Erschließung der Fläche, Eroberung des Raumes: Staatsbildungsprozesse in Südosteuropa vom 16. bis zum „langen“ 19. Jahrhundert

Erschließung der Fläche, Eroberung des Raumes: Staatsbildungsprozesse in Südosteuropa vom 16. bis zum „langen“ 19. Jahrhundert

Organizer(s)
Institut für Ost- und Südosteuropaforschung (Regensburg); Graduiertenschule Ost- und Südosteuropastudien (Regensburg/München); Zentrum für Mittelmeerstudien, Ruhr Universität Bochum; Historisches Institut, Justus-Liebig-Universität Gießen; Arbeitskreis "Das Osmanische Europa"
Location
Regensburg
Country
Germany
From - Until
21.10.2016 - 22.10.2016
Conf. Website
By
Rayk Einax, Historisches Institut, Justus-Liebig-Universität Gießen

Je weiter das 21. Jahrhundert voranschreitet, desto häufiger vermittelt es den Eindruck, dass sich der „moderne“ Staat in einem tiefgründigen Wandel befindet. Diese Annahme drängt sich zumindest dann auf, wenn man den modernen Staat an seinen „klassischen“ Eigenschaften Staatsterritorium, Staatsnation, Staatsgewalt misst. Von diesem insbesondere im 19. und 20. Jahrhundert eingeführten Ideal territorial ausgeübter Souveränität blieb auch das südöstliche Europa nicht unberührt, zumeist mit fatalen Konsequenzen für die multiethnische und -konfessionelle Bevölkerung. Und auch heute noch zeichnet sich die Region durch eine virulente Staats- und Nationsbildung aus.

Unter diesen Vorzeichen ist die Herausbildung moderner Staatlichkeit in Südosteuropa ein historisch vielversprechendes und politisch aktuelles Anschauungsbeispiel. Dem trug die diesjährige Tagung des Arbeitskreises „Das Osmanische Europa“ Rechnung, indem sie einerseits administrative Verdichtungsprozesse innerhalb des Osmanischen Reiches seit dem 16. Jahrhundert auf die Agenda setzte, und andererseits die Staatsbildungsdynamiken in Südosteuropa nach 1800 in den Blick nahm. Dementsprechend warf MARKUS KOLLER (Bochum) in seinem Begrüßungsstatement unter anderem die Frage nach der Effizienz der (vermeintlich) modernen, postosmanischen Staaten auf und verwies andererseits auf eine möglicherweise tieferreichende Persistenz des osmanischen Erbes – z.B. in Bezug auf Institutionen, Herrschaftspraktiken und die Wertmaßstäbe innerhalb der Bevölkerung. Die Organisatoren legten in diesem Zusammenhang ein spezielles Augenmerk auf Akteure (einzeln und kollektiv) und deren Einfluss auf die Herausbildung „moderner“ Staatswesen.

Wie gleich das erste Panel demonstrierte, waren es konkrete Individuen und deren unterschiedliche Netzwerke, welche die Konstruktion von Räumen historisch entscheidend beeinflusst haben. So zeigte PAUL SRODECKI (Kiel/Ostrava) ad personam, wie Vertreter der polnischen Intelligenz im 19. Jahrhundert die Reformen im Osmanischen Reich zu kommentieren wussten. Das Bemerkenswerte an den konträren Diskursen sei deren Ambivalenz bzw. deren klandestine Kritik an der russischen Fremdherrschaft in Polen gewesen. Insofern habe der Blick auf die „orientalische Frage“ ein „Spiegelbild der eigenen Vergangenheit“ erzeugt.

TOBIAS GRAF (Tübingen/Heidelberg) wartete dagegen mit Erkenntnissen zur geheimdienstlichen Informationsbeschaffung der österreichischen Habsburger im bzw. über das Osmanische Reich auf. Eine zentrale Funktion nahmen darin die Gesandten und deren Berichterstattung nach Wien ein, in der wiederum der osmanischen Bedrohung der eigenen Sicherheit eine herausragende Stellung zukam. Ohne dass es zur damaligen Zeit so etwas wie landeskundliche Spezialisten in großer Zahl gegeben hätte, flossen im Sinne einer möglichst breiten Verifizierung der Meldungen die Angaben von Kundschaftern im Grenzgebiet und „offene Quellen“ (Flugblätter usw.) in die „Gegnerbeobachtung“ ein. Auf diese Weise sei, neben den militärischen Logiken des Zeitalters, die staatliche Herrschaft ganz nach der Devise „Wissen ist Macht“ um eine weitere Ressource ergänzt worden.

Der Kommentar von GUIDO HAUSMANN (Regensburg) schlug die wie erwartet schwierige Brücke zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert, indem er auf die (pan-) europäischen Dynamiken des Wandels von Staatlichkeit, nationalstaatlichen Paradigmen und räumlich-territorialen Vorstellungen abzielte. Die vorgestellten Akteure, die in beiden Fällen untereinander korrespondierten und auf der Grundlage ihres „Expertenwissens“ das Geschehen im Osmanischen Reich kommentierten, versuchte er hierbei unter anderem nach dem Kriterium „staatlich“ und „nicht-staatlich“ zu differenzieren, was in der offenen Diskussion weitere, lebhafte Wortbeiträge nach sich zog.

Die zweite Sektion schlug daran anknüpfend den Bogen hin zu den vielfältigen interkulturellen Verhandlungspraktiken im südöstlichen Europa, denen einerseits gewisse Wahrnehmungsmuster des Raumes und andererseits, mit Blick auf dessen „Durchherrschung“, eine Reihe tradierter Ordnungsvorstellungen zu Grunde lagen. Sie wurde von ANDREAS HELMEDACH (Berlin/Bochum) eingeleitet, der für Dalmatien am Beispiel der Morlaken zunächst höchst mobile Migrationsprozesse konstatierte. Was die Gewaltspirale anbetraf, welche die örtliche Bevölkerung im jahrzehntelangen Kleinkrieg auf beiden Seiten der venezianisch-osmanischen Demarkationszone entweder aktiv vorantrieb oder aber erdulden musste, ging der Vortrag mit Blick auf die moderne Nations- und Nationalstaatsbildung vom Beginn des 19. bis zum Ende des 20. Jahrhunderts prononciert von einer gewissen Präfiguration von Gewalthandeln in der Region aus.

STEFAN ROHDEWALD (Gießen) analysierte hingegen das Aushandeln „ewigen Friedens“ seitens des Osmanischen Reiches mit seinen zahlreichen christlichen Gegnern auf den europäischen Kriegsschauplätzen, der realiter einem brüchigen Waffenstillstand an den sich ständig verändernden Grenzen des Reiches gleichkam. In den entsprechenden Friedensverträgen, welche das Osmanische Reich nolens volens an europäisches Völkerrecht gebunden hätten, sei es zunächst in starkem Maße auf die Formulierungen angekommen; diese ließen durchaus auf das jeweilige Verhältnis in den bilateralen – oder gar „zwischenstaatlichen“ – Beziehungen schließen. Aber auch die Grenzregionen selbst seien nach verschiedenen Ordnungsvorstellungen und Sicherheitsinteressen zu unterscheiden.

Schließlich verknüpfte LUMINIȚA GATEJEL (Regensburg) für das 19. Jahrhundert den imperialen Wettbewerb um die Donaumündung mit ambitionierten Raumerschließungsprojekten von Ingenieuren, Kartographen oder Verwaltungsspezialisten, welche vordergründig die Handels- und Transportkapazitäten des Stromes optimieren wollten. Im Zuge dessen habe der Krimkrieg geradezu als „Modernisierungsbeschleuniger“ gewirkt, denn nach ihrer „Internationalisierung“, d.h. mit der Gründung der Europäischen Donaukommission, sei die Donau ein Objekt intensiver Aushandlungsprozesse gewesen, da die gegenseitige Konkurrenz der Großmächte und Anrainer ständige Absprachen auf internationaler Ebene notwendig gemacht habe. Das Charakteristische daran sei wiederum gewesen, dass in den Verhandlungen dem Verlauf des Flusses eine ungleich höhere Bedeutung zugekommen sei als dem sich daran anschließenden Umland.

Der Kommentar von MARKUS KOLLER unterstrich, dass sich die Vortragenden – geographisch – in Grenzräumen bewegt hatten, wo die Etablierung von Staatlichkeit ohne Zweifel mit zahlreichen Widersprüchlichkeiten einhergegangen sei. Des Weiteren stellte Koller die Frage nach sinnvollen, minder eurozentristischen Periodisierungskonzepten, wie z.B. das der „Frühen Neuzeit“. Diese müssten gerade mit Blick die Imperien in der Lage sein, die einschneidenden Veränderungsdynamiken, welche bereits vor dem 19. Jahrhundert eingesetzt hätten, analytisch zu bündeln.

Das dritte Panel befasste sich im Wesentlichen mit der Absicherung von staatlicher Herrschaft durch Techniken der „Soft Power“. Hierbei analysierte MARKUS KOLLER mit Schwerpunkt auf dem 17. Jahrhundert den islamischen Diskurs zur „gerechten Herrschaft“ unter zwei Aspekten: als Gerechtigkeit gegenüber jedermann, d.h. in Bezug auf steuerzahlende Untertanen (Reaya) und Führungsschichten, als auch als Werkzeug der Legitimierung der osmanischen Expansion. In erster Linie waren es die sogenannten „Gerechtigkeitsurkunden“, welche die entsprechenden Modelle mit Hinweisen zur praktischen Umsetzung versahen. Hierbei spielten die individuelle Bestrafung von Korruption, die Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit, die Verhinderung von Amtsmissbrauch sowie religiöse Vorbildwirkung durch Frömmigkeit eine zentrale Rolle. Bemerkenswerterweise, so der Referent, ließe sich diese Motivik später auch in nichtosmanischen Quellen nachweisen, wodurch abschließend die Frage nach entsprechenden Transferprozessen aufgeworfen wurde.

Auch MIHAI-D. GRIGORE (Mainz) widmete sich dem Problem, wie sich seit dem Spätmittelalter sinnstiftende Strukturen in einem konkreten, von verschiedenen Mächten beanspruchten Raum schaffen ließen. Im Zuge dessen betrachtete er für die Donaufürstentümer die etappenweise Verankerung religiöser Institutionen im Dienste der Herrschaftsinteressen der Vojvoden. Indem er in seinem Kommentar die theoretischen Leitbilder von Herrschaft und deren Umsetzung hinterfragte, unterstrich KLAUS BUCHENAU (Regensburg) gleichzeitig die Bedeutung einer nüchternen, quellenkritischen Bestandsaufnahme für die aktuelle Erinnerungspolitik. Demnach könne im Gegensatz zu zahlreichen populären Geschichtsbildern für die Zeit vor der Nationalstaatsbildung in Südosteuropa – bei gleichen bzw. ähnlichen Gerechtigkeitsvorstellungen – keine Rede davon sein, dass die osmanische Herrschaft a priori als illegitim angesehen worden wäre.

Zu Beginn des vierten Themenbündels warf IOANNIS ZELEPOS (München) einen Blick auf die maritime Machtpolitik des Osmanischen Reiches in der Ägäis, der sich die sukzessive Einbindung der christlichen Inselbewohner in das Verwaltungssystem anschloss. Der Intensität der staatlichen Durchdringung müsse jedoch mit einer gewissen Skepsis begegnet werden, denn angesichts christlicher Bevölkerungsmehrheiten sei, zumindest vor dem 18. Jahrhundert, eher von einer „Schwäche der osmanischen Staatspräsenz“ auszugehen. Durch die Etablierung des „Dragomans“, der über weitreichende Kompetenzen in der Steuerfestsetzung und -eintreibung sowie bei Rechtsprechung und religiösen Angelegenheiten verfügte, sei schließlich versucht worden, die osmanische Herrschaft in der Zentralägäis zu intensivieren, was zumindest in sozioökonomischer Hinsicht für einen weitreichenden Wandel gesorgt habe.

MARGARETA ARSLAN (Cluj-Napoca) stellte anschließend das Fürstentum Siebenbürgen für die Zeit ab dem 16. Jahrhundert als klassisches machtpolitisches Aktionsfeld vor, auf dem sich vor allem Habsburger und Osmanisches Reich diplomatische Wechselspielchen lieferten.

Eine etwas andere Zielrichtung hatte der Vortrag von DENNIS DIERKS (Jena), der die Verstaatlichung herkömmlicher, zum Teil lokaler Rechtspraktiken nach 1878 in Bosnien-Herzegowina und in Serbien der Autopsie unterzog. Dies bezog sich konkret auf den Umgang mit der muslimischen Bevölkerung und deren rechtlichen Traditionen, die schließlich in einer partiellen Sondergerichtsbarkeit auf der Grundlage der Scharia mündete, wenigstens was deren Kernbereich – Familie, Ehe, Erbangelegenheiten – anbelangte. Über diese Regelungen und die entsprechenden Instanzen, d.h. sogenannte Scheriatsgerichtshöfe, sollten die muslimischen Untertanen – unter Wahrung der staatlichen Kontrolle – in den postosmanischen Ländern integriert werden. Dies geschah mit unterschiedlicher Intensität und war von unterschiedlichem Erfolg gekrönt.

Zu guter Letzt referierte ANA-TEODORA KURKINA (Regensburg) über die Apologeten einer Balkanföderation in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, bei denen es sich im Kern um bulgarische Intellektuelle im Exil handelte, denen es gelungen sei, ein sehr virulentes soziales Netzwerk bzw. eine „epistic community“ auf die Beine zu stellen. Dieses sei angesichts der Unmöglichkeit, einen Nationalstaat zu errichten, dazu übergegangen, „federalism as concession“ den Vorzug zu geben.

Der Kommentar von ULF BRUNNBAUER (Regensburg) setzte beim Begriff der „Territorialität" an, um einmal mehr auf die Rolle von Gewalt bei der staatlichen „Durchdringung“ von und Kontrollausübung über Gesellschaften zu verweisen. Für den Ausweis von Staatlichkeit sei das „eigene“ Territorium in der Geschichte jedenfalls immer wieder wie ein Fetisch vorweggetragen worden. Unter diesen Vorzeichen sei die Entstehung von Staatlichkeit aus Kriegen folgerichtig, wenngleich problematisch. In der Regel sei erst im Anschluss ein größeres Interesse an Sicherheit und Rechtswirksamkeit zu beobachten.

Die Südosteuropawissenschaft dokumentiert seit geraumer Zeit, dass sie in Ergänzung zu den großen Erzählungen der Vergangenheit ein gesteigertes Interesse an neuen Zugängen und mikrohistorischen Studien hat, um das Verständnis der langfristig überaus wirksamen Staatsbildungsprozesse vor und nach 1800 zu vertiefen. Im Zuge dessen gelang es durchaus, für die Region rund um das Mittelmeer vom europäischen Zentralnarrativ abweichende Entwicklungen aufzuzeigen und die wissenschaftliche Diskussion auf diese Weise zu bereichern.

Die Regensburger Tagung hat vordergründig ein eher klassisches Thema aufgegriffen, dieses aber unter neuen Gesichtspunkten diskutiert. Dies geschah durchaus bewusst in Ermangelung gesicherter Beschreibungen bzw. unumstößlichen Wissens. Dementsprechend fand auch eine Reihe von Begrifflichkeiten, denen in den Diskussionen eine besondere Bedeutung zufiel, eher vage Anwendung: Was ist beispielsweise im vormodernen Staat unter „Loyalität“ oder der „Identität“ diverser Individuen und Gruppen zu verstehen? Bei der Gelegenheit zeigte sich auch, dass herkömmliche Epochenzuordnungen für das südöstliche Europa eine untergeordnete Relevanz besitzen, vor allem in transosmanischen Bezügen.

In einer Perspektive der Longue durée fällt auf, dass Südosteuropa Schauplatz vielfältiger imperialer Herrschaftstraditionen und -verflechtungen gewesen ist. Im gleichen Maße ist evident, dass die modernen Staaten der Region durch bellizistische Begleitumstände „zu ihrem historischen Recht gekommen sind“, deren Konsolidierung anschließend oftmals durch die Ausweitung administrativer Zugriffsmöglichkeiten bis in die Peripherie hinein vorangetrieben werden sollte. Mit Blick auf die Zukunft liegen hier auch die diversen komparatistischen Anschlussmöglichkeiten, z.B. zum Russländischen Reich oder zur K.u.K-Monarchie.

Konferenzübersicht:

Panel 1: Raumwahrnehmungen

Paul Srodecki (Kiel): „Sur les réformes les plus pressantes“. Das Osmanische Reich aus der Sicht polnischer Gelehrter und Publizisten des 19. Jahrhunderts

Tobias Graf (Tübingen/Heidelberg): Auf den Spuren eines vernachlässigten Aspektes von Staatlichkeit: Einblicke in das österreichisch-habsburgische Auslandsgeheimdienstwesen im späten 16. Jahrhundert

Kommentar: Guido Hausmann (Regensburg)

Panel 2: Translokale Kommunikationsräume

Andreas Helmedach (Berlin/Bochum): Das venezianische Dalmatien – die erste postosmanische Provinz Südosteuropas

Stefan Rohdewald (Gießen): Zugänge zu transosmanischen Zusammenhängen frühneuzeitlicher Staatlichkeit

Luminiţa Gatejel (Regensburg): Die Geschichte der Unteren Donau zwischen Imperium und Nationalstaat, 1829-1878

Kommentar: Markus Koller (Bochum)

Panel 3: Herrschaftslegitimation und Raum

Markus Koller (Bochum): „Gerechte Herrschaft“ als Legitimationsstrategie im Osmanischen Reich

Mihai-D. Grigore (Mainz): Raum wird nicht erobert, sondern gefüllt. Religionspolitik und Herrschaftsbildung in den Donaufürstentümern zwischen dem 14. und 16. Jahrhundert

Kommentar: Klaus Buchenau

Panel 4: Akteure und Institutionen

Ioannis Zelepos (München): Staatlichkeit im osmanischen Ägäisraum: Das Amt des Dragomans der Flotte

Margareta Aslan (Cluj-Napoca): The Presence of Ottoman and Persian Envoys in the Transylvanian Space in the 16th-19th Centuries

Dennis Dierks (Jena): Rechtspluralismus. Zum Umgang mit islamischen Rechtstradierungen im postosmanischen Bosnien und Serbien

Ana-Teodora Kurkina (Regensburg): Social networking in the 19th century Balkans

Kommentar: Ulf Brunnbauer (Regensburg)


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Published on
23.12.2016
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