HT 2014: Wertsachen: Gewinn und Verlust im „Global Life of Things“

HT 2014: Wertsachen: Gewinn und Verlust im „Global Life of Things“

Organizer(s)
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands e.V. (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands e.V. (VGD)
Location
Göttingen
Country
Germany
From - Until
23.09.2014 - 26.09.2014
Conf. Website
By
Philip Hahn, Seminar für Neuere Geschichte, Eberhard Karls Universität Tübingen

Diese epochenübergreifend von der Renaissance bis zum 20. Jahrhundert angelegte Sektion erwies sich als überaus anschlussfähig. Die von den beiden Sektionsleiterinnen SÜNNE JUTERCZENKA (Berlin) und KIM SIEBENHÜNER (Bern) in ihrer Einleitung aufgeworfenen Fragen wurden in mehreren eingeschobenen Fragerunden auf der Basis der facettenreichen Vorträge intensiv diskutiert. Erfreulich war dabei, dass die Sektion ausdrücklich nicht mit dem Anspruch eines Paradigmenwechsels oder „Turns“ auftrat, sondern sich im Anschluss an die inzwischen seit drei Jahrzehnten betriebenen internationalen Forschungen zur materiellen Kultur positionierte, da in dieser Hinsicht im deutschsprachigen Raum noch deutlicher Nachholbedarf bestehe. Kombiniere man diesen Forschungsstrang mit einer globalgeschichtlichen Perspektive, wie es diese Sektion anhand global zirkulierender Luxusgüter vorgeführt hat, so ergebe sich der Sektionsleitung zufolge zum einen die Möglichkeit, die seit einigen Jahren diskutierten Thesen zum „social life of things“ (Arjun Appadurai) sowie zu Objekten als „Aktanten“ (Bruno Latour) zu hinterfragen, sowie andererseits auch die Chance, zentrale Probleme der Kulturgeschichte und der Globalgeschichte neu anzupacken.

Den Anfang der chronologisch aufeinander folgenden Vorträge machte LUCAS BURKART (Basel), der aufzeigte, wie Handel und Austausch von unterschiedlichen Luxusgütern wie Glaslampen aus Murano, orientalischer Textilien und Messingschalen das östliche Mittelmeer im ausgehenden 15. Jahrhundert zu einem „geteilten Raum“ machten. Der von KIM SIEBENHÜNER (Bern) analysierte Export von Diamanten aus dem Mogulreich nach Europa basierte auf interkulturell gemeinsamer Wertschätzung des Edelsteins, was dennoch nicht ausschloss, dass hohe Gewinne und Verluste bei diesem risikoreichen Geschäft oft eng beieinander lagen. JULIA A. SCHMIDT-FUNKE (Jena) erörterte die Bedingungen und Formen der Aneignungen und Bedeutungszuschreibungen eines ursprünglich außereuropäischen Luxusgutes in einem zentralen Handelsplatz Europas, der freien Reichsstadt Frankfurt am Main in der Frühen Neuzeit. Die Schwelle zur Neuzeit überschritt die Sektion mit SÜNNE JUTERCZENKAs (Berlin) Vortrag über die Sammlung und Konservierung menschlicher Körper und Schädel auf Südseeexpeditionen für phrenologische Untersuchungen im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert. LEORA AUSLANDER (Chicago) demonstrierte schließlich, wie ein ukrainischer Samowar zum Fokus der Identitätsbildung aschkenasischer Juden in Nordamerika werden konnte. In seinem Kommentar verwies BERND-STEFAN GREWE (Freiburg) zwar auf die Grenzen der gesamtgesellschaftlichen Relevanz des Handels mit Luxusgütern, betonte aber andererseits deren Aussagekraft für die Frage, inwiefern global zirkulierende Dinge selbst als Dispositiv ihre Aneignung in unterschiedlichen kulturellen Kontexten prägten.

Obwohl die Vorträge sowohl hinsichtlich der Eigenschaften der in den Blick genommenen Objekte als auch der Reichweite ihrer Zirkulation differierten, einte sie der Bezug auf mehrere zentrale Aspekte, die auch in den Diskussionen im Vordergrund standen. Gerade bei Luxusgütern liegt zunächst die Frage der Wertzuschreibung auf der Hand. Bereits in ihrer Einleitung betonten die Sektionsleiterinnen, dass sich Wert nicht beliebig den Dingen zuschreiben lasse, sondern vielmehr von deren Materialität und – angesichts der globalen Zirkulation – auch von deren Herkunft beeinflusst werde. So lasse sich, wie Kim Siebenhüner argumentierte, die Wertschätzung von Juwelen im Mogulreich und in Europa auf analoge Kriterien bei der Beurteilung ihrer materiellen Eigenschaften wie Gewicht, Reinheit und Schliff zurückführen. Komplexer gelagert war die von Julia A. Schmidt-Funke rekonstruierte Diskussion über die Qualität der Seide: In Frankfurt mussten sich die Hersteller von Seiden-Mischprodukten gegen Betrugsvorwürfe von Seiten der Obrigkeit rechtfertigen, konnten dabei jedoch auf eine Marktnachfrage nach genau solchen Stoffen verweisen. Daran wird eine Differenzierung des Seidenmarkts erkennbar, die im zeitgenössischen Luxusdiskurs völlig ausgeblendet wird. Warum die von Leora Auslander untersuchten jüdischen Emigranten im 20. Jahrhundert auf ihrer langen Auswanderung ausgerechnet ihren einen halben Meter hohen und schweren Samowar mitnahmen, anstatt ihn zu verkaufen, lässt sich allerdings kaum mit dessen Materialität erklären, denn anders als Juwelen, Seide oder die von Lucas Burkart betrachteten Luxuswaren widersetzte er sich geradezu der globalen Zirkulation.

Inwiefern sich Dinge als gleichberechtigte Akteure entsprechend der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) interpretieren lassen, wurde in der Einleitung insbesondere für die Frühe Neuzeit aufgrund der meist ungenügend dichten Quellenlage in Frage gestellt. Zwar verwies Kim Siebenhüner auf den frühneuzeitlichen Glauben in die Magie bestimmter Objekte, unter anderem Edelsteine, doch handelt es sich hierbei allerdings um eine zeitgenössische Zuschreibung von Agency, die sich nur bedingt auf deren intrinsische Eigenschaften zurückführen lässt. Besonders problematisch ist jedoch der Status von menschlichen Überresten, zeigte doch Sünne Juterczenka auf, wie europäische Sammler und deren Materialbeschaffer außereuropäische Normen im Umgang mit Leichen ignorierten. Damit wurden sie nicht nur ihres menschlichen Subjektstatus beraubt, sondern auch als Objekte präpariert und europäischen ästhetischen und wissenschaftlichen Vorstellungen unterworfen. Angesichts der zunehmenden Kommodifizierung von Leichen und Leichenteilen im 19. Jahrhundert erscheint es insbesondere im Zusammenhang kolonialer Herrschaft als geradezu zynisch, menschliche Überreste als Objekt-Akteure zu interpretieren, einmal abgesehen davon, ob eine solche Interpretation überhaupt sinnvoll ist. In der Diskussion wurde daher der grundsätzliche Einwand geäußert, dass eine Agency von Objekten ohne menschliche Akteure nicht denkbar ist. Wenn Praktiken gemeinsam mit den Objekten migrieren, wie etwa im Fall der Juwelen aus Indien oder des ukrainischen Samowars, so spreche dies allerdings durchaus für den eigenständigen Akteurstatus der Luxusgüter. Ferner wurde kritisch angemerkt, dass die Vorträge zu sehr einzelne Objekte oder Stoffe in den Blick genommen hätten, anstatt diese im Kontext von Ding-Ensembles zu analysieren.

Dies wurde jedoch von Leora Auslanders Vortrag eingelöst, denn sie zeigte auf, dass das auf den Samowar konzentrierte Ensemble der Dinge und Praktiken durchaus wandelbar war: Die dazu gehörigen Gläser wurden in den USA gegen ein aus Japan importiertes Drachen-Teeservice eingetauscht und der Samowar später elektrifiziert. Dennoch blieb der Samowar Kristallisationspunkt sozialer Praktiken wie vormals im russischen Reich. Prozesse grundsätzlicheren Bedeutungswandels interkulturell zirkulierender Objekte veranschaulichte Lucas Burkart am Beispiel der von venezianischen Diplomaten an der osmanischen Pforte erhaltenen Geschenke in Form von Stoffen, die in Venedig meist zu liturgischen Textilien umgearbeitet wurden. Dabei scheinen mitunter noch nicht einmal eingewebte islamische Schriftzüge als hinderlich betrachtet worden zu sein. Dahingegen präsentierte Julia A. Schmidt-Funke den entgegen gesetzten Fall einer Stiftung eines marderpelzbesetzten Seiden-Schamlotts an eine religiöse Gilde, wobei das Kleidungsstück vor einer liturgischen Verwendung zunächst umgearbeitet werden musste. Hinsichtlich der Eingriffe in die Materialität nicht nur global, sondern sogar auch nur regional zirkulierender Luxusgüter ergibt sich demnach ein vielschichtiges Bild. Darüber hinaus lassen sich bereits aus der Zeit der Renaissance Objekte finden, die von vorn herein für eine transkulturelle Aneignung konzipiert waren, wie die von Lucas Burkart gezeigte Messingschale Mahmuds al Kurdi, die mit arabischer und lateinischer Herstellerangabe versehen ist – ganz ähnlich den heutigen Exportartikeln.

In unterschiedlichem Maße demonstrierten die Vorträge eine entscheidende Stärke der Kombination von materieller Kultur und globaler Perspektive: Die global zirkulierenden Objekte lassen sich bei entsprechender Quellenlage als Teil vielfältiger Vernetzungen begreifen. Damit besteht überhaupt nicht die Gefahr des Erzählens unzusammenhängender Mikrogeschichten; im Gegenteil: Die Objekte verweisen nicht nur auf größere Zusammenhänge, sondern erschließen auch mitunter widersprüchliche oder konkurrierende Deutungsmuster. Die von einem europäischen Pilger als typisch orientalisch wahrgenommenen Kairoer Moscheelampen stammten, wie Lucas Burkart zeigte, tatsächlich aus den venezianischen Glaswerkstätten von Murano. Die Bedeutung der Seide lag Julia A. Schmidt-Funke im Schnittbereich unterschiedlicher Sphären, zwischen Immanenz und Transzendenz, zwischen Luxusdebatte und merkantilistisch geförderter Seidenraupenzucht; hinzu kam ihr ständeübergreifender, jedoch jeweils unterschiedlicher Nutzen. Auf je nach Objekt unterschiedliche Weise erledigt sich somit das altbekannte Problem der Mikrogeschichte, der Bezug zur Makroebene, gewissermaßen von allein. Darüber hinaus, wie Bernd-Stefan Grewe betonte, helfen Objekte zu verstehen, wie globale Verflechtung funktioniert.

Eine weitere Stärke des von dieser Sektion vorgestellten Zugangs liegt darin, dass er wirtschaftliche Aspekte mit einbezieht. Kim Siebenhüner wies darauf hin, dass in der Kulturgeschichte die Frage des Habens und Nicht-Habens zu sehr aus den Augen verloren worden sei; gerade bei Luxusartikeln liegt sie freilich auf der Hand. Allerdings wäre es wünschenswert, hier noch weiter zu denken. Wenn bereits in der Frühen Neuzeit ein Nutzen der Seide auch darin gesehen wurde, dass er den unteren Ständen zu Arbeit verhalf, so müsste danach gefragt werden, welches Verhältnis zu ihrer Materialität aus dieser Arbeit resultierte; ähnlich wäre es bei den Diamantenschleifern, Glasbläsern usw. Die preiswerteren Seiden-Mischprodukte und die notorischen Verletzungen frühneuzeitlicher Kleiderordnungen verweisen tatsächlich auf eine sozial breiter gefächerte Diffusion der Aneignung von Luxusgütern.

Ausbaufähig ist auch noch die Berücksichtigung der von den Sektionsleiterinnen in ihrer Einleitung betonten „Sinnlichkeit der Dinge, ihre Fähigkeit zu faszinieren oder zu ekeln“. Bei aller Betonung der Agency der Dinge darf nicht außer Acht gelassen werden, dass sinnliche Wahrnehmung zu einem erheblichen Anteil sozial und kulturell geformt wird. Eine Analyse materieller Kultur sollte daher auch zeitgenössische Theorien, Normen und Praktiken der Sinne einbeziehen. Hinzu kommt, dass letztere historischem Wandel unterworfen sind, was insbesondere für die Aneignungsgeschichte längerfristig zirkulierender Luxusgegenstände von Relevanz sein dürfte. Außerdem wäre zu überlegen, ob es Unterschiede zwischen den Sinnen hinsichtlich der Aneignung transkulturell zirkulierender Dinge gibt. Fraglich ist schließlich aber vor allem, ob sich die in der Sektion formulierte Kritik an Appadurais „social life of things“ bei einem Fokus auf der Sinnlichkeit der Dinge aufrechterhalten lässt. Denn, um es an einem prominenten Objekt der Sektion zu veranschaulichen: Welche sinnliche Wahrnehmung war für die identitätsstiftende Funktion des Samowars ausschlaggebend, das Aussehen oder das fühlbare Gewicht des Behälters, oder nicht vielmehr der Geschmack des daraus gemeinsam getrunkenen Tees und die dabei geführten Gespräche?

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Sünne Juterczenka (Berlin) / Kim Siebenhüner (Bern)

Kim Siebenhüner (Bern) / Sünne Juterczenka (Berlin), Einführung

Lucas Burkart (Basel), Cairo by night. Venedig, die Levante und die Zirkulation der Dinge in der Renaissance

Kim Siebenhüner (Bern), Gewinne, Verluste und transkulturelle Werte im global life der Diamanten

Julia A. Schmidt-Funke (Jena), Am seidenen Faden. Seide als Rohstoff, Handelsware und Konsumgut im frühneuzeitlichen Frankfurt am Main

Sünne Juterczenka (Berlin), Leichen im Laderaum. Zum „Social Life“ sterblicher Überreste im 18. und 19. Jahrhundert

Leora Auslander (Chicago), The Many Lives of a Samovar

Bernd-Stefan Grewe (Freiburg), Kommentar


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Published on
12.12.2014
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German
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