Epistemic Communities in Europe

Epistemic Communities in Europe

Organizer(s)
Universität Siegen
Location
Siegen
Country
Germany
From - Until
20.11.2014 - 21.11.2014
Conf. Website
By
Christian Henrich-Franke, Institut für Europäische Regionalforschungen, Universität Siegen

Die mit Historikern und Sozialwissenschaftlern besetzte interdisziplinäre Tagung „Epistemic Communities in Europe“ hatte es sich zum Ziel gesetzt, einen vernachlässigten nichtstaatlichen Akteur transnationaler Governance in Europa zu diskutieren: epistemische Gemeinschaften. Dabei sollte einerseits ein Beitrag zur aktuellen Diskussion in den Geistes- und Sozialwissenschaften über die sowohl empirische als auch theoretisch-analytische Neubestimmung des Konzeptes epistemischer Gemeinschaften geleistet werden. Andererseits sollte der spezifische Mehrwert des Konzeptes epistemischer Gemeinschaften im Vergleich zu anderen Konzepten hinterfragt werden, um historische wie aktuelle Entwicklungen in unterschiedlichen Politikfeldern zu erfassen.

Die Konferenz nahm deshalb drei Schwerpunktbereiche in den Blick: Erstens die Binnenverfasstheit epistemischer Gemeinschaften, zweitens die Auswirkungen des Handelns epistemischer Gemeinschaften auf lokaler, nationaler und europäischer Ebene und drittens die Wechselwirkungen zwischen Akteuren und Strukturen.

Die erste Sektion „Conceptual Issues“ leitete JAN-PETER VOSS (Berlin) ein und stellte am Beispiel der Umweltpolitik dar, wie sich soziale Formationen (instrument constituencies) bildeten, die gewisse Governance-Instrumente (mit-)entwickelten und förderten. Im Zentrum des Vortrages stand die Frage, wie solche Phänomene konzeptionell erfasst werden können und im Speziellen, ob für den vorgestellten Fall der Ansatz der epistemischen Gemeinschaft zielführend sei. In mehreren Punkten wich der Untersuchungsgegenstand von der Definition einer epistemischen Gemeinschaft nach Haas ab.1 Voss unterstrich, welche analytischen Zugriffe versperrt blieben. Er verwies stattdessen auf rivalisierende Konzepte, wie das der „Assemblage“. FRANK BORCHERS und CHRISTIAN LAHUSEN (Siegen) analysierten den Lobbyismus in der Europäischen Union und rückten das Personal der unterschiedlichen Organisationen in den Vordergrund. In dem Selbstverständnis, den ethischen Standards und dem Handeln der Mitglieder dieser einzelnen kollektiven Akteure erkannten sie Parallelen zu epistemischen Gemeinschaften. Sie haderten jedoch, das Konzept auf ihre Fallstudie anzuwenden, da sie befürchteten, den theoretischen Rahmen zu überdehnen. Infolgedessen warfen sie die Frage auf, wie die interne Mitgliederstruktur epistemischer Gemeinschaften beschaffen sei: Rekurrieren sich diese aus einer oder unterschiedlichen Professionen? Wie konstituieren sich epistemische Gemeinschaften? Wo liegen ihre Grenzen und wie dynamisch bzw. statisch sind diese?

CAROLA WESTERMEIER (Gießen) eröffnete die zweite Sektion „Epistemic Communities and Finance“ und beleuchtete den Paradigmenwechsel, der sich während der Bankenkrise des letzten Jahrzehntes innerhalb der internationalen Finanzregulierung hin zum Ansatz der „Macroprudential Regulation“ (MPR) vollzog. Sie argumentierte, dass eine kleine epistemische Gemeinschaft von Anhängern des MPR-Konzeptes im internationalen Finanzregulierungsregime Schlüsselpositionen innehatte und den rapiden Umbruch einleitete und begünstigte. Die Gemeinschaft profitierte von mehreren vorteilhaften Voraussetzungen, sodass die Zentralbanken innerhalb weniger Monate die neuen Lösungsstrategien umsetzten. Westermeier erblickte in diesem Beispiel hohes Potenzial, um generalisierbare Aussagen über Politikwechsel und deren Implementation zu treffen. ALEXANDER MILOSZ ZIELIŃSKI (Bern) richtete sein Augenmerk auf epistemische Gemeinschaften und deren interne Machtstrukturen. Er konzentrierte sich auf den Kreis der internationalen Zentralbanker und insbesondere auf die Bank für internationalen Zahlungsausgleich – die prominentesten Beispiele in der Literatur für nicht aus Wissenschaftlern bestehende Gemeinschaften, die gleichwohl häufig als epistemisch klassifiziert werden. In seiner abschließenden Analyse charakterisierte er diese als eine schwach ausgeprägte Form der epistemischen Gemeinschaft, da sie zwar den gleichen Wertekanon sowie Erkenntnisziele teilen, jedoch innerhalb der Gruppe strukturelle Machtasymmetrien zwischen den Akteuren das erzielte politische Ergebnis prägen.

SEBASTIAN BÜTTNER (Erlangen) und LUCIA LEOPOLD (Bremen) eröffneten die Sektion „EU Political Infrastructures“ mit einer Analyse von Netzwerken deutscher Interessenten an EU-Politik. Sie zeigten, dass wiederholende Vernetzungsaktivitäten von überragender Bedeutung für die Herausbildung tatsächlich stabiler Gemeinschaften sind. Bemerkenswerterweise stellten ähnliche professionelle Hintergründe, geteilte Expertise oder die Beschäftigung in ähnlichen Sektoren nicht zwangsläufig eine ausreichende Bedingung der Gruppenbildung dar, weshalb in den vorgestellten Beispielen sich auch ganz unterschiedliche Typen von Gemeinschaften herauskristallisierten. Abschließend plädierten Büttner und Leipold folglich dafür, die interne Struktur epistemischer Gemeinschaften, das heißt ihre Hierarchien, Frontlinien und Inklusionsmechanismen, genauer zu studieren. ALEXANDER REINFELDT (Hamburg) behandelte in seinem Vortrag die Europäische Politische Zusammenarbeit in den 1970er-Jahren und fragte, inwiefern die Expertengruppen des Europäischen Rats durch gemeinsame Überzeugungen als Experten zusammengehalten wurden. Er zeichnete nach, wie die Expertengruppen allmählich eigenständig die Agenda bearbeiteten, immer öfter die Themen selber setzten und informelle Entscheidungskanäle ebenso wie genormte individuelle Verhaltensmuster etablierten. Reinfeldt zog dennoch ein gemischtes Fazit mit Blick auf die Existenz epistemischer Gemeinschaften. Einerseits wurde deutlich, dass die Experten eigenständig die Entscheidungsprozesse steuerten und die Politik entsprechend ihrer Vorstellungen definierten. Andererseits gewannen nationale Interessen und politische Überlegungen wiederholt Überhand über die dargebotene Expertise. ARON BUZOGANY (Berlin) fragte im letzten Beitrag der Sektion, ob interparlamentarische Netzwerke als epistemische Gemeinschaften analysiert werden können. Er fokussierte dabei ein Netzwerk, welches nicht – wie in vielen Untersuchungen zu epistemischen Gemeinschaften – regulative Aufgaben innehatte, sondern die Kontrolle der EU-Entscheidungsprozesse durch die nationalen Parlamente koordinierte. Im Vortrag zeichnete Buzogany nach, wie gerade im Zuge der EU-Osterweiterung nationale Parlamente sich in der Gestaltung der institutionellen Designs ihrer Kontrollmechanismen an den Modellen orientierten, die von den Mitgliedern epistemischer Gemeinschaften als besonders effektiv angepriesen wurden. Er kam zu dem Ergebnis, dass das Konzept epistemischer Gemeinschaften ein hilfreicher Ansatz sei, um Akteure wie Parlamente, die in der Forschung allzu oft als homogener kollektiver Akteur modelliert werden, zu desaggregieren und so neue Erkenntnisse zu generieren.

Die Sektion „Epistemic Communities and Infrastructure“ eröffnete CHRISTIAN HENRICH-FRANKE (Siegen) mit seinem Beitrag zu der Frage, welche Erkenntnisse bezüglich epistemischer Gemeinschaften aus der Analyse der internationalen Regulierung grenzübergreifender Telekommunikationsinfrastrukturen gezogen werden können. Er führte hierzu aus, dass Telekommunikationsstandards bereits seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert erfolgreich durch Expertengruppen im Rahmen der Internationalen Fernmeldeunion (ITU) ausgehandelt wurden. Von entscheidender Bedeutung war die Sozialisierung innerhalb des institutionellen Arrangements der ITU, die einen unmittelbaren Effekt auf das Verhalten ihrer Mitglieder hatte. Über ihre zahlreichen gemeinsamen Aktivitäten im Rahmen der ITU-Strukturen entwickelten diese ein herausragendes Maß an Vertrauen sowohl zueinander als auch in die bereits bestehenden Institutionen. Auf dieser Basis waren sie fernab ideologischer und nationaler Differenzen selbst zur Zeit des Kalten Krieges in der Lage, internationale Standards vorzuschlagen, die allseits akzeptiert wurden. Anschließend demonstrierte FRANK SCHIPPER (Eindhoven) sehr ähnliche Gruppeneffekte am Beispiel des Verkehrssektors. Er konnte zeigen, dass sich in den internationalen Verkehrsorganisationen der Zwischenkriegszeit Akteursgemeinschaften herausgebildet hatten, die dann nach dem Zweiten Weltkrieg immer neue Pläne seitens der Politik zur supranationalen Integration des Verkehrs zurückwiesen, weil diese nicht mit den Bewertungsmaßstäben von Politik übereinstimmten, die sich innerhalb der Gruppe gebildet hatten. Professionelle Hintergründe und Expertise sowie gemeinsame Politikziele spielten eine zentrale Rolle innerhalb dieser Netzwerke, die durchaus Elemente einer epistemischen Gemeinschaft aufwiesen.

MAI’A K. DAVIS CROSS (Boston) ging im Rahmen der „Evening Lecture“ auf die Rolle epistemischer Gemeinschaften im Zuge der fortschreitenden Ausbildung einer gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU ein. Als Beispiel zog sie den Militärausschuss der Europäischen Union (EUMC) heran. Verantwortlich für die Festsetzung der Grundlinien sämtlicher gemeinschaftlicher Militäraktivitäten der EU, setzt sich dieser aus hochrangigen Militärvertretern der Mitgliedsstaaten zusammen und erfüllt dabei die von Davis Cross in Vorschlag gebrachten Kriterien zur Bestimmung des Zusammenhalts und Einflusses epistemischer Gemeinschaften in hohem Maß. Seine Mitgliederstruktur zeichnet sich dementsprechend durch eine weitgehende gemeinsame Expertise sowie Erfahrungswerte aus, die über regelmäßige gemeinsame Treffen noch gefestigt werden. Auf dieser Basis ist es den Mitgliedern des EUMC regelmäßig gelungen, so wie im Fall der EU Operation Atalanta selbst dann einen Konsens zu erzielen, wenn auf politscher Ebene von Beginn an Uneinigkeit hinsichtlich der Problemlage bestand.

In der Sektion „Education and Research“ untersuchte ÅSE GORNITZKA (Oslo) zunächst die besonderen Merkmale des policy-making im Bereich der Europäischen Bildungspolitik. Sie identifizierte verschiedene Partizipationsmuster im komplexen System der Expertengruppen der Europäischen Kommission. Auffällig war die umfangreiche Teilhabe von NGOs in einem Politikbereich, der aufgrund ausgeprägter nationaler Sensibilitäten eigentlich von starkem Interesse für nationale Verwaltungen sein müsste. Historisch sei aber ein System multipler Ebenen und Akteure gewachsen, dass die vielfältigen Interessen unterschiedlicher Akteure austariert und so eine hohe Legitimität für die eigene Politik schafft. Anschließend fragte ROBERT KAISER (Siegen) am Beispiel des Europäischen Forschungsrats nach der Bedeutung epistemischer Gemeinschaften für die EU Forschungs- und Innovationspolitik. Dabei konnte er zeigen, dass die EU Kommission eine 2002 von 45 europäischen Nobelpreisträgern angeregte Initiative zur Verbesserung der EU Forschungspolitik zielgerichtet in die Hände einer Gruppe von Experten legte, die dann nicht nur die institutionelle Ausgestaltung des Europäischen Forschungsrats sondern ebenso ein ‚neues‘ Paradigma unter dem Konzept des ‚frontier research‘ etablierte, innerhalb dessen traditionelle Formen der Grundlagenforschung entgegen anderslautender Überlegungen implizit integriert sind.

Die Sektion „Humanitarian Assistance“ eröffnete LUKAS SCHEMPER (Genf) mit einem Beitrag über die Bedeutung epistemischer Gemeinschaften im Kontext der Gründung der ‚International Relief Union‘ (IRU) im Jahr 1927 und ihren weiteren Arbeiten. Dabei wurde betont, dass die wissenschaftliche Arbeit der IRU nicht nur das einzige greifbare Ergebnis lieferte, sondern dass die Wissenschaftler der Organisation eigentlich erst ihre Legitimität verliehen. Die politischen Promotoren der IRU und die Wissenschaftler ergänzten sich dabei gegenseitig. Hatten die einen ein Interesse daran, die Expertise für Katastrophenfälle an die IRU binden, so sehr hatten die wissenschaftlichen Experten ein Interesse daran, in den Gremien der IRU präsent zu sein. So sehr in diesem Wechselspiel Einzelakteure eine Rolle spielten, die gleichermaßen in Politik wie Wissenschaft involviert waren, so sehr wirkte sich der zeithistorische Kontext der 1920er-Jahre, der Katastrophenschutz auf die Agenda setzte, positiv auf die Gestaltungsmöglichkeiten der epistemischen Gemeinschaft aus. Anschließend zeichnete ANDREA SCHNEIKER (Siegen) nach, wie sich im letzten Jahrzehnt vor dem Hintergrund steigender Sicherheitsrisiken bei humanitären Einsätzen eine epistemische Gemeinschaft privater Sicherheitsexperten herauskristallisiert hat, die zu einer Professionalisierung, Standardisierung und Neuausrichtung des Sicherheitsmanagements von NGOs beiträgt. Gerade weil die Mitglieder der epistemischen Gemeinschaft – basierend auf gemeinsamen Überzeugungen und einer Selbstzuschreibung als professionelle Sicherheitsexperten – eine gemeinsame Identität entwickelt haben, ist es ihnen gelungen, von humanitären NGOs als Standardsetzer anerkannt zu werden.

Am Ende der Konferenz konnten die Teilnehmer eine Reihe ‚neuer Einsichten‘ in epistemische Gemeinschaften resümieren, gleichzeitig haben die Diskussionen neue Fragen auf dem Weg zu einer möglichen Redefinition und Schärfung des Konzepts aufgeworfen. So wird es in weiteren Forschungen darum gehen müssen, auf viele dieser Fragen konkrete Antworten zu liefern, um die ‚epistemischen Gemeinschaften‘ sinnvoll von konkurrierenden Konzepten abzugrenzen und zu konturieren. Welche Inklusions- und Exklusionsmechanismen definieren die Außengrenzen epistemischer Gemeinschaften? Welche Rolle spielen unterschiedliche Formen von Expertise wie institutionelles Wissen, soziales Wissen und wissenschaftliche Expertise für spezifische Politikergebnisse? Wie lassen sich Faktoren wie Vertrauen, enge persönliche Bindungen, Solidarität oder gar Freundschaft systematisch in das Konzept integrieren? Welchen dynamischen Veränderungen unterliegen epistemische Gemeinschaften im Zeitverlauf? In welchem Verhältnis stehen Strukturen, Prozesse und Inhalte von Politik bei unterschiedlichen epistemischen Gemeinschaften? Wenngleich die Konferenz auf all diese Fragen allenfalls vorläufige Antworten liefern konnte, so hat es sich dennoch als hilfreich erwiesen, bei der Beantwortung dieser Fragen unterschiedliche Politikfelder aus unterschiedlichen Zeiträumen kontrastiv in den Blick zu nehmen.

Konferenzübersicht:

Welcome and Introduction
Andrea Schneiker (University of Siegen)

Conceptual Issues

Jan-Peter Voß / Arno Simons (Technische Universität Berlin), Are Instrument Constituencies Epistemic Communities?

Christian Lahusen / Frank Borchers (University of Siegen), The Contested Field of European Public Affairs at the Crossroads of Law, Politics and Public Relations

Epistemic Communities and Finance
Carola Westermeier (Justus-Liebig-Universität Gießen), Establishing Financial 'Watchdogs'. The EU-System of Financial Supervision

Aleksander Miłosz Zieliński (Bern), Central Bankers as Epistemic Community? The Example of the Basel Accords

Epistemic Communities and EU Political Infrastructure

Sebastian Büttner (University of Erlangen) / Lucia Leopold (University of Bremen), Community-building as a Practice of Professionalization: Networks of EU Affairs Professionals in Germany

Alexander Reinfeldt (Universität Hamburg), Epistemic Community? Experts and Expertise in European Political Co-operation (EPC)

Aron Buzogany (Freie Universität Berlin), Making European Scrutiny Work. Interparliamentary Networks as Epistemic Communities

Epistemic Communities and Infrastructure

Christian Henrich-Franke (University of Siegen), Epistemic Communities and the Regulation of International Telecommunications

Frank Schipper (Eindhoven University of Technology), Experts and European Transport Integration

Keynote

Mai'a K. Davis Cross (Northeastern University, Boston / University of Oslo), The Military Dimension of European Security: An Epistemic Community Approach

Epistemic Communities, Education & Research in Europe

Åse Gornitzka (University of Oslo), Experts in European Knowledge Policies

Robert Kaiser (University of Siegen), Structuring the European Research Area: Epistemic Communities in European Research and Innovation Policies

Epistemic Communities and Humanitarian Assistance

Lukas Schemper (Graduate Institute of International and Development Studies, Geneva), Institutionalizing an Epistemic Community: Disaster Studies in the Inter-war Period

Andrea Schneiker (University of Siegen), Private Security Experts and European Security Governance

Concluding Remarks
Andrea Schneiker (University of Siegen)

Anmerkung:
1 Vgl. Das Konzept bei: Peter M. Haas, Introduction: epistemic communities and international policy coordination, in: International Organization, 46/1 (1992), S. 1-35.


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Published on
29.01.2015
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