Orientexpress mit Rückfahrschein

Orientexpress mit Rückfahrschein

Organizer(s)
Berliner Kolleg für Vergleichende Geschichte Europas
Location
Berlin
Country
Germany
From - Until
03.04.2009 - 04.04.2009
Conf. Website
By
Nicole Münnich, Berlin

Der Orientexpress, jener durch Agatha Christie ins kulturelle Gedächtnis eingegangene Luxuszug zwischen Paris und Istanbul, ist Sinnbild eines diachronen Transfers von Erfahrungen in beide Richtungen. Doch je einfacher und schneller die Überwindung jener Räume gelang, desto mühsamer schien sich die Überbrückung unterschiedlicher kultureller und religiöser Orientierungen zu vollziehen. Es verstetigte sich ein Bild, in dem klar umrissene Gegensätze dominieren: der „Westen“ auf der einen und der „Orient“, bzw. der Islam auf der anderen Seite. Hinter diesem Bedürfnis nach Eindeutigkeit ist die komplexe europäische Beziehungsgeschichte mit orientalischen, islamischen Gesellschaften verschwunden.

„Orientexpress mit Rückfahrschein“ – unter diesem Titel befasste sich am 3. und 4. April 2009 eine Tagung des Berliner Kollegs für Vergleichende Geschichte Europas (BKVGE) an der Freien Universität Berlin mit „Islam und Orient in Europa im 19. und 20. Jahrhundert“. Im Rahmen der Konferenz, die vom Stipendienfonds E.ON Ruhrgas und der Marga und Kurt Möllgaard Stiftung im Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft gefördert wurde, setzten sich Historiker, Soziologen und Anthropologen mit der Präsenz des Orients in Europa, mit Formen des Austauschs, der Kontakte und der Abgrenzung mit und vom übrigen Europa in historischer Perspektive auseinander. Die Tagung führte Forschungen zu geografisch weit entfernten Regionen – Zentralasien (Kirgistan, Uzbekistan) über Russland, das Osmanische Reich bis nach Norwegen – und unterschiedliche historische Kontexte – vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart – zusammen. Eine solche Herangehensweise trägt stets das Risiko in sich, dass das Vergleichsmoment abhanden kommt und die einzelnen Vorträge unverbunden nebeneinander stehen. Demgegenüber kristallisierte sich auf dieser Veranstaltung ein Aspekt heraus, der sowohl die betrachteten Zeiträume als auch die Orte miteinander verband: Der Islam, seit langem ein Aspekt des europäischen Lebens, wurde in allen Vorträgen und Diskussionsbeiträgen weniger als religiöses, sondern vielmehr als soziales Phänomen interpretiert. Immer wieder wurde der Islam deshalb während der Tagung an den jeweiligen gesellschaftlichen Zusammenhang zurückgebunden.

Bevor sich die Konferenz den konkreten gesellschaftlichen Erfahrungen zuwandte, ging es in einem ersten Panel darum, die keinesfalls widerspruchsfreien, zumeist interessengeleiteten Bilder von „dem Orient“ im Europa des ausgehenden 19. Jahrhunderts aufzudecken. NENAD STEFANOV (Berlin) veranschaulichte die Vorstellungen, Imaginationen und Projektionen von „Orient“ anhand der Reiseberichte eines Belgrader Beamten, der nach dem serbisch-türkischen Krieg von 1878 die neu an Serbien gefallenen Gebiete bereiste. Sreten L. Popović, der sich als Entdecker einer neuen Welt verstand, war ernüchtert, als er das „neue“ Land betrat und feststellte, dass dort die Städterinnen in orientalischen Gewändern durch die Stadt flanierten. Für Popović war die Pluderhose Symbol der türkischen Rückständigkeit, und so forderte er, die serbischen Städterinnen sollten sich europäisieren – allerdings ohne ihre nationale Identität preiszugeben. Daran zeigte Nenad Stefanov das Ambivalente in der nationalen Konzeption von Moderne gegenüber einer universellen Vorstellung von Fortschritt. Alle Momente gesellschaftlicher Erfahrung, die nicht mit den Vorstellungen einer neuen Ordnung vereinbar schienen, wurden als „orientalisch“ denunziert. Rückständigkeit und Heterogenität/Fremdheit wurden mit dem Orient identifiziert. Das Streben nach Homogenität materialisierte sich auf grausame Weise auch in gewaltsamen Vertreibungen zwischen 1878 und 1918, die insbesondere die muslimische Bevölkerung trafen.

CHRISTIAN MARCHETTI (Tübingen) beschrieb die Wahrnehmung des „Orients“ im 19. Jahrhundert aus der Sicht österreichischer Volkskundler, die eine „mentale Kartierung“ des europäischen Südostens vornahmen. Bereits Anfang des 19. Jahrhunderts hatte sich das Reisen unter dem Bildungsaspekt weit verbreitet. Der Reisende verließ das gewohnte Umfeld, um sich der Erfahrung des Fremden auszuliefern. Die Fremde war Erkenntnis- und Sehnsuchtsobjekt gleichermaßen. Dieses Fernweh hatte dazu geführt, dass Afrika im Habsburger Reich des 19. Jahrhundert deutlich präsenter war als die geographisch nahegelegenen habsburgischen Gebiete im Südosten Europas. Die Volkskundler waren Ende des 19. Jahrhunderts die ersten, die sich für den Südosten zu interessieren begannen. Die museale Präsentation ihrer Reisen betonte zunächst die friedlichen Aspekte des Zusammenlebens. Allerdings finde sich in den Schriften der Volkskundler oft die implizite Grundannahme, das Eigene sei die Krönung der Entwicklung der Menschheit. Spätestens mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges wurde das Interesse der Volkskundler instrumentalisiert. Die Geisteswissenschaftler, Volkskundler und Kunsthistoriker, die nun zur Expedition nach Bosnien aufbrachen, trugen Uniformen, waren bewaffnet und hatten den Auftrag, Bevölkerungsverschiebungen, Stammesverhältnisse und entwicklungsfähige Hausindustrien für die spätere Beherrschung der Gebiete zu erfassen. Marchetti machte mit seinem Vortrag deutlich, dass Bosnien als „Tor zum Orient“ aus Sicht der nach Südosten expandierenden Habsburger oft auch als „Musterkolonie“ beschrieben wurde. Daran anknüpfend schlug CARL BETHKE (Leipzig), der die erste Sektion fachkundig leitete, vor, postkoloniale Theoriebildung auf das Habsburger Reich anzuwenden und nach der Erfahrung von Fremdheit in einem solchen Imperium zu fragen. Wie das von Nenad Stefanov ausgeführte Beispiel des serbischen Kassationsrichters Sreten Popović zeigte, manifestierte sich „Fremdheit“ nicht allein entlang der religiösen Grenzlinien. Auch die österreichischen Volkskundler waren nicht am Islam als Religion interessiert; ihnen ging es vornehmlich um die Erfahrung des „Orients“.

HANNES GRANDITS (Graz/München) wandte sich in seinem Beitrag den Modernisierungsbestrebungen (Tanzimat-Reformen) in der Spätphase des Osmanischen Reiches und deren Auswirkungen auf die südosteuropäischen Gesellschaften zu. Das Osmanische Reich hatte unter Sultan Mahmut II. in den 1820er-Jahren einen Anlauf zu mehr staatsbürgerlicher Gleichheit unternommen, da sich die Auffassung durchgesetzt hatte, dass nur eine radikale Umgestaltung nach europäischem Vorbild den Staat würde retten können. In den südosteuropäischen Gesellschaften war mit zum Teil radikalen Maßnahmen versucht worden, die verordnete Modernisierung und Europäisierung durchzusetzen. Doch die chronische Finanzschwäche des Reiches, die mangelnde infrastrukturelle Gestaltungskapazität, der Steuerdruck auf die ländliche Bevölkerung und die Sorge der lokalen Machteliten um ihre Pfründe führten zu sozialen Konflikten und einer Eskalation der Gewalt. In dieser Situation, so Hannes Grandits, sei es zu einer Rekonfessionalisierung gekommen. Der soziale Konflikt war es also, der die Menschen zum Bekenntnis zwang. Es ging um die Mobilisierung der oft mehrsprachigen Bevölkerung, sich zuzuordnen – zu einer Religion und damit zu einer Nationalität.

Anschließend legte EVA FRANTZ (Wien) die Erfahrungen von Gewalt und Ausgrenzung am Beispiel des spätosmanischen Kosovo dar. Auch sie betonte, dass die Tanzimat-Reformen in ganz Südosteuropa zu einer Zunahme von Gewalt geführt hatten. Die muslimische Elite sei gegen die vom Sultan avisierte Gleichberechtigung der Christen gewesen – aus Angst vor dem Verlust von Privilegien. Die zunehmende Gewalt von muslimischen Gruppen gegen Christen sei somit in erster Linie als sozialer Konflikt zu fassen. Inwieweit auch ethnische Gesichtspunkte eine Rolle gespielt haben, sei schwer zu sagen. Zumindest habe sich die zunehmende Gewalt spürbar auf das Zusammenleben der Bevölkerungsgruppen ausgewirkt. Waren die Beziehungen christlicher und muslimischer Bevölkerung zuvor gut und freundschaftlich gewesen, wuchs nun die Konkurrenz um soziale Stellung und wirtschaftliche Ressourcen. Eva Frantz bestätigte die Beobachtungen von Hannes Grandits, indem auch sie von einer Rekonfessionalisierung und von religiöser Abgrenzung durch Gewalt sprach.

In der Diskussion der Vorträge von Hannes Grandits und Eva Frantz stand vor allem die Frage im Vordergrund, ob man von einer strukturellen oder einer krisenhaften Gewalt in Südosteuropa auszugehen habe. Eva Frantz stellte klar, dass der Balkan hinsichtlich der Gewalthaftigkeit für sie keine Ausnahme darstelle; er könne nicht allgemein als gewaltträchtiger Raum gelten. Gewalt habe regulierende Funktion gehabt in jenem Gebiet, in dem das staatliche Gewaltmonopol nur schwach ausgeprägt gewesen war. Vor allem sei nicht das Ethnische ausschlaggebend für die Gewalt gewesen, sondern die gesellschaftliche Umstrukturierung habe soziale Konflikte und Gewalt evoziert und somit den Menschen eine ethnische Zuordnung abgefordert. Ähnlich argumentierte auch Hannes Grandits, der davon sprach, dass Gewalt durchaus als Instrument genutzt worden sei, um die Gesellschaft zuerst zu destabilisieren, um sie anschließend nationalisieren zu können. Markus Koller hingegen warnte vor einem Vergleichen von Gewalt: Die Gefahr sei groß, dass man Modernisierungstheorien aufsitze, die implizit davon ausgingen, dass traditionale Gesellschaften gewaltsamer seien.

Als ein erstes Ergebnis der Tagung wurde festgehalten, dass es in dieser Phase von der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zu den Balkankriegen (1912/13) in Südosteuropa zu Rekonfessionalisierungsschüben nach gesellschaftlichen Krisen gekommen war. Im Zuge dieser Transformation verschwanden bis dahin vorherrschende Formen von Loyalität jenseits ethnischer und religiöser Zugehörigkeit.

MARKUS KOLLER (Giessen) stellte anschließend ein neues Forschungsprojekt vor, in dem eine Provinz des Osmanischen Reiches in der Zeit der Tanzimat-Reformen (Donau-Vilayet) mit einer russischen Provinz (Generalgouvernement Turkistan) verglichen werden soll. Damit war ein thematisches Scharnier zu jenen Beiträgen geschaffen, die den Islam in Russland behandelten. In beiden Provinzen hatten sich staatsferne Eliten bemüht, ihre Privilegien zu bewahren und auszubauen, während die jeweiligen Imperien versucht hatten, ihre Modernisierungspolitik durchzusetzen – jeweils einhergehend mit einer „Osmanisierung“ bzw. „Russifizierung“. Im Fall des Osmanischen Reiches hatte der Staat durch die Osmanisierungspolitik versucht, innere Stabilität zu schaffen, während er außenpolitisch immer mehr zum Spielball wurde. Die Russifizierungspolitik hingegen war eine Reaktion des Russischen Reich darauf, dass es immer stärker ins Fahrwasser der Nationalbewegungen zu geraten drohte. Sowohl das Osmanische als auch das Russische Reich bemühten sich in dieser Zeit, eine imperiale Identität zu generieren. Dabei war auf der einen Seite das identitätsstiftende Objekt die Dynastie (Osmananisches Reich); auf der anderen Seite sollte eine Identifikation über Sprache und Kultur (Russisches Reich) erzielt werden. Die Umsetzung dieser imperialen Modernisierungsansätze in staatsfernen Regionen und die Einflüsse der regionalen Eliten auf diesen Prozess zu untersuchen und zu vergleichen, ist Ziel des von Markus Koller vorgestellten Projekts. In der Diskussion wurde der Referent in seinem Vorhaben bestärkt, da im Moment noch zu wenig Wissen über die lokalen Diskurse in den staatsfernen Regionen vorhanden sei.

CHRISTIAN NOACK (Kildare) stellte ein Forschungsprojekt vor, in dem er und seine Mitarbeiter sich ebenfalls mit den gesellschaftlichen Veränderungen in Umbruchzeiten auseinandersetzen, nämlich mit dem Wandel ländlicher Gemeinden in muslimischen Regionen der (Ex-)UdSSR zwischen 1960 und 2010. Er berichtete, dass im zentralrussischen Gebiet von Penza, das kein originär islamisches Gebiet sei, seit einigen Jahren die Entstehung von sich autonomisierenden und sich radikalisierenden Gemeinden beobachtet werde. Dabei habe Russland eine lange Geschichte der Kohabitation; der Islam wird hier zu den vier indigenen geschützten Religionen gezählt. So war in dem untersuchten Dorf nahe Penza während der gesamten Sowjetzeit immer eine Moschee geöffnet. Der nun auftretende Prozess der islamischen Radikalisierung habe, so Noack, weniger mit religiösen Strukturen zu tun als vielmehr mit einer gesellschaftlichen Polarisierung. In der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre hatten in der arabischen Welt ausgebildete Imame neue Gemeinden innerhalb des Dorfes gegründet. Diese Imame stießen vor allem bei wirtschaftlich erfolgreichen jungen Leuten auf nachhaltige Resonanz. Da der finanzielle Unterhalt einer Moschee stark von der Gemeinschaft abhängt, kam es nicht nur zum Konflikt um die religiösen Strukturen, sondern auch zu einer Konkurrenz um Ressourcen. In dem Projekt soll erforscht werden, inwiefern die Veränderungen der Wirtschaftspolitik in der spätsowjetischen Phase die spezifischen Formen der islamischen „Wiedergeburt“ mitgeprägt haben, und welche Bedeutung politische, sozioökonomische und kulturelle Faktoren für die Ausprägung der heutigen Gestalt muslimischer Gemeinden haben. In der Diskussion erinnerte Nenad Stefanov an den Begriff von Detlev Claussen, der von der „missglückten Säkularisierung“ gesprochen hatte. Die Sowjetunion habe sich der absoluten Säkularisierung verschrieben und quasi das Gegenteil produziert. Bülent Kücük bekräftigte, dass der Fokus des Projekts auf ländliche Gebiete wichtig für das Verstehen dieser Prozesse sei, da man jene radikalen neue Gemeinden fast ausschließlich im ländlichen Raum vorfinde.

In seinem Vortrag untersuchte BÜLENT KÜCÜK (Istanbul) die Wahrnehmung und Repräsentation Europas in der türkischen medialen Öffentlichkeit im Kontext der Europäisierung der vergangenen zehn Jahre. Von der kemalistisch-nationalistischen Allianz sei Europa als doppelgesichtig dargestellt worden; einerseits locke Europa, andererseits halte Europa die Türkei auf Abstand. Dadurch sehe die kemalistisch-nationalistische Allianz die Einheit des türkischen Staates bedroht. Dieses negative Bild von Europa, so Kücük, externalisiere die internen Konflikte und Antagonismen. Der pro-europäische pragmatische Diskurs der AKP dagegen habe sich die negativen Repräsentationen angeeignet, die zuvor von den kemalistischen Eliten etabliert wurden, und kehre sie ins Positive. Jener pragmatische islamistische Diskurs benutze dabei seit 2002 den Begriff „Europa“ als eine Metapher für mehr Demokratie, Pluralismus, Religionsfreiheit und Dezentralisierung. Die Türkei werde darin als „Brücke zwischen beiden Zivilisationen“ präsentiert. „Der Westen“ sei einerseits Ziel und werde andererseits als Bedrohung empfunden. Bei aller Ambivalenz jedoch stehe fest: „Europa“ sei stets ein wichtiger Bezugspunkt. Der moderne türkische Diskurs, der sich in einem dialogischen Prozess mit den europäischen Diskursen formiere und sich den Blick des Anderen zueigen mache, könne daher als „Okzidentalismus“ bezeichnet werden.

In der Diskussion merkte Christian Noack an, dass es in der Selbstwahrnehmung bzw. in der Suche nach Selbstverortung zwischen „West“ und „Ost“ viele Parallelen zur Entwicklung in Russland gebe. Kücük plädierte dafür, dass man sich in diesen Gesellschaften von dem Wahrnehmungsmotiv der missglückten Modernisierung angesichts der europäischen Modernität befreien müsse.

Ein interessantes Fallbeispiel stellte anschließend STEFAN KIRMSE (Berlin) vor, der sich in ethnographischen Studien mit den multiplen muslimischen Identitäten unter Jugendlichen im post-sowjetischen Südkirgistan befasst hat. Auch in Südkirgistan spiele „Europa“ eine wichtige Rolle – sowohl hinsichtlich des Lebensstils als auch im Hinblick auf die Diskurse. Jugendliche werden via Massenmedien, aber auch durch westliche Nichtregierungsorganisationen und christliche Missionare auf vielfältige Weise mit „Europa“ konfrontiert. Die Reaktionen darauf reichten von Nacheifern über Aneignen bis zu Ablehnung. Die Komplexität und Spezifik des täglichen Lebens im post-sowjetischen Raum reflektiere sich am besten im Bild vom „Marketplace for Styles and Identities“. „Europa“ werde als „irgendwie anders“ wahrgenommen. Diskursiv entstehe oft eine Dichotomie zwischen „muslimisch“ und „europäisch“ – im gelebten Alltag allerdings kommen verschiedene Konzepte zusammen, und die Grenzen verschwimmen.

Im letzten Vortrag der Konferenz stellte CHRISTINE M. JACOBSEN (Oslo) die Wahrnehmung und Selbstverortung von Muslimen in der norwegischen Gesellschaft vor, die in einem langen Prozess von „Immigranten“ zu „Bürgern“ geworden waren. Muslimische Einwanderer waren in den 1960er-Jahren als Gastarbeiter vornehmlich aus Pakistan und in den 1990er-Jahren als Flüchtlinge aus Bosnien nach Norwegen gekommen. Heute machen „Muslime“ etwa 2,5 Prozent der Einwohner aus. In den 1960er-Jahren habe sich, so Jacobsen, die politische Debatte auf die sozialen Aspekte der Migration konzentriert. Zwei Jahrzehnte später, in den 1980er-Jahren, sei es zu einer Akzentverlagerung hin zu kulturellen Aspekten gekommen. Ende der 1980er-Jahre sei schließlich zu beobachten gewesen, dass zunehmend von „wir“ und „sie“ die Rede gewesen sei. Aus den „Gastarbeitern“ waren in der Wahrnehmung der norwegischen Gesellschaft „Muslime“ geworden. Mit den Attentaten vom 11. September 2001 und der Angst vor Radikalisierung sei die Loyalität der Muslime gegenüber der norwegischen Gesellschaft immer wichtiger geworden. Um dies zu erreichen, habe die Regierung versucht, die Immigranten in Staatsbürger zu transformieren. Inzwischen verstehe sich die zweite Generation als Teil der norwegischen Gesellschaft und beanspruche ihren Platz in der Gesellschaft. Interessant an diesem Fallbeispiel, so Nenad Stefanov, sei vor allem, dass aus den Migranten zunächst hatten Muslime werden müssen, bevor sie zu Staatsbürgern werden konnten.

In der Abschlussdiskussion kristallisierte sich mehr und mehr heraus, dass der Terminus „Islam“ stets zu hinterfragen ist, weil er oft als Label verwendet wird, das innere Entwicklungen, Widersprüche und Ambivalenzen überdeckt. Die Tagung hat gezeigt, wie produktiv dieses Hinterfragen sein kann. Während der Konferenz war aufgezeigt worden, wie sich im Laufe der Zeit Wahrnehmungen und Vorstellungen sowohl von „Europa“ als auch von „Islam“ immer wieder verändert hatten. Dies führte zu der Erkenntnis, dass es nicht „den Islam“ geben könne, sondern dass „Islam“ immer wieder rückgebunden sei an Gesellschaft. So konnte die Antwort auf die Frage, ob es einen europäischen Islam gebe, mit dem Hinweis von Hannes Grandits beantwortet werden, dass der Islam seit langem ein Aspekt der europäischen Gesellschaft und tief darin verankert sei. Eine Dichotomie „Europa“ − „Islam“ gebe es nicht. Die Beiträge zu dieser Konferenz haben diese Einsicht wiederholt bestätigt.

Konferenzübersicht:

Panel 1
Chair: Carl Bethke, Leipzig

Nenad Stefanov, Berlin:
Erkundungen des europäischen Orients. Projektion und Verdrängung

Christian Marchetti, Tübingen
„Wiener Balkanexpeditionen“ − die volkskundliche Eroberung des Südostens durch österreichisch-ungarische Forscher

Panel 2
Chair: Nenad Stefanov, Berlin

Hannes Grandits, Graz/München:
Neuausrichtung gesellschaftlicher Zugehörigkeiten im spät- und postosmanischen Südosteuropa des 19. Jahrhunderts

Eva Frantz, Wien:
Erfahrungen von Gewalt und Ausgrenzung als identitätsstiftende Elemente in Südosteuropa: Serbien und die Muslime im spätosmanischen Kosovo

Dinner-Vortrag
Steffen Bruendel, Stipendienfonds E.ON Ruhrgas
Wissenschaftsförderung in der Wirtschaft

Panel 3:
Chair: Christian Teichmann, Berlin

Markus Koller, Gießen:
Säkularisierung im Kontext imperialer Integrationspolitik: Südosteuropa und Zentralasien im Vergleich in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts

Christian Noack, Kildare:
The kolkhozes of Allah. Transforming Rural Islamic Communities in the ex-USSR

Panel 4:
Chair: Rozita Dimova, Berlin

Bülent Kücük, Istanbul:
Brücke oder Grenze: Orient-Okzident Repräsentationen in der türkischen medialen Öffentlichkeit im Kontext der Europäisierung

Stefan Kirmse, Berlin:
Post-Soviet Muslims: Multi-Dimensional Identities

Christine M. Jacobsen, Oslo:
The production of “Norwegian Muslims”: from immigrants to citizens?