Historiographies of Confinement: Reconsidering Basic Concepts and Evaluating New Perspectives for a Global History of the Prison

Historiographies of Confinement: Reconsidering Basic Concepts and Evaluating New Perspectives for a Global History of the Prison

Organizer(s)
Stephan Scheuzger / Thomas Hirt / Michael Offermann, SNF-Förderungsprofessur „Die globale Produktion und Zirkulation des Wissens von Strafe und sozialer Kontrolle. Eine Verflechtungsgeschichte von Techniken der Haft und der Identifikation des Kriminellen von den 1830er bis in die 1920er Jahre“, Historisches Institut, Universität Bern.
Location
Bern
Country
Switzerland
From - Until
17.10.2014 - 18.10.2014
Conf. Website
By
Thomas Hirt / Michael Offermann, Historisches Institut, Universität Bern

Spätestens mit dem Erscheinen von Michel Foucaults Surveiller et Punir1, das nächstes Jahr seinen 40. Jahrestag erfahren wird, ist das Gefängnis zu einem fruchtbaren Forschungsgegenstand der Sozial- und Kulturgeschichte geworden. Bereits seit einiger Zeit hat auch die Geschichte des Strafens in außereuropäischen, kolonialen wie post-kolonialen, Räumen eine stärkere Beachtung erfahren. Nicht zuletzt auf dieser Grundlage sind Forderungen nach einer Globalgeschichte des Gefängnisses begründet worden, namentlich von Mary Gibson: „In conclusion, the new works on prison history in Asia, Africa, and Latin America point the way toward a global history of punishment that emphasizes the circulation of discourses and practices among continents and within regions.“2

Um den gegenwärtigen Stand der Forschung zu diskutieren und die Potentiale einer solchen Globalgeschichte des Gefängnisses auszuloten, lud die Förderungsprofessur des Schweizerischen Nationalfonds von Stephan Scheuzger, an der ein Forschungsprojekt unter dem Thema Die globale Produktion und Zirkulation des Wissens von Strafe und sozialer Kontrolle. Eine Verflechtungsgeschichte von Techniken der Haft und der Identifikation des Kriminellen von den 1830er bis in die 1920er Jahre verfolgt wird, zu einem Workshop nach Bern. Dabei interessierte insbesondere, welche Konzepte und Ansätze der europäischen Gefängnisgeschichte für eine globale Perspektive relevant sein könnten, wie analytisch ertragreich mit Kategorien wie Disziplinierung, Repression, Besserung, Klasse, Gender oder Rasse in einer solchen Globalgeschichte umgegangen werden kann und inwiefern globalhistorische Erkenntnisse zu einer Revision des Verständnisses von Geburt und Entwicklung des Gefängnisses in Europa und den USA beitragen könnten.

In seiner Begrüßung skizzierte STEPHAN SCHEUZGER (Bern) die Grundannahmen des Berner Projektes, in dem über die Gefängnisgeschichte in den USA, Großbritannien, Britisch-Indien, Argentinien, Deutschland und Guinea in ihren globalen Verflechtungszusammenhängen geforscht wird. Ziel des Projektes sei es, globale Verflechtungen nicht nur zu erfassen, sondern auch zu Aussagen über ihre Bedeutung für lokale Entwicklungen zu gelangen, wofür ein Fokus auf Wissenstransfers am vielversprechendsten sei. Dabei müsse neben transfergeschichtlichen Ansätzen auch das in der globalgeschichtlichen Diskussion oft kritisierte Konzept der Diffusion neu überdacht und zu Rate gezogen werden. Foucaults besondere Aufmerksamkeit auf die Mikroprozesse des Strafens und der Disziplinierung biete einen hilfreichen Ansatz, Gefängnispraktiken als wichtigsten Teil der Wissensproduktion über Gefängnisse zu verstehen. Aus europäischer Warte sei eine globalhistorische Perspektivierung der strafenden Haft die einzige, grundsätzlich neue Erkenntnisse versprechende Innovation. Die Begrüßung wurde ergänzt durch kurze Präsentationen der zwei Dissertationsprojekte der Förderungsprofessur. THOMAS HIRT (Bern) stellte sein Projekt vor, das die Überschneidungen metropolitanen und kolonialen Wissens über Gefängnisse im britischen Empire des 19. Jahrhunderts zum Thema hat. Mit Fokus auf die britische Kolonialverwaltung soll analysiert werden, wie solches Wissen zwischen Großbritannien und kolonialen Räumen zirkulierte und welche konkreten Auswirkungen es im Bau und Betrieb von verschiedenen kolonialen Gefängnissen zeitigte. Zu Britisch-Indien skizzierte MICHAEL OFFERMANN (Bern) die Bedeutung einer Gruppe von Gefängnisadministratoren, welche von 1830 bis 1870 einen kolonialen Reformdiskurs begründeten, Modellgefängnisse errichteten und im Mittelpunkt seiner Dissertation stehen sollen. Diese Administratoren rezipierten dabei nicht nur britische Vorbilder, sondern versuchten ihre koloniale Expertise auch auf Fachtagungen und internationalen Gefängniskongressen einzubringen.

Das Inputreferat der ersten Sektion zum Thema „Konzepte und Fragestellungen“ wurde von SEÁN MCCONVILLE (London) bestritten. Dabei wies er vor allem auf die Probleme der Werke Foucaults und Michael Ignatieffs hin, deren Konzentration auf einige reformierte penitentiaries irreführend sei, da im England des 19. Jahrhunderts der größte Teil der Häftlinge in regional verwalteten Gefängnissen verwahrt worden sei. Diese vermochten den Zentralisierungsbemühungen der britischen Administration und Politik lange Zeit zu trotzen, so dass man von einer extremen Fragmentierung der Gefängnislandschaft sprechen müsse, die ihrerseits wiederum Teil einer breiteren Landschaft von Institutionen der Einsperrung war. So könne man die Frage der britischen Gefängnisreform nicht isoliert von anderen Strafformen betrachten – und dies gelte gerade auch in Bezug auf die penitentiaries: So wurde etwa die Musteranstalt Pentonville als Vorstufe zur Deportation nach Australien genutzt.

Aufgrund der kurzfristigen Absage eines Tagungsteilnehmers entfiel der geplante Kommentar zum Input von McConville, so dass man direkt zur Diskussion überging. Dabei wurde angesprochen, dass eine Fragestellung des Berner Forschungsprojektes sein müsse, warum und auf welche Weise die Idee der Einsperrung als dominierende Form von Strafe sich in unterschiedlichen lokalen Kontexten durchsetzen konnte. Die Hinweise McConvilles auf die verschiedenen Zwecke, die dieselbe Strafform erfüllen konnte, ließen diese Multifunktionalität als einen möglichen Erklärungsansatz erscheinen. David Arnold verwies in diesem Kontext darauf, dass Gefängnisse in kolonialen Kontexten auch dazu dienten, die Kolonialherrschaft von „indigenen“ Strafformen abzugrenzen und als überlegen darzustellen und dass ihnen so auch eine symbolische und herrschaftsstabilisierende Funktion zukommen sollte. Dass solche Gefängnisse in ihrer täglichen Praxis den Idealen nicht entsprachen, sei dann von der Administration mit dem grundlegend anderen Charakter der Kolonialsubjekte erklärt worden. Generell wurde in der Diskussion darauf verwiesen, dass Gefängnisreformer in der Regel einen Modernitätsanspruch erhoben und Gefängnisse als Gradmesser für die „Zivilisierung“ einer Gesellschaft verstanden wurden. Hier verwies Stephan Scheuzger darauf, dass ein globalgeschichtlicher Forschungsansatz es ermögliche, Begriff und Konzepte des Gefängnisses zu historisieren und dadurch die von McConville angesprochene Problematik eines irreführenden Fokus auf einige wenige reformierte penitentiaries zu entschärfen.

Vor allem von seiner Forschung zu Gefängnissen in Britisch-Indien ausgehend, präsentierte DAVID ARNOLD (Warwick) im zweiten Teil des Workshops mehrere Ansätze, um das Konzept der Zirkulation für die Gefängnisgeschichte fruchtbar zu machen. Trotz methodischer Bedenken, dass die Betonung von Mobilität die Bedeutung von Hierarchien vernachlässigen könne, skizzierte Arnold verschiedene hierarchische und funktionale Schichten innerhalb kolonialer Gefängnissysteme, in und zwischen denen Wissen, Güter und Personen in den Gefängnissen zirkulierten. Diese reichten von den Gefangenen über Gefängnispersonal zu Gefängnisadministratoren, der Regierung und transnationalen sozialreformerischen Netzwerken. Eingebunden in globale Wissensflüsse seien nur die drei letztgenannten Gruppen gewesen, aber Gefangene seien keineswegs uninformiert über das koloniale Strafsystem gewesen. Besonders wurde die Zirkulation von Wissen zwischen Gefangenen betont sowie die Transformation des Wissens, wenn es gleichsam als aggregierte Information in den Netzwerken der Verwaltung oder der Sozialreformer zirkulierte. Im zweiten Teil des Inputs thematisierte Arnold, wie innerhalb einer imperialen bzw. einer indischen Öffentlichkeit Repräsentationen des kolonialen Gefängnisses verbreitet und diskutiert wurden.

Der Kommentar von STEFAN KROLL (Frankfurt am Main) erinnerte daran, dass es für die Analyse von globalen Zirkulationen wichtig sei, neben den involvierten Akteuren und Wissensbeständen, auch unterschiedliche Grade der Vernetzung und nicht-integrierte Entitäten einzubeziehen. Darüber hinaus verwies er auf das immer noch andauernde Problem, den westlichen Diskurs als einen universellen festzulegen und dessen Verbreitung zu untersuchen. In Bezugnahme auf den Hinweis von Stephan Scheuzger, dass das Konzept der Diffusion in einer Globalgeschichte des Gefängnisses allenfalls neu zu überdenken und einzubeziehen sei, verwies Kroll auch darauf, dass auch die lokale Adaption einer transnationalen Idee immer ein kreativer Prozess sei, durch den etwas „Neues“ entstehe, das aus der diffundierten Idee heraus nicht vollständig zu erklären sei.

Die Diskussion thematisierte dann noch einmal die Herausforderungen an globalgeschichtliche Ansätze, die sich für lokale Auswirkungen interessieren. Dabei plädierte David Arnold dafür, eine Wissensgeschichte des Gefängnisses „von unten“ zu schreiben und bei der Wissenszirkulation innerhalb der Gefängnisse zu beginnen. Dabei sei zu beachten, dass Zirkulationen innerhalb der unteren Ebenen stets auch mit höheren Levels verflochten gewesen seien und sich auch außerhalb der Gefängnisse ausgewirkt hätten. Insofern sei genau darauf zu achten, welche Effekte solche Zirkulationen von Ideen, Menschen oder Objekten in verschiedenen Kontexten zeitigten.

Die dritte und letzte Sektion des Workshops wurde von einem Inputreferat von CLARE ANDERSON (Leicester) eingeleitet. Ausgehend von einem aktuellen Forschungsprojekt zur Globalgeschichte von Strafkolonien plädierte sie dafür, diese Strafinstitution als Ergebnis von globalen „politics of comparison“ zu sehen. Die Geschichte der Deportation und der Strafkolonien sei auch deshalb relevant, da sie die Focaultsche Chronik der „Geburt des Gefängnisses“ relativiere: das späte 18. Jahrhundert lasse sich vielmehr als „Geburt der Strafkolonie“ charakterisieren. Zugleich sei das Gefängnis untrennbar mit dieser Form des Strafens verbunden gewesen. Dies gelte einerseits in Bezug auf Sträflinge, deren „Strafkarriere“ oftmals sowohl Gefängnisse als auch Strafkolonien umfasste. Es gelte aber auch für Reformer, die über Einsperrung und über Deportation in transnationalen Kontexten diskutierten, und für Administratoren und Personal, die nicht selten über Erfahrungen aus kolonialen Gefängnissen wie auch aus Strafkolonien verfügten. Anderson bezog sich daher auf Prozesse der Entwicklung von transnationalen Ideen, die ein umfassendes Repertoire von Strafformen umfassten, das neben anderen sowohl Gefängnisse als auch Strafkolonien beinhaltete.

Besonders relevant schien Stephan Scheuzger in seinem Kommentar die Frage nach der Bedeutung globaler und transnationaler Verflechtungen, die von Clare Anderson beispielhaft genannt wurden. Eine Gefahr von akteurszentrierten Ansätzen bestehe in einem zu starken Fokus auf Formen der Mobilität bei gleichzeitig mangelnder Beachtung lokaler Beharrungskräfte. Aufgeworfen wurden auch die Fragen, ob die Art der Wissenszirkulation nicht entscheidend die Wissensinhalte beeinflussten und wie dies im Einzelfall empirisch festzustellen sei. Des Weiteren sei danach zu fragen, ob verschiedene Kategorien oder Formen von Wissen unterschiedlich „reisefähig“ seien und ob ihnen mehr oder weniger universelle Geltung zugesprochen würde. Daran schloss sich die Überlegung an, inwieweit eine Verwissenschaftlichung der Diskussionen der gefängnisreformerischen Gemeinschaft im 19. Jahrhundert stattfand und ob das Modell einer „transnational epistemic community“3 hier fruchtbar angewendet werden könne.

In der abschließenden Diskussion verwies Clare Anderson darauf, dass Reformer und Administratoren sich frei aus einem bestehenden Bestand an Ideen bedienten, der mit ihren Interessen und lokalen Bedingungen vereinbar war. Die Frage nach den Ursprüngen von Wissen sei daher unter Umständen weniger wichtig als diejenige nach verschiedenen konkreten Anwendungen. David Arnold problematisierte die Idee einer „epistemic community“, da Administratoren und Reformer sich in mehreren Kontexten bewegten, in denen unterschiedliche Aspekte des Wissens und Legitimationen der Wissenschaftlichkeit in den Vordergrund gestellt wurden. Daneben wurde von den Diskussionsteilnehmern auf mehrere Aspekte verwiesen, in denen die Geschichte von Gefängnissen nicht ohne Einbezug von Entwicklungen anderer Formen des Strafens zu verstehen sei – dies umfasse etwa Strafkolonien, aber auch die Todesstrafe oder Körperstrafen in- und außerhalb von Gefängnissen. Nicht zuletzt deutete Seán McConville darauf hin, dass eine historische Analyse von Gefängnissen durch eine Sensibilität für andere Disziplinen, etwa für die Ergebnisse der Soziologie des Strafens, bereichert werden könne und dass für das historische Verständnis von Gefängnissen auch rechtsgeschichtliche Entwicklungen, wie etwa sich wandelnde Definitionen von verschiedenen Strafmaßnahmen oder Formen der Haft, berücksichtigt werden müssten.

Die überschaubare Größe des Workshops und die unterschiedlichen Profile der Teilnehmer führten zu intensiven und vielfältigen Diskussionen, in denen keine abschließenden Befunde formuliert, sondern vielmehr die Herausforderungen skizziert wurden, denen sich eine globalhistorische Wissensgeschichte des Gefängnisses momentan zu stellen hat. Vor allem die festgestellte Spannung zwischen einem im 19. Jahrhundert ubiquitären Bezug auf Ideen des „modernen“ und reformierten Gefängnisses einerseits und extremen lokalen Unterschieden in der Vollzugspraxis andererseits verspricht ein reiches Feld für zukünftige Untersuchungen. Ebenso macht die auf dem Workshop differenziert eingeschätzte Bedeutung globaler Wissensflüsse für lokale Praktiken der Haft einmal mehr deutlich, dass globalhistorische Forschung sich sorgfältig mit Reichweiten, Dichten und Persistenzen von Verflechtungen zu befassen hat und bei aller Betonung von Multidirektionalitäten auch die weitgehende Einseitigkeit gewisser Übertragungsprozesse zur Kenntnis nehmen muss.

Konferenzübersicht:

Eröffnung und Begrüßung

Stephan Scheuzger / Thomas Hirt / Michael Offermann (Universität Bern)

Sektion 1: Concepts and Issues
Input: Seán McConville (Queen Mary, University of London)

Sektion 2: Central Terms and Semantic Incongruities
Input: David Arnold (University of Warwick)

Kommentar: Stefan Kroll (Goethe-Universität Frankfurt am Main)

Sektion 3: Significance and Objectives of a Global History Approach
Input: Clare Anderson (University of Leicester)

Kommentar: Stephan Scheuzger (Universität Bern)

Anmerkungen:
1 Michel Foucault, Surveiller et punir. La naissance de la prison, Paris 1975.
2 Mary Gibson, Global Perspectives on the Birth of the Prison, in: American Historical Review 116 (2011), S. 1040–1063, hier S. 1062.
3 Peter M. Haas, Introduction: Epistemic Communities and International Policy Coordination, in: International Organization 46 (1992), S. 1–35.


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Published on
15.12.2014
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