Geschichte für eine Welt - der 21. Welthistorikerkongress 2010

Geschichte für eine Welt - der 21. Welthistorikerkongress 2010

Organizer(s)
International Committee of Historical Sciences (ICHS)
Location
Amsterdam
Country
Netherlands
From - Until
22.08.2010 - 28.08.2010
Conf. Website
By
Norbert Fabian, Duisburg

Bereits die Eröffnungsvorträge machten eine Hinwendung zur Globalgeschichte deutlich: Historiker aus vier Erdteilen (L.H. van Voss, B. Li, I. Thioub, J.C. Robert) beschrieben und analysierten die Bedeutung des Wassers - von Flüssen, Sturmfluten und Überschwemmungen wie von Wassermangel für historische Verläufe und Konflikte. Der spanische Präsident des 21. Welthistorikerkongresses (ICHS) J.L. Peset betonte, dass Wasser lebensnotwendig sei, einem großen Teil der Menschheit jedoch nicht ausreichend zur Verfügung stehe. Die Regulierung wie der Schutz und das Recycling von Wasser und Wasservorräten habe in einer ökonomischen, wissenschaftlichen und sozialethischen Perspektive ein zentrales Thema neuerer, transnational angelegter Umweltgeschichte zu sein. 1
So wurde die Frage nach der generellen Möglichkeit von Welt- und Globalgeschichte in mehreren Sektionen eindeutig bejaht. 2 Der Harvard-Historiker S. Beckert verwies auf den gegenwärtigen Boom von transnational angelegten Forschungsprojekten und Publikationen. Mit diesen hätten neue Themen an Relevanz gewonnen wie die Geschichte von Rohstoffen und Nahrungsmitteln, von Sklaverei, freier Arbeit und Migration, des internationalen Handels und industrieller Verflechtungen sowie der internationalen Politik und internationaler Or-ganisationen. Daneben sprach Beckert aber Schwierigkeiten und Probleme an, wie den teils schwierigen Zugang zu außereuropäischen Quellen sowie einen nicht selten weiterhin wirksamen Eurozentrismus. Zudem würden unterschiedliche lokale wie regionale Gegebenheiten zu wenig berücksichtigt.
Nach aktuellen Forschungsperspektiven fragte das neue ‚Network of Global and World History Organisations’. G. Austin von der London School of Economics intendierte eine wechselseitige Integration von europäischer und nicht-europäischer Wirtschaftsgeschichte. Hierzu brachte der Japaner S. Akita die asiatische Perspektive mit ein. So führte er z.B. den Beitrag indischer Baumwolle für die aufkommende japanische Industrialisierung an. Gemeinsam untersuchten M. Middell (Leipzig) und D. Simo (Yaoundé) die Rolle der Kultur in der Globalgeschichte. In der Perspektive der Verantwortung für ‚Eine Welt’ befürwortete Middell dabei mehr Kulturtransfers sowie reziproke Vergleiche. 3 Simo betonte recht eindrucksvoll die asymmetrische Situation und die Rolle Afrikas als „Opfer der Welt“ wie den Willen zu überleben. - Für eine interdisziplinär angelegte Einbeziehung auch der Geschichte der Natur und der Naturwissenschaften und somit eine ‚Big History’ an Schulen wie Hochschulen plädierten D. Christian (Sidney) und F. Spier (Amsterdam). Insgesamt angestrebt werden eine gemeinsame Forschungsagenda und mehr Zusammenarbeit bei Projekten.
Breit diskutiert wurde auf dem Kongress zugleich, wie sich die überwiegend national angelegte bisherige Geschichtsschreibung didaktisch in eine globale Perspektive mit einbringen lässt. In einer von der Augsburger Geschichtsdidaktikerin S. Popp organisierten Sektion argumentierte J.H. Bentley aus Hawaii, dass Einordnungen von Nationalgeschichten in vergleichende und interkulturelle Kontexte deren Erklärungswert verbesserten. Andererseits unterschätzten Welthistoriker nationalstaatliche Gemeinschaften als „natürliche For-men sozialer Organisation“. Mit der überwiegend noch national orientieren Präsentation der Geschichte des 2. Weltkrieges in der europäischen, nordamerikanischen und asiatischen Populärkultur (Comics, Novellen und Filme) setzte sich danach der Niederländer K. Ribbens recht kritisch auseinander. Auch transnational angelegte wissenschaftliche Untersuchungen zum 2. Weltkrieg blieben allerdings bisher unterrepräsentiert. Notwendig sei es, multiperspektivisch die Erfahrungen anderer Völker einzubeziehen und eine global angelegte Erinnerungskultur des 2. Weltkrieges und des Holocaust zu entwickeln sowie diese ge-schichtsdidaktisch zu vermitteln.
Global angelegt war dann auch die Sektion zur Stadtkultur und historischen Stadtforschung. Organisiert hatte sie die Finnin M. Hietala, die am Ende des Kongresses neu zur Präsidentin des nächsten Welthistorikertages 2015 in China gewählt wurde. Als „Modernisierungsprozess“ in der Stadtgeschichte klassifizierte F. Bocchi bereits neue Baumaßnahmen und breitere Straßen, eine verbesserte Trinkwasserversorgung sowie die Abwasserbeseitigung in mittelalterlichen italienischen Stadtrepubliken im 13. und 14. Jahrhundert. Derartige frühe Innovationen und Verbesserungen von Infrastrukturen und Dienstleistungen verbinden für sie „Altes und Moderne“ und seien damit ein kulturelles Erbe von Städten der Gegenwart. Zudem skizzierte F. Oppl die historische Entwicklung der Stadt Wien hin zu einem internationalen Treffpunkt und zu einer Kulturstadt der Gegenwart und A. Gorelik beschrieb die ‚Idee der Lateinamerikanischen Stadt’.

Eine „neue Lektüre“ der Französischen Revolution im Rahmen einer Globalgeschichte des 18. Jahrhunderts forderte M. Middell in der von ihm gemeinsam mit A. Forrest (York) organisierten, umfangreichen Sektion. In einer transnationalen Perspektive analysiert wurden Auswirkungen und die Rezeption der Französischen Revolution im Mittelmeerraum, in Lateinamerika, in Russland und in Ostasien. P. Serna vom Pariser ‚Institute d’Histoire de la Révolution Francaise’ sprach u.a. im Anschluss an R. Palmer die Konzeption einer ‚atlanti-schen Revolution’ erneut an. Die Erinnerung an die Revolution im Frankreich des 19. Jahrhunderts bei Michelet stellte dann die häufig unterdrückten kleinen Leute und nicht etwa den „nationalen Ruhm“ in den Mittelpunkt, wie der Japaner K. Tachikawa betonte. Zugleich geschichtsdidaktisch bleibt weiterhin die Rolle der Gewalt in der Französischen Revolution und den Re¬volutionskriegen kritisch zu diskutieren - Anstöße für teils kontrafaktische Abwägungen vermögen etwa Robespierres Rede gegen den Krieg und I. Kants Schrift ‚Vom Ewigen Frieden’ von 1795 zu vermitteln.
Zu vergleichenden historischen Untersuchungen globaler und regionaler Ungleichheit zogen die Wirtschaftshistoriker J. Ljungberg (Lund) und J. Baten (Tübingen) ökonomische Modelle wie Kuznets- und Lorenz-Kurven sowie Gini-Koeffizienten recht kreativ mit heran. Trotz eines aufwendigen ökonometrischen Instrumentariums kaum nachvollziehbar blieb hingegen der Versuch von P. Földvári, Zusammenhänge zwischen Verbesserungen im Erziehungswesen und in den Lebensverhältnissen zu bestreiten. Zugestehen musste J.L. van Zanden zudem, dass bei Messungen der historischen Entwicklung von Einkommensun-gleichheit im Weltmaßstab aufgrund von Datenlücken zwangsläufig Schätzungen mit einzu-beziehen sind.
„Unsere Humanität und die Anderer“ sowie Formen von Inhumanität diskutierte die von dem Geschichtstheoretiker Jörn Rüsen geleitete Sektion zu unterschiedlichen Möglichkeiten von Humanismus in der Geschichte. Mit zugrunde lag ein Forschungsprojekt des ‚Kulturwissenschaftlichen Instituts’ in Essen zu einem ‚interkulturellen Humanismus’, der versucht Gemeinsamkeiten und Unterschiede vielfältiger menschlicher Welt- und Selbstdeutungen gleichermaßen zu berücksichtigen. 4 H. Cancik (Tübingen) erinnerte sowohl an Traditionen des klassischen Humanismus wie an ein Verständnis von „Geschichte als Humanität“ bei Herder - Geschichte sei ein strukturales Element von Humanität. Mit dem mexikanischen Literaturnobelpreisträger O. Paz und dessen postkolonialen Humanismus resümierte auch O. Kozlarek, dass der Kern der Geschichte der Mensch und damit der Mensch selbst die Geschichte sei. Für einen afrikanischen Humanismus im Interesse der menschlichen Würde von Afrikanerinnen und Afrikanern und für einen reflektierten, wechselseitigen Austausch von Feminismus und Humanismus plädierten im interdisziplinären Dialog M.O. Eze und die Essener Soziologin I. Lenz. Mehrfach thematisierte v.a. der Groninger Historiker A. de Baets auf dem Kongress zugleich die Geschichte und Bedeutung universaler Menschenrechte. Auch traten er und die niederländische Literaturwissenschaftlerin N. Noordervliet dafür ein, die Würde von Toten zu achten und ihnen durch Historiker über den Tod hinaus Gerechtigkeit zukommen zu lassen. 5
Gefragt wurde abschließend nach der aktuellen ‚Relevanz von Geschichte für Politik und Kultur’ sowie nach den Lehren aus der Geschichte. J. Kocka verwies darauf, dass 2008 bei der Bewältigung der Finanz- und Wirtschaftskrise aus den während der Weltwirtschaftskrise ab 1929 gemachten Fehlern gelernt wurde. So sei v.a. die Theorie von J.M. Keynes in der 2008 aufkommenden Krise weitgehend erfolgreich herangezogen worden. Im Falle sich zukünftig wiederholender Wirtschaftskrisen wären bei Vergleichen allerdings weiterhin historisch unterschiedliche Situationen zu beachten. 6 Auch in der Diskussion wurde daraus gefolgert, dass eine zwischenzeitliche Konsolidierung von Staatsfinanzen sowie sinnvolle Regelungen und eine vorsorgende Stabilisierung von Wirtschaftsabläufen wie Finanzmärkten unabdingbar seien. Gegen historische Formen politischer, ökonomischer wie kultureller Dominanz großer Mächte und für eine möglichst multipolare Weltgesellschaft votierte dann der niederländische Geschichtstheoretiker F. Ankersmit. Sein Kollege C. Lorenz problematisierte und analysierte in einer globalen Perspektive zudem, wie hegemoniale Erinnerungen unterschiedliche Nationalgeschichten und von ihnen abgeleitete nationale Identitäten konstituieren.

Anmerkungen:
1 Vgl. auch: 21st International Congress of Historical Sciences, Programme, Amsterdam 2010/ www.ichs2010.org
2 Eine hilfreiche Einführung bietet Jürgen Osterhammel (Hrsg.), Weltgeschichte, Stuttgart 2008. Für ihn ist das „Feld“ der Weltgeschichte heute „einer der dynamischsten Bereiche der internationalen Geschichtswissenschaft.“ Für Weltgeschichte spräche bereits, dass „manche der Fragen, mit denen sich Historiker ohnehin beschäftigen, dadurch gewinnen könnten, dass man sie um eine globale Dimension ergänzt.“ Andere Probleme würden durch einen nationalen oder regionalen „Sucherausschnitt“ gar nicht erst erkennbar (vgl. S. 10f). Weiterhin: Sebastian Conrad / Andreas Eckert / Ulrike Freitag (Hrsg.), Globalgeschichte. Theorien, Ansätze, Themen, Frankfurt am Main 2007; Gunilla Budde / Sebastian Conrad / Oliver Janz (Hrsg.), Transnationale Geschichte. Themen, Tendenzen und Theorien, Göttingen 2006; Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 20092 und Christopher A. Bayly, Die Geburt der modernen Welt. Eine Globalgeschichte 1780-1914, Frankfurt am Main 20082 sind neuere Beispiele für eine epochenbezogene Weltgeschichtsschreibung. Beachte zudem Matthias Middell (Hrsg.), Die Verwandlung der Weltgeschichtsschreibung, Comparativ 20 (2010)6, und die Beiträge zur Didaktik der Globalgeschichte in: geschichte für heute, 2009/3.
3 Für Middell verlangt die Herausforderung der Globalisierung eine „produktive Weiterentwicklung der welt- oder globalgeschichtlichen Ansätze“, in: Universalgeschichte, Weltge-schichte, Geschichte der Globalisierung - ein Streit um Worte? in: Margarete Grandner / Dietmar Rothermund / Wolfgang Schwendtker (Hrsg.), Globalisierung und Globalgeschichte, Wien 2005, S.60-82, S. 62f.
4 Jörn Rüsen / Henner Laass (Hrsg.), Interkultureller Humanismus. Menschlichkeit in der Vielfalt der Kulturen, Schwalbach/Ts. 2009. Mit verwiesen wurde in der Diskussion auch auf das ‚Projekt Weltethos’ von H. Küng (München 1990, etc.).
5 Beachte u.a. Antoon de Baets, Responsible History, New York 2009.
6 Kocka bezog sich u.a. auf Reinhart Koselleck, Historia Magistra Vitae, in: ders. Vergangene Zukunft, Frankfurt a.M., 1979, S. 38-66. Beachte zudem Hans-Ulrich Wehler, Aus der Geschichte lernen? München 1988, S. 11-18.

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Lic. Norbert Fabian
Lessingstr. 8E
47226 Duisburg,
E-Mail: nobfabian@t-online.de


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09.07.2011
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