Orte - Ordnungen - Oszillationen. Raumschaffung durch Wissen und räumliche Struktur von Wissen

Orte - Ordnungen - Oszillationen. Raumschaffung durch Wissen und räumliche Struktur von Wissen

Organizer(s)
Historisch-Kulturwissenschaftliches Forschungszentrum (HKFZ) Trier
Location
Trier
Country
Germany
From - Until
04.12.2009 - 05.12.2009
Conf. Website
By
Theresia Biehl, Universität Trier Email:

Der Begriff des Ortes, verstanden als räumliche Konkretisierung von Wissensbeständen sowie als imaginierbare Größe innerhalb des kulturellen Gedächtnisses einer spezifischen Gruppe. Der Begriff der Ordnung, verstanden als reale und/oder imaginierte Systematisierung von Räumen und Wissensbeständen. Der Begriff der Oszillation, verstanden als Terminus zur Beschreibung von dynamischen Tradierungs- und Obliterationsprozessen, denen konkrete und imaginierte Wissensräume unterliegen können.

Diese alliterierende Begriffsreihe stand thematisch über der zweitägigen Jahrestagung des Historisch-Kulturwissenschaftlichen Forschungszentrums (HKFZ) Trier, die sich, auch mit Blick auf aktuelle Forschungsdebatten zum ‚spatial turn’ in den Kulturwissenschaften, der Entwicklung eines erweiterten Konzepts des „Wissensraums“ verschrieben hatte. Dabei galt die These, dass der Begriff des „Wissensraums“ mehr umfasse als einen in der materiellen Welt topo- oder geographisch lokalisierbaren Ort. Wissen werde nicht nur vorgegebenen, von ihm unabhängigen Räumen zugeordnet, sondern sei schon in seiner Formierung selbst an Prozesse der Verräumlichung gebunden. Zentral waren daher insbesondere Fragen nach der Verräumlichung von per se nicht schon räumlich verfassten Größen.

Darüber hinaus war die gemeinsame Diskussion von akademischem Nachwuchs und arrivierten Wissenschaftler/innen ein intendiertes Anliegen der Tagung. Neben Referentinnen und Referenten aus den Reihen des HKFZ diskutierten daher zahlreiche auswärtige und Trierer Nachwuchswissenschaftler/innen ihre aktuellen Forschungsprojekte zu Fragen des „Raums“ und des „Wissens“.

MARTIN PRZYBILSKI (Trier), geschäftsführender Leiter des HKFZ Trier, führte ein in den thematischen Raum der Tagung und unterstrich, dass die weit in die Moderne greifenden Beiträge die Breite kulturwissenschaftlicher Forschung eindrücklich belegten.

Im ersten Vortrag der Sektion „Verräumlichung des Wissens“ gab LARS NOWAK (Trier) zunächst einen bildreichen Überblick über die Verfahren der ballistischen Fotografie und erörterte den hierbei spezifischen Zusammenhang von Zeit, Raum, Bild und Wissen. Er betonte, dass die Übertragung von Zeit in räumliche Kategorien, wie sie im Zuge des ,spatial turn’ erfolge, der ballistischen Fotografie selbst schon inhärent sei. Vorderhand mache das fotografische Verfahren Bewegungen sichtbar, die sich aufgrund ihrer enormen Geschwindigkeit natürlicherweise der Wahrnehmung entzögen. Darüber hinaus jedoch werde eine Bewegung in der Zeit möglich, wie sie sonst nur im Raum gegeben sei, die Zeit somit spatialisiert.

Die enge Verbindung von gesellschaftlichen Praktiken, Wissen und räumlicher Bewegung und die hieraus erwachsende narrative Struktur diskutierte LEA BRAUN (Berlin) anhand einer Episode des „Apollonius von Tyrland“ Heinrichs von Neustadt. Dabei beschrieb sie die Didaxe des Apollonius als räumlich codiert und legte dar, wie die räumliche und körperliche Aneignung des Wissens zu dessen Dynamisierung führe. Die Ausbreitung im Raum ermögliche einerseits die Stabilisierung von Wissensbeständen und Ordnungen, mache sie andererseits aber prozesshaft und derart zugänglich für Formen der Aktualisierung und Hybridisierung.

Ein gemeinschaftlicher Beitrag von MARTIN PRZYBILSKI (Trier) und NIKOLAUS RUGE (Trier) schloss an die Forschungsdebatte um den Gehalt und spezifischen Charakter von Fiktionalitätsentwürfen im mittelalterlichen höfischen Roman an und stellte dagegen die Möglichkeit fiktionaler Weltentwürfe am Rande wie jenseits von Stringenz, Kohärenz und Kontingenz zur Diskussion. Ihre Überlegungen konzentrierten sich auf den sogenannten ‚nachklassischen’ höfischen Roman, innerhalb dessen sie fiktionale Narration als Mittel verstanden, Handlungs- und Spielräume für die literarischen Figuren, insbesondere aber die „figurenähnlich agierenden Aggregate“ des mittelalterlichen Erzählarchivs zu eröffnen, die jenseits einer kohärenten als auch einer auf außerliterarisches Weltwissen bezogenen Erzähllogik lägen.

Den Wissensraum Stadthistoriographie nahm der Vortrag von MONIKA HANAUSKA (Trier) in den Blick. An spätmittelalterlichen Kölner Stadtchroniken untersuchte sie, wie sich zum einen das für eine bestimmte Lokalität relevante Wissen konstituiert und fragte zum anderen, auf welche Weise dieses Wissen innerhalb des Textraumes seine Ordnung erfährt. Dabei hob sie besonders hervor, dass die Chroniken nicht bloß reine Sammlungen von Stadtwissen darstellten, vielmehr im Text selbst neue Wissensräume entstünden.

EVA JOHACH (Trier) betrachtete in ihren wissenshistorischen Ausführungen die wissenschaftliche wie literarische Beschäftigung mit sogenannten „sozialen Insekten“ und zeigte auf, wie sich auf diesem Gebiet anthropologische, zoologische und politische Wissensformen durchkreuzen. Hieran anschließend stellte sie die These auf, dass sich in der Auseinandersetzung mit Insektengesellschaften die Anthropomorphisierung tierischer Lebensformen mit der umgekehrten Dynamik einer Zoologisierung des Menschen verbinde. Eingehend legte sie dar, wie die „Bienengesellschaft“ seit dem 17. Jahrhundert zur Folie wurde, auf der verschiedene menschliche Gesellschaftsentwürfe durchgespielt wurden und verwies auf einige „Reformen“ des Bienestocks, die sich nicht zuletzt aufgrund veränderter politischer wie sozialer Vorzeichen ergeben hätten.

Den topographischen Spuren in den hinterlassenen Briefen des Antikenverehrers Johann Joachim Winckelmann folgte KERSTIN KÜSTER (Dresden) und untersuchte die Funktionen der hier erwähnten Orte und Räume. Sie argumentierte, dass Orte für Winckelmann stets eine räumliche Konkretisation von Wissen darstellten, weshalb er die in den Briefen genannten Stätten antiker Kunst nicht als Erfahrungs-, Ereignis- oder reale Stadträume wahrgenommen, sondern vielmehr als Kunst- und Wissenskontingente verstanden habe, aus denen er sich zur Entwicklung des eigenen Kulturmodells bediente. Dabei entwarf sie ein „Winckelmannsches Kulturdreieck“, dessen Eckpunkten sie Dresden als „Speicherplatz“ von Kultur, Athen als stilisierte Utopie und Rom als vollkommene Eutopie zuordnete.

Die Datenstrukturen EDV-philologischer Programmierung stellte JOSHGUN SIRAJZADE (Luxemburg und Trier) vor, wobei er auf der Grundlage objektorientierter Sprachen die Art der Wissensspeicherung und die hierbei verwendeten hierarchischen Ordnungen diskutierte.

In der zweiten Sektion des Tages, die sich mit der „Umordnung und Oszillation von Wissen im Raum“ befasste, legte RICHARD ENGL (Trier) dar, auf welche Weise der Wandel der städtischen Sozialordnung in der Kommune Pisa im 12. Jahrhundert auch einen Wandel der Wissensordnung hervorbrachte. Intensiv beleuchtete er die Vernetzung der unterschiedlichen Wissensträger im städtischen Wissensraum und zeigte, dass insbesondere aufgrund des strukturellen Defizits einer jährlich wechselnden Führungsebene vorhandenes Wissen durch Schriftlichkeit gebannt werden musste und in diesem Zuge auch das kommunale Archivwesen explodierte.

Ihren Untersuchungsgegenstand, die mittelalterlichen Frauenklöster des Erzstiftes Trier, definierte PETRA KURZ (Trier) zum einen als konkret begrenzten Ort, zum anderen aber auch als nicht räumlich begrenzte „Wissensgemeinschaft“, die zwar im Inneren eigene Wissensräume bilde, diese aber auch nach außen trage. Welchen Veränderungen dieser „Wissensraum Frauenkloster“ im Zuge von Reformen und klösterlicher Neuausrichtungen unterworfen war, machte sie an zahlreichen Beispielen deutlich.

Der erste Tagungstag schloss mit dem öffentlichen Abendvortrag des Heidelberger Historikers BERND SCHNEIDMÜLLER (Heidelberg) zum Thema „Kaisertum im Spätmittelalter. Imperiale Ordnung zwischen Glanz und Gewöhnlichkeit“. In Abgrenzung zum hochmittelalterlichen Kaisertum sowie zur Machtfülle vergangener Großreiche beleuchtete er das deutsch-römische Kaisertum des Spätmittelalters, das seinen Anspruch der Suprematie zwar weiter formuliert habe, dessen Herrschaftsmacht jedoch zunehmend geschwunden sei.

Am zweiten Tagungstag beschäftigte sich CLAUDIA ANNA GRÄßNER (Berlin) mit den deutschen Reiseberichten des 18. Jahrhunderts und fragte nach deren Beitrag zur Vermittlung und Tradierung von Wissen über den antiken Raum Italien. Ausgehend vom wichtigsten Reisehandbuch der Zeit, Johann Jacob Volkmanns „Historisch-kritischen Nachrichten von Italien“ (Erstausgabe 1770/71) attestierte sie insbesondere für die Texte des späten 18. Jahrhunderts einen Paradigmenwechsel in der Wahrnehmung wie in der literarischen Transformation antiker Räume und legte die hierin offenbar werdenden Wandlungsprozesse des Wissens über Italien dar.

Die Frage nach der Relevanz von Ordnungs- und Umordnungsprozessen bei der Konstituierung von Wissen stellte ANDREAS GRÜNES (Gießen). Dabei problematisierte er die hochgradige Subjektivität der Ordnung von Wissensbeständen, ebenso die hieran anschließende Selektivität bestimmter Wissensorte. Basierend auf der Editionsgeschichte der „Chronik des Ghettos Łódź“ skizzierte er, wie bei der Rekonstruktion von Wissen stets auch die zwischen den verschiedenen Ordnungen liegenden Transformationsprozesse mitgedacht werden müssten.

Die Sektion „Ordnungen des Wissens als Mittel der Handlungsorientierung“ eröffnete HAUKE HORN (Mainz), der in seinem Beitrag zur Architekturgeschichte des Magdeburger Doms eine „Tradition des Ortes“ als ein prägendes Merkmal der mittelalterlichen Sakralarchitektur postulierte. Er zeigte, wie im Chor des Neubaus aus dem 13. Jahrhundert die ruhmesvolle Vergangenheit der Kirche tradiert wurde und leitete hieraus die These ab, dass die Architektur nicht bloß als Speicher, sondern auch als ortsgebundenes Medium der Kommunikation von Wissen wirke, zugleich inszenatorischen Charakter besitze, der nicht zuletzt der Demonstration erzbischöflicher Machtansprüche diente.

Über die veränderte Wahrnehmung von Weiblichkeit im Kontext der kulturellen Globalisierung in Argentinien zwischen 1880 und 1930 sprach ANNA WINKLER (Berlin). Anhand zahlreicher Text- und Bildquellen zeitgenössischer Frauenmagazine analysierte sie Diskurse von Geschlechterdifferenz und –hierarchie und diskutierte die sich für die Frauen im Zuge der Globalisierung ergebenden neuen Handlungs(spiel)räume.

Den Wissensraum Fantasyroman, auch als Experimentierfeld der Literatur überhaupt, nahm abschließend THOMAS JÄGER (Trier) in den Blick. Dabei ging er ausführlich auf die innerhalb der Gattung festzustellende Marginalisierung und Problematisierung des Mediums Buch sowie das dort gezeichnete Bild des Umgangs mit Büchern und Buchwissen ein.

Insgesamt bestach die Tagung durch ihre fachwissenschaftlich vielfältige sowie methodisch mannigfache Herangehensweise an die zentrale Fragestellung und wurde so dem interdisziplinären Anspruch des Forschungszentrums entschieden gerecht. Die thematische Fokussierung auf die Begriffe des Ortes, der Ordnung und der Oszillation lieferte überdies maßgebliche Impulse für die weitere Konturierung eines Entwurfs des Wissensraums, der in vielen Vorträgen jenseits materieller Räume angesiedelt war, diese jedoch von Zeit zu Zeit berührte. Nicht zuletzt zeigte sich eindrücklich, dass die Perspektive verschiedener Fachwissenschaften bei der Entwicklung kulturwissenschaftlicher Konzepte unerlässlich ist. Daneben erwies sich die Tagungsstruktur, die ausdrücklich auf den Dialog zwischen wissenschaftlichem Nachwuchs und erfahrenen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zielte, als für beide Seiten überaus gewinnbringend.

Die einzelnen Beiträge, die sich dem Tagungsthema „Orte - Ordnungen - Oszillationen. Raumerschaffung durch Wissen und räumliche Struktur von Wissen“ auf durchaus vielfältige Weise sowie vor dem Hintergrund zahlreicher Fachwissenschaften näherten, werden in einem Sammelband in der Publikationsreihe des HKFZ „Trierer Beiträge zu den historischen Kulturwissenschaften“ veröffentlicht.

Konferenzübersicht:

Martin Przybilski (Universität Trier): Begrüßung

Sektion 1: Verräumlichung des Wissens

Lars Nowak (Universität Trier): Speichern, um zu sehen. Zur Verräumlichung der Zeit in der ballistischen Photographie

Lea Braun (Humboldt-Universität zu Berlin): Auff getan mit seiner hant. Raum, Wissen und Geschlecht im Apollonius von Tyrland Heinrichs von Neustadt

Martin Przybilski, Nikolaus Ruge (Universität Trier): Die Welt als Entwurf von Möglichkeiten. Der Raum des fiktionalen Handelns im sogenannten nachklassischen höfischen Roman

Monika Hanauska (Universität Trier): Wissen - Textraum - Wissensraum: Überlegungen zur Stadthistoriographie im Spätmittelalter

Eva Johach (Universität Trier): Insektengesellschaften als Modell- und Möglichkeitsräume

Kerstin Küster (Technische Universität Dresden): Zwischen Geographie und Ideal. Johann Joachim Winckelmanns Vorstellung von Raum als „Speicherplatz“ von Kultur

Josghun Sirajzade (Universität Trier und Université du Luxembourg): Objektorientierte Datenstrukturen der EDV-philologischen Programmierung

Sektion 2: Umordnung und Oszillation von Wissen im Raum

Richard Engl (Universität Trier): Historiographie als Wissensspeicher in der städtischen Erinnerungstopographie. Die Kommune Pisa im 12. Jahrhundert

Petra Kurz (Universität Trier): Wissensraum Frauenkloster: Die Reformen des 15. Jahrhunderts im Erzstift Trier

Öffentlicher Abendvortrag:

Bernd Schneidmüller (Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg): Kaisertum im Spätmittelalter. Imperiale Ordnung zwischen Glanz und Gewöhnlichkeit

Fortsetzung Sektion 2: Umordnung und Oszillation von Wissen im Raum

Claudia Anna Gräßner (Humboldt-Universität zu Berlin): Oszillation von Raumwissen. Faktographische Darstellung und literarische Transformation antiker Räume in deutschen Reiseberichten des 18. Jahrhunderts

Andreas Grünes (Justus-Liebig-Universität Gießen): Zur Bedeutung von Ordnung und Umordnung für die Wissenskonstituierung am Beispiel der Edition der Chronik des Ghettos Lódz/Litzmannstadt

Sektion 3: Ordnung des Wissens als Mittel der Handlungsorientierung

Hauke Horn (Universität Mainz): Des Kaisers kostbarer Marmor. Der Chor des Magdeburger Doms aus dem 13. Jahrhundert als Ort der Tradierung, Inszenierung und Instrumentalisierung von Wissen

Anna Winkler (Freie Universität Berlin): Bilder 'bedrohlicher Frauen' in Argentinien im Kontext der kulturellen Globalisierung 1880-1930

Thomas Jäger (Universität Trier): Der Wissensraum Buch in der zeitgenössischen Fantasyliteratur

Contact (announcement)

Theresia Biehl
Historisch-Kulturwissenschaftliches Forschungszentrum (HKFZ) Trier
Universität Trier
E-Mail: bieh2201@uni-trier.de


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Published on
11.03.2010
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German
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