedeutung des Kolonialdiskurses für die Okkupationen in Osteuropa hervor, ferner die Tatsache, dass weite Gebiete von Beginn an von Eliten verlassen waren, da diese sich, so sie Gelegenheit dazu gehabt hatten, vielfach in die nicht besetzten Gebiete zurückgezogen hatten.

Besatzungserfahrungen

Die dritte Sektion widmete sich unter der Leitung von Fabrice d'Almeida (Centre Marc Bloch) den Besatzungserfahrungen im engeren Sinne. In ihrem Referat "Guerres et délinquance juvénile. L'impact des deux occupations sur l'activité du tribunal pour enfants de Namur (1912-1950)" ging Aurore François (Université catholique de Louvain) der Rechtspraxis auf den Grund, die das 1912 in Belgien verabschiedete Kinderschutzgesetz nach sich zog. Einer statistischen Analyse der von belgischen Gerichten behandelten Fälle im Zeitverlauf ließ sie für den Fall Namur eine qualitative Analyse der Urteile und der individuellen Prozessakten folgen. Dabei zeigte sie, dass Urteilsbegründung und in den Dossiers angegebene Motive keineswegs immer übereinstimmen - laut François Ausdruck der Ambiguität einer Schutzgesetzgebung, die auf einer repressiven Logik fußt.

Heather Jones (Dublin) untersuchte in ihrem Beitrag "Rethinking ‚occupation': the experience of prisoners of war in the German-occupied territories of France and Belgium, 1914-1919" die Erfahrungen französischer und britischer Kriegsgefangener in den besetzten Westgebieten, die symbolische Bedeutung der Gefangenen für die Einwohner dieser Gebiete sowie die Bedeutung dieser Erfahrungen für die kollektive Erinnerung. Dabei argumentierte sie zugunsten eines kulturgeschichtlichen Verständnisses von Besatzung und betonte die Notwendigkeit, die jeweils unterschiedliche Bedeutung von‚Okkupation' für verschiedene gesellschaftliche Gruppierungen herauszuarbeiten.

Dem Thema "Diskriminierung, Internierung, Deportation - jüdische Frauen und Kinder von Kriegsgefangenen aus Frankreich" während des Zweiten Weltkrieges widmete sich der Vortrag von Janine Doerry (Gedenkstätte Bergen-Belsen). Aus dieser ca. 12.000 Personen umfassenden Gruppe gelangten knapp 250 Personen ins "Aufenthaltslager" Bergen-Belsen, in dem sie - als Geiseln und "Verhandlungsmasse" für den NS-Staat von Nutzen - eine vergleichsweise privilegierte Stellung genossen, so dass 203 von ihnen den Krieg überlebten.

Ausgehend vom Foucaultschen Postulat einer notwendigen Historisierung von Sexualität, stellten Claudia Lenz (Oslo) und Regina Mühlhäuser (Hamburg) in ihrem Vortrag über "Sexuelle Verhältnisse zwischen Besatzern und Besetzten - die Politiken des Begehrens" die deutsche Sexualpolitik in den besetzten Gebieten der Sowjetunion und in Norwegen einander gegenüber. Zur Sprache kamen auch die individuellen und staatlich-offiziellen Erinnerungen und Repräsentationen dieser Verhältnisse nach 1945.

Michael Geyer (Chicago) hob in seinem Kommentar insbesondere auf die Gleichzeitigkeit von so inkommensurablen Erfahrungen wie Sexualität und Tod in Extremfällen von Besatzungssituationen ab.

Repräsentationen

Die vierte und letzte Sektion, moderiert von Nicolas Beaupré (Centre Marc Bloch), umfasste sieben Beiträge, die sich mit den Repräsentationen von Okkupation und der Frage nach ihrer Wahrnehmung und Verarbeitung durch die Betroffenen beschäftigten. Christoph Roolf (Düsseldorf) grenzte in seinem Vortrag über "Deutsche Besatzungsbeamte in Belgien 1914-1918 und die Selbstdeutungen ihrer neuen biographischen Rolle als Besatzer" zwei Typen von Beamten gegeneinander ab: die einen, die sich selbst durch ihr privates Verhalten versicherten, persönlich nichts mit der konkreten Besatzungspraxis zu tun zu haben, und die anderen, die im Gegenteil besonders viel dafür taten, als Besatzer und Deutsche wahrgenommen zu werden. Beiden Kategorien gemein war indes, dass sie sich nur mit sich selbst beschäftigten und kaum Interesse für die Besetzten zeigten.

Über "Die Weimarer Zeit als ‚Fremdherrschaft' - Der Fremdherrschaftsbegriff als Interpretament der Besatzungs- und Demütigungserfahrung nach dem Ersten Weltkrieg" referierte Christian Koller (Zürich / Bern). Koller analysierte drei unterschiedliche Verwendungsarten des Fremdherrschaftsbegriffs - für die abgetrennten bzw. besetzten Gebiete, für den republikanisch-demokratischen Weimarer Staat, für die Versailler Ordnung insgesamt -, welche die Verankerung der verschiedenen politischen Lager in nationalistischer Geschichtsmetaphysik widerspiegelten.

Guilhem Zumbaum-Tomasi (Berlin) zeigte auf, in welchem komplexen Spannungsfeld die "Deutsche kommunistische Emigration in Frankreich zwischen 1939 und 1944" und dabei insbesondere ihre Beteiligung an der Résistance zu interpretieren ist - zwischen Hitler-Stalin-Pakt und Verfolgung, zwischen Entrechtung und Internierung durch Vichy und Verfolgung durch die Besatzungsmacht, zwischen Kampf für die Befreiung Frankreichs, deutschem Patriotismus und Internationalismus. Besonders betonte Zumbaum-Tomasi die Rolle der Internierungslager bei der Formierung des deutschen kommunistischen Widerstandes.

Mit dem Thema "Freiwilligenwerbung und Infiltration. Die ‚Germanische Leitstelle' der SS als Ideologie-Behörde für die okkupierten nord- und nordwesteuropäischen Gebiete 1940-1945" befasste sich Barbara Materne (Düsseldorf). Neben Rekrutierung, Ausbildung und Betreuung "germanischer" SS-Freiwilliger kam der Germanischen Leitstelle bei der Implementierung der "großgermanischen Idee" eine Schlüsselrolle zu.

Alexa Stiller (Hannover) betrachtete "Die Ansiedlungs- und Vertreibungsmaßnahmen des Reichskommissars für die Festigung deutschen Volkstums während des Zweiten Weltkrieges" am Beispiel des Warthegaus, Lothringens und der von Slowenien abgetrennten unteren Steiermark. Dabei zeigte sich, dass die jeweilige Umsetzung keineswegs deckungsgleich mit den zentralen Planungen war, sondern von den Gauleitern beeinflusst sowie von Ad-hoc-Maßnahmen aufgrund des Kriegsverlaufes bestimmt wurde.

Leitfaden von Riccarda Torrianis (Cambridge) Vortrag "Ein ‚wohlgesinnter Beduinenstamm'? Frankreich, Großbritannien und die Umerziehung Deutschlands 1945-1949" war die These, dass die französische und britische Umerziehungspolitik die jeweils auch in den Kolonien angewandten Prinzipien spiegelten. So setzte Frankreich, überzeugt von seiner "mission civilisatrice", vor allem auf Kultur und französische Sprache, die, einem möglichst breiten Publikum zugänglich gemacht, per se Demokratie förderlich sein sollten. Großbritannien setzte dagegen vornehmlich auf "indirect rule" und folglich auf institutionelle Maßnahmen und Mittlerfiguren.

Sowohl in international als auch in diachron vergleichender Perspektive befasste sich Yann Schubert (Genf) mit dem Thema "Mémoires de l'occupation: des monuments aux morts aux musées-mémoriaux". Angefangen mit der Feststellung, dass bereits die Begriffe ‚Kriegerdenkmal', ‚War memorial', ‚monument aux morts" etc. signifikant unterschiedliche Konnotationen aufweisen, zeigte Schubert wesentliche Unterschiede darin auf, woran man in den einzelnen Länder erinnerte, und analysierte die jeweiligen Verschiebungen vom Ersten zum Zweiten Weltkrieg.

Bei allen Gemeinsamkeiten dürften die gravierenden Unterschiede zwischen den Besatzungen des Ersten und denen des Zweiten Weltkrieges nicht verwischt werden, so Etienne François in seinem abschließenden Kommentar zur Sektion. Vor allem sei die Zivilbevölkerung im Zweiten Weltkrieg weitaus stärker betroffen gewesen, insbesondere durch die gigantischen Bevölkerungsverschiebungen und millionenfache Verschleppung zur Zwangsarbeit über nationale Grenzen hinweg.

Fazit

Der Workshop lieferte einen Überblick über ein breites Spektrum laufender Arbeiten und gab Anlass zu intensivem Austausch und lebhafter Diskussion. Man mag einige Lücken bedauern, etwa das völlige Fehlen Italiens (als Besatzer wie als Besetzter) oder die Abwesenheit von Beiträgen zur deutsche Okkupation in Südosteuropa während des Zweiten Weltkrieges. Dessen ungeachtet lag der besondere Wert der Tagung gerade darin, zahlreiche Besatzungen und Fragestellungen zur Sprache zu bringen, denen sich die Geschichtswissenschaft bisher wenig bis überhaupt nicht gewidmet hat. Deutlich wurde, dass die Forschung in vielen Fällen erst am Anfang steht und dass selbst für scheinbar "bekannte" Okkupationen in zahlreichen Feldern noch großer Forschungsbedarf besteht. Zwei methodische Perspektiven kristallisierten sich als zentral für die Erforschung von Besatzungspraktiken und -erfahrungen heraus, wie Bernhard Struck in der Abschlussdiskussion resümierend festhielt: zum einen eine noch stärkere Betonung vergleichender Ansätze in allen möglichen Facetten, zum anderen die Transferforschung. Dabei erweist sich die Untersuchung dreier Formen von Transfers als besonders vielversprechend: das Einfließen kolonialer Diskurse und Praktiken in die Besatzungspraxis, Transfers zwischen verschiedenen Besatzungssituationen (von Ost nach West, vom Ersten zum Zweiten Weltkrieg u.a.), schließlich Transfers zwischen Besatzern und Besetzten. Die aufgezeigten Perspektiven geben Anlass zur Hoffnung, dass sich die Forschung zur Geschichte der Besatzungen zwischen 1914 und 1945, die sich bis in die jüngste Vergangenheit hinein trotz regelmäßiger Plädoyers für eine stärkere Öffnung weiterhin ganz überwiegend in nationalgeschichtlichen Bahnen bewegt hat, zu einer wirklich transnationalen Forschung entwickelt. Eine Publikation der Tagungsbeiträge ist geplant.

Anmerkung:

1 Vgl. insb. Pietro Causarano et al. (Hg.): Le XXe siècle des guerres. Paris 2004; Anne Duménil / Nicolas Beaupré / Christian Ingrao (Hg.): 1914-1945. L'ère de la guerre, 2 Bde. Paris 2004; Stéphane Audoin-Rouzeau et al. (Hg.): La violence de guerre 1914-1945. Approches comparées des deux conflits mondiaux. Bruxelles 2002.


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Published on
24.04.2005
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