‚Gerontokraten‘ oder ‚Helden des Rückzugs‘? Die kommunistischen Parteiführungen Mittel- und Osteuropas 1989

‚Gerontokraten‘ oder ‚Helden des Rückzugs‘? Die kommunistischen Parteiführungen Mittel- und Osteuropas 1989

Organizer(s)
Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO) an der Universität Leipzig, Polnisches Institut Leipzig, Moldova Institut Leipzig
Location
Leipzig
Country
Germany
From - Until
05.02.2009 - 06.02.2009
Conf. Website
By
Jenny Alwart, Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO); Susan Baumgartl, Universität Leipzig

Als sich im Herbst 1989 überraschend die Grenzen zwischen Ost und West öffneten, bekamen die politischen Veränderungsprozesse in den Ländern des sowjetischen Einflussbereichs eine dramatische Eigendynamik. Alte und neue politische Kräfte konkurrierten um Macht und Gestaltungsspielräume in zunehmend fragilen Staatssystemen, deren gemeinsamer Stabilitätsgarant, die Sowjetunion, durch eine multikausale Verkettung von Entscheidungen und Ereignissen allmählich auseinanderbrach. Die politischen Führungen der ehemaligen Satellitenstaaten waren auf sehr unterschiedliche Weise an den Transformationsprozessen 1989/90 beteiligt. Um ihre Rolle und Gestaltungsmöglichkeiten im Übergang vom Staatssozialismus in post-sozialistische Gesellschaften kritisch zu hinterfragen, fand vom 5. bis 6. Februar 2009 in Leipzig ein internationales Symposium mit renommierten Zeithistorikern und Zeitzeugen aus Kreisen der ehemaligen Nomenklatura statt. Unter dem Titel „‚Gerontokraten‘ oder ‚Helden des Rückzugs‘? Die kommunistischen Parteiführungen Mittel- und Osteuropas 1989“ zielte die Veranstaltung im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig auf eine kritische Betrachtung des Verhältnisses staatlicher Führungseliten zur Zentrale in Moskau und der sozialistischen Staatengemeinschaft sowie zu den Oppositionsbewegungen im eigenen Land. Zum Dialog und zur selbstreflexiven Auseinandersetzung mit den revolutionären Entwicklungen 1989/90 hatten die Organisatoren des Geisteswissenschaftlichen Zentrums Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO) an der Universität Leipzig, des Polnischen Instituts Leipzig und des Moldova Instituts Leipzig vier ehemalige Parteifunktionäre aus Bulgarien, der DDR, Moldova und Polen geladen. Mit einem Blick hinter die Kulissen im internationalen Zusammenhang steht das Symposium am Beginn einer Reihe von Veranstaltungen vor Ort, die sich mit dem Schlüsseljahr 1989 beschäftigen.

Ausgangspunkt der Begegnung zwischen Wissenschaftlern und Zeitzeugen bildete die Annahme, der Abstand von zwanzig Jahren ermögliche eine differenzierende Sicht auf Politik und Personal der Umbruchszeit. Im Vordergrund der kritischen Betrachtung stand dabei die Rolle der Parteispitzen bei der politischen Gestaltung des Übergangs von staatssozialistischen zu post-sozialistischen Gesellschaften, zum anderen ihre Bereitschaft, die Veränderungsprozesse gewaltsam zu verhindern oder in friedliche Bahnen zu lenken. Diese doppelte Differenzierung der Sichtweisen, so STEFAN TROEBST (GWZO) in seiner Einführung, sollte bereits im Titel anklingen. Kann in der historischen Rückschau auf Staatsführungen und politische Handlungsspielräume in der Zeit 1989/90 von einer realitätsfernen Greisenherrschaft gesprochen werden, von unbeirrt an ihrem Machtanspruch festhaltenden „Gerontokraten“ oder handelt es sich um jene Enzensbergerschen „Helden des Rückzugs“, die als verantwortungsbewusste Politiker Veränderungen auf friedlichem Wege zulassen?1

Im Eröffnungsvortrag „Die Kommunistische Partei der Sowjetunion und der Umbruch in Mittel- und Osteuropa 1989“ ging MARIANA HAUSLEITNER (Deutsche Hochschule der Polizei, Münster) auf die sowjetischen Reformbemühungen bis zum Sommer 1989 und die darausfolgenden Entwicklungen in den östlichen Ländern ein. Sie zeichnete die Veränderungen in der UdSSR unter Michail Gorbačev nach, dessen Politik von Perestrojka und Glasnost neben den Versuchen einer Modernisierung des Wirtschaftssystems auch zur allmählichen Öffnung anderer Bereiche wie Wissenschaft und Presse sowie zur Abkehr vom außenpolitischen Konfrontationskurs mit den USA führte. Der gesellschaftliche und politische Umbruch innerhalb der UdSSR sowie die Anzeichen einer militärischen Entspannung wirkten auch in die sozialistischen Republiken des sowjetischen Machtbereichs. Oppositionelle Gruppen und Volksfronten, an denen sowohl Vertreter der Partei als auch Nicht-Parteimitglieder teilhatten, griffen die Reformideen auf und stellten ihrerseits Forderungen nach einer dezentralisierten Wirtschaft und größerer Eigenbestimmung. Gorbačevs Abkehr von der Brežnev-Doktrin und der enorme Veränderungsdruck führten zur Tolerierung unterschiedlicher Formen des Sozialismus und letztlich zu einer dynamischen Entwicklung, die weder abzusehen, noch aufzuhalten war. Während die Reformen in Ungarn und Polen den anvisierten Rahmen sprengten, so Hausleitner, führte die Blockadehaltung der Staatsführungen in der DDR, der ČSSR, Bulgarien und Rumänien zu entsprechenden Krisensituationen, die erst ab Herbst 1989 nicht mehr steuerbar waren. Eine Neuformierung der Sowjetunion sei an der unterschiedlichen Geschwindigkeit der Reformen in den einzelnen Randrepubliken gescheitert, konstatierte Hausleitner abschließend. Der Zerfall der UdSSR und der Umbruch in Ost- und Ostmitteleuropa seien als „nicht-intendierte Folgen“ der Reformpolitik Gorbačevs zu bewerten.

Befragt nach etwaigen Lernprozessen der sowjetischen Führung angesichts der Situation in Polen Anfang der 1980er, erklärte die Referentin in der anschließenden Diskussion, der Kreml habe sich kaum positiv mit den polnischen Forderungen auseinandergesetzt. Mitarbeiter der Akademie-Institute seien zwar über Solidarność-Positionen informiert gewesen, besaßen aber keine Publikationsmöglichkeiten, so dass man von einer eher verhaltenen Auseinandersetzung sprechen müsse. Auf die Frage nach der Existenz zwischenstaatlicher Kontakte von reformfreundlichen oder -feindlichen Kräften, verwies sie auf Querverbindungen bei bürgerschaftlichen Reformkräften wie im Fall der Charta 77; auf Parteiebene bestand jedoch kaum ein Austausch zwischen den einzelnen Republiken.

Der erste Teil der Zeitzeugengespräche widmete sich der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) in der DDR. Der als vorsichtiger Reformer vorgestellte HANS MODROW, Mitglied des Politbüros der SED und von November 1989 bis März 1990 Vorsitzender des Ministerrates der DDR, bekräftigte im Gespräch mit RAINER ECKERT (Zeitgeschichtliches Forum Leipzig) seine Einschätzung, der SED-Führung, aber auch den Parteispitzen anderer Ostblockstaaten, sei die Umbruchsituation im Sommer 1989 nicht bewusst gewesen. Auch er habe trotz der Grenzöffnung bis Januar 1990 mit der Eigenständigkeit und Reformierbarkeit der DDR gerechnet. Die Entwicklungen seien nicht überschaubar, der Komplexität der anstehenden Aufgaben nur schwer beizukommen gewesen. Auch seine Anweisungen für den Polizeieinsatz am 4. Oktober 1989 in Dresden, als vier überfüllte Züge mit DDR-Flüchtlingen aus Prag durch den Hauptbahnhof rollten, habe er im Rahmen der Möglichkeiten getroffen. Im Gegensatz zur Entscheidung Honeckers, hätte er eine Streckenführung über DDR-Gebiet nicht zugelassen. Die Verantwortung dafür liege bei der Staatsführung.

Angesprochen auf das Fehlen von Reformkräften innerhalb der Staatspartei verwies Modrow auf die Schwierigkeiten, Veränderungen durchzusetzen. Auch Gorbačevs Reformen seien schon zu spät gekommen. In der kurzen Zeit seiner Regierung habe man dann mehr Reformen verabschiedet als in der gesamten Geschichte der DDR. Auf die Anmerkung Eckerts über die Unfähigkeit parteiinterner Reformgruppen, ihre Konzepte öffentlich zu machen oder auf die Bürgerbewegung zuzugehen, erwiderte Modrow, es habe keine Annäherung der verschiedenen politischen Kräfte gegeben, da auch die oppositionellen Gruppen nicht auf die Partei zugegangen seien. Modrow selbst sah seine Rolle als Ministerpräsident vor allem darin, einen „geordneten Wandel“ herbeizuführen.

In der zweiten Sektion berichtete PETRU LUCINSCHI, 1989 Sekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Parteien der Sowjetrepubliken Tadschikistan und Moldova sowie enger Berater Michail Gorbačevs, vom Transformationsprozess in Moldova. Sein Gesprächspartner, der Politikwissenschaftler Valeriu Moşneaga (Staatliche Universität Chişinău), konstatierte, die Nationalbewegung Moldovas sei um mehrere Monate hinter den Prozessen in Moskau zurückgeblieben. Lucinschi bestätigte im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Zentrum und den Republiken, dass nötige Reformen nicht rechtzeitig eingeleitet worden seien. Gründe für den Zerfall der Sowjetunion sah er in der starken Zentralisierung der Macht sowie den Versuchen Moskaus, die Umgestaltung der „sowjetischen Nation“ zu beschleunigen, was auf erheblichen Widerstand in den Republiken gestoßen sei. Zudem habe die Partei versäumt, den inneren Problemen der Gesellschaft zu begegnen. Mit einer gesellschaftlichen Transformation auf „dogmatischer Ebene“, so Lucinschi, würde die Sowjetunion bis heute fortbestehen. Das Ende der Sowjetunion habe für ihn erst beim Putsch gegen Gorbačev im August 1991 in Moskau festgestanden. Informationen über die Entwicklungen in Polen und Rumänien seien in Moldova vor allem über Botschafter, aber auch über die sowjetische Parteiführung und den Geheimdienst vermittelt worden.

Im dritten Gespräch gab ALEKSANDĂR LILOV, 1989 Generalsekretär der Bulgarischen Kommunistischen Partei (BKP), seine Einschätzung der politischen Kräfte in der Umbruchzeit 1989 und danach. Die seit 1988 entstehenden Oppositionsgruppen wurden dabei nicht in den Blick genommen, da sie, wie die Historikerin ISKRA BAEVA (Hl. Kliment Ochridski-Universität Sofija) in der Einführung feststellte, keine Rolle im Transformationsprozess spielten. So rekapitulierte Lilov die Veränderungen innerhalb der KP-Führung von der Absetzung Todor Živkovs im November 1989 über die innerparteilichen Konflikte und die Umbenennung in Bulgarische Sozialistische Partei (BSP) im April 1990 bis zu den Wahlen 1990 und 1991. Mit dem Zusammenbruch des RGW (Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe) und aufgrund der fehlenden Unterstützung aus Moskau sei klar gewesen, dass der „Sozialismus sowjetischen Typs“ nicht mehr haltbar sei. Am Runden Tisch sei ein eigenes bulgarisches Konzept entwickelt worden, das einen zivilisierten Übergang und politischen Frieden ermöglichte. Lilov hob dabei das erfolgreiche Handeln der eigenen Partei auf dem Weg zu einem demokratischen Sozialismus und zu einer neuen Verfassung hervor. Entgegen aller Kritik sehe er darin weiterhin die einzige Möglichkeit, einen stabilen Übergang zu schaffen. Lilov zeigte sich als überzeugter Sozialist und betonte, dass der Zusammenbruch der Sowjetunion nicht zwangsläufig das Ende sozialistischer Gesellschaftsmodelle bedeute. Die Partei habe den Sozialismus nicht retten können, aber sich selbst.

Als vierter Zeitzeuge berichtete STANISŁAW CIOSEK, 1989 Mitglied des Politbüros des Zentralkomitees der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PVAP), über die Verhandlungen zwischen Regierung und Opposition in Polen. Dabei hob er die positive Rolle der Partei im Transformationsprozess, vor allem bei den Rund-Tisch-Gesprächen im Frühjahr 1989, hervor. Entgegen aller heutigen Verrats- und Verschwörungstheorien habe die PVAP am Runden Tisch beabsichtigt, die Opposition in die Regierungsarbeit einzubinden, versicherte er. Die Einladung zu Gesprächen sei erfolgt, um ein gewaltsames Aufeinanderstoßen von Solidarność und Staatspartei zu verhindern. Auch die katholische Kirche sollte für die Zusammenarbeit gewonnen werden. Auf die Frage von Moderator DIETER BINGEN (Deutsches Polen-Institut Darmstadt), inwieweit die Partei den Verhandlungsprozess mit den Oppositionsgruppen im Griff hatte, reagierte Ciosek mit einem historischen Exkurs, der die Krisensituation der 1980er Jahre in Polen auf die Nachkriegsordnung und das aufgezwungene politische System zurückführte. 1981 habe einer von mehreren Versuchen stattgefunden, diese Dominanz abzuschütteln. Auf Druck der Sowjetunion sei die Solidarność zwar verdrängt worden, das grundlegende Problem aber habe weiterbestanden. Das System sei am Ende gewesen, der Stagnation musste mit Veränderungen begegnet werden, aber man habe Angst vor einer zu radikalen (kapitalistischen) Neuordnung gehabt. Solidarność erachtete Ciosek dabei nicht als das Hauptproblem, da auch sie über kein Konzept für die Zukunft des Landes verfügt hätte. Die mit der Solidarność geschlossenen Vereinbarungen des Runden Tisches charakterisierte Ciosek als naiv und utopisch, da diese immer noch auf eine sozialistische Staatsform zielten. Die Staatspartei habe die Opposition als Verbündete gewollt, jedoch ohne auf ihr Machtmonopol zu verzichten, wie die Auflagen zu den ersten freien Wahlen zeigen. Die Koalitionsregierung habe dann eine soziale Marktwirtschaft auf den Weg gebracht. Ciosek räumte ein, dass sich die politischen Prozesse letztlich verselbständigten. Am Runden Tisch nahmen immer mehr politische Kräfte teil; die neue Machtelite verständigte sich untereinander. Als einen wirklichen Helden des Übergangs bezeichnete Ciosek General Wojciech Jaruzelski, der entschieden auf die Einberufung des Runden Tisches hingewirkt habe. Innerparteiliche Widerstände habe es dabei kaum gegeben. Im Gegensatz dazu hingen die Handlungsmöglichkeiten in Polen aber wesentlich vom anhaltenden Reformkurs der UdSSR ab, weshalb der Umgestaltungsprozess stets durch einen möglichen Putsch gegen Gorbačev bedroht gewesen sei. Insgesamt habe das Handeln der Staatsführung einen friedlichen Übergang zu neuen politischen Machtverhältnissen ermöglicht, resümierte der ehemalige Funktionär. Das Modell des Runden Tisches funktioniere nur dort, wo es ein oppositionelles Gegenüber gebe und dies sei in Polen aufgrund der geringen staatlichen Repressionsmaßnahmen der Fall gewesen. Rückblickend erachtete er die Demontage des Sozialismus als notwendigen Schritt, um den gesellschaftlichen Frieden in der Umbruchszeit zu erhalten.

In der abschließenden Podiumsdiskussion wurden die Handlungs- und Entscheidungsspielräume der sozialistischen bzw. kommunistischen Parteiführungen in den ostmitteleuropäischen Ländern im Kreis von Zeithistorikern aus Deutschland, Polen und Rumänien diskutiert. Dabei ging es um die Gewalt- und Verhandlungsbereitschaft der Staatsmächte in der Umbruchsphase 1989/90, die ungleich(zeitig-)en Entwicklungen in den einzelnen Republiken und die Frage nach den Verbindungen zwischen Reformkräften und -gegnern innerhalb der jeweiligen Gesellschaft und zwischen Vertretern verschiedener Länder.

STEFAN TROEBST verwies einleitend darauf, das Jahr 1989 nicht rein „kalendarisch“ zu sehen, da es wichtige Wegmarken für oppositionelle Bewegungen in den einzelnen Staaten auch in den Jahren zuvor und im Jahr danach gebe. Die Diskussion begann mit der Frage nach dem Faktor Gewalt in den einzelnen Republiken, gerade unter dem Eindruck der gewaltsamen Auflösung der Studentenproteste auf dem Platz des himmlischen Friedens in Peking im Sommer 1989. WŁODZIMIERZ BORODZIEJ (Universität Warschau) erläuterte, dass 1989 in Polen Gewalt kaum eine Rolle gespielt habe. Das massive Eingreifen der Staatsmacht erlebten die Polen bereits 1981, als General Wojciech Jaruzelski das Kriegsrechts verhängte, um Streiks und Arbeiterproteste zu beenden sowie den wachsenden Einfluss der Solidarność zu unterbinden, so Borodziej. Da der gesellschaftliche Widerstand nicht zu beseitigen war und die Reformkräfte im Untergrund weiterarbeiteten, könne man auch – als Entgegnung zur Aussage Cioseks, die Regierung habe die Opposition „erzogen“ – sagen, dass sich die polnische Opposition ihre Machthaber ebenfalls erzogen habe. Da die Opposition die Staatsführung 1981 nicht bis zum Äußersten herausforderte, könne im Hinblick auf die Gewaltoptionen auch von einer „selbstbegrenzenden Revolution“ gesprochen werden.
STEFAN APPELIUS (Universität Oldenburg) diagnostizierte für den Fall Bulgariens ein enormes Gewaltpotential. In diesem Zusammenhang verwies er auf das harte Vorgehen der Staatssicherheit gegen die Opposition und auf die 1989 wieder aufflammende Brutalität des Regimes gegenüber den türkischstämmigen Bulgaren. Zum innerparteilichen Putsch gegen Todor Živkov sei es erst gekommen als Moskau grünes Licht gegeben hatte. Ohne den Zerfall des äußeren Bündnis- und Stabilitätsrahmens, so Appelius, hätte Živkov seine Macht durchaus noch längere Zeit erhalten können.

Zu den Handlungsoptionen der DDR-Führung vor dem Hintergrund des Massenexodus’ und der wachsenden Unzufriedenheit in der Bevölkerung bis zum Herbst 1989 äußerte sich ULRICH MÄHLERT (Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, Berlin). Anders als im ungarischen Fall habe die Parteispitze in der DDR noch alle Machtmittel in der Hand gehabt, sie aber nicht gegen die vergleichsweise kleine und gut überwachte Opposition eingesetzt. Eine Erklärung dafür sei zum einen das wirtschaftlichen Dilemma, in dem sich die Regierung seit den 1970ern befand, und der damit verbundenen Abkehr von offener Repression, aufgrund des befürchteten Reputationsverlusts bei den westlichen Kreditgebern. Zum anderen habe die Parteiführung wohl verkannt, wie hoch das kritische Potential in der Bevölkerung zu dieser Zeit tatsächlich war. Die Vielzahl von Protestbewegungen an verschiedenen Orten und die daraus entstehende Dynamik seien aber auch für die Opposition und westliche Beobachter nicht vorhersehbar gewesen. Dass der Umbruch letztlich so friedlich ablief, gab Mählert zu bedenken, möge in der Rückschau leicht als logisch erscheinen, jedoch habe die Bevölkerung zur Zeit der Ereignisse durchaus mit dem Einsatz von Gewalt gerechnet. Am 9. Oktober 1989 sei dann in Leipzig deutlich geworden, dass die bewaffneten Organe nicht eingreifen würden.

BOGDAN MURGESCU (Universität Bukarest) erläuterte den Ausnahmefall Rumänien. Über den Schießbefehl des Staatspräsidenten Nicolae Ceauşescu, infolge dessen 150 Menschen starben, habe es zwar keine förmliche Abstimmung gegeben, aber die gesamte Parteiführung habe ihn mitgetragen. Zu diesem Zeitpunkt sei auch die Anwendung von Gewalt in anderen Ländern für möglich gehalten worden. Wenn 1989/90 in Rumänien überhaupt von „Helden des Rückzugs“ gesprochen werden könne, so Murgescu, dann kämen dafür jene Angehörige des Geheimdienstes Securitate und der Armee in Frage, die sich widersetzten und einen Machtwechsel einleiteten.

Auf die Frage nach den Unterschieden der Entwicklungen in den einzelnen Staaten und der Kommunikation zwischen Moskau und den Republiken einerseits sowie den Reform- und widerständigen Kräften innerhalb der Gesellschaften andererseits erklärte Stefan Appelius, dass es in der KP-Führung Bulgariens kaum kritische Stimmen gegeben habe. Kontakte zu Parteien anderer sozialistischer Länder bestanden kaum. Der Zusammenbruch der Sowjetunion sei auch vom Geheimdienst, der in engem Austausch mit der Staatssicherheit der DDR stand, nicht erwartet worden. Als Beispiel nannte er das Erstaunen Živkovs angesichts der „Untergangsstimmung“, die er während seines Besuchs in Ost-Berlin anlässlich der Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der DDR wahrgenommen hatte und die ihn auch am Bestand des bulgarischen Systems habe zweifeln lassen.

Bogdan Murgescu bestätigte, dass es Verbindungen zwischen den Parteiführungen Rumäniens, Polens und der DDR gab. Interessant sei die Intensivierung der Kontakte zu Moskau in den 1980ern. Die Elite im traditionell eher russlandkritischen Bukarest habe in Gorbačev einen Hoffnungsträger gesehen und sich zunehmend von Ceauşescu abgewandt.

Włodzimierz Borodziej äußerte zum Verhältnis der DDR-Führung und Polen, die SED sei 1981 noch beunruhigt über die Ereignisse in Polen gewesen, habe sich Ende der 1980er aber auf den „komischen Nachbarn“, der im Grunde nicht weiter störe, eingestellt. 1989 habe es dann so gut wie keine wesentlichen Kontakte der Parteifunktionäre beider Länder gegeben. Für die Polen seien Ungarn und die Reaktionen Moskaus auf die dortige Entwicklung relevanter gewesen.

Das Symposium gewährte vielfältige Einblicke in die Wirkungsweise der Schaltzentralen der kommunistischen bzw. sozialistischen Parteiführungen der einzelnen Länder. Die Aussagen der Zeitzeugen bestätigten mehrfach das Wissen und die Einschätzungen der Zeithistoriker, so zum Beispiel im Hinblick auf fehlende Kontakte zwischen Parteikadern und Reformkräften sowie in Bezug auf die dynamische Entwicklung der Umbruchsprozesse in den einzelnen Republiken. Die Parteipolitiker gaben detailreiche Schilderungen ihres Wirkens, wobei häufig der Eindruck entstand, sie verfolgten eine defensive Argumentation, die sich an tatsächlichen oder vermuteten Narrativen über den Transformationsprozess abarbeitete. Ihre persönlichen Erinnerungen konnten sie mit Informationen aus der Einsicht in Dokumente und Aufzeichnungen der Zeit ergänzen. Eine differenzierte Sicht auf die Ereignisse und politische Entscheidungen 1989/90 war vor allem dort möglich, wo sich die historische Rückschau mit der Bereitschaft zur kritischen Verortung und zur Akzeptanz konträrer Lesarten auf beiden Seiten mischte. Zwanzig Jahre nach dem Fall der Mauer und dem Ende der sowjetischen Dominanz in Ostmitteleuropa zeigt sich jedoch auch, dass eine unvoreingenommene Auseinandersetzung mit den ideologischen und gesellschaftstheoretischen Grundlagen der staatssozialistischen Systeme kaum möglich ist.

Die mit dem Titel der Veranstaltung zur Diskussion gestellten Bezeichnungen „Gerontokraten“ oder „Helden des Rückzugs“ trafen stets nur bedingt auf die komplexen politischen Prozesse und Personalstrukturen Ende der 1980er Jahre zu. Die Zeitzeugen wollten sich weder zu Helden stilisieren, noch als „verkalkte Greise“ verstanden wissen. Auch den Zeithistorikern schienen die beiden Wörter nicht immer ausreichend präzise. Der Vorschlag Stanisław Cioseks, statt „Gerontokraten“ eher einen Begriff wie „Betonköpfe“ zu verwenden, wurde schließlich von Stefan Troebst zustimmend als „vom lyrischen Gehalt her ideales Gegenstück“ zu den „Helden des Rückzugs“ begrüßt.

Konferenzübersicht:

Eröffnung
Rainer Eckert (Zeitgeschichtliches Forum Leipzig)

Grußworte
Klaus Bochmann (Moldova-Institut Leipzig)
Michał Maliszewski (Polnisches Institut Berlin / Filiale Leipzig)

Einführung
Stefan Troebst (GWZO)

Abendvortrag
Mariana Hausleitner (Deutsche Hochschule der Polizei)
„Die Kommunistische Partei der Sowjetunion und der Umbruch in Mittel- und Osteuropa 1989“

Zeitzeugen und Zeithistoriker im Gespräch
Teil I: Die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands
Hans Modrow (1989 Mitglied des Politbüros der SED und Vorsitzender des Ministerrates der DDR)
Moderation: Rainer Eckert (Zeitgeschichtliches Forum Leipzig)

Teil II: Die Kommunistische Partei Moldovas
Petru Lucinschi (1989 Sekretär des ZK der Kommunistischen Parteien der Sowjetrepubliken Tadschikistan und Moldova)
Moderation: Valeriu Moşneaga (Fakultät für Politische Wissenschaft der Staatlichen Universität Chişinău)

Teil III: Die Bulgarische Kommunistische Partei
Aleksandăr Lilov (1989 Generalsekretär der BKP)
Moderation: Iskra Baeva (Fakultät für Geschichte der Hl. KlimentOchridski-Universität Sofija)

Teil IV: Die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei im Jahr 1989
Stanisław Ciosek (1989 Mitglied des Politbüros des ZK der PVAP)
Moderation: Dieter Bingen (Deutsches Polen-Institut Darmstadt)

Podiumsdiskussion
Zwischen „chinesischer Lösung“ und „sanfter Revolution“ – Mittel- und Osteuropa 1989
Włodzimierz Borodziej (Universität Warschau)
Ulrich Mählert (Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, Berlin)
Stefan Appelius (Universität Oldenburg)
Bogdan Murgescu (Universität Bukarest)
Moderation: Stefan Troebst (GWZO)

Anmerkung:
1 Hans Magnus Enzensberger, Die Helden des Rückzugs. Brouillon zu einer politischen Moral der Entmachtung. In: Zickzack. Aufsätze. Frankfurt am Main 1997, 55-63. Erstveröffentlichung in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 9. Dezember 1989; Hans Modrow, Die Perestroika - wie ich sie sehe. Persönliche Erinnerungen und Analysen eines Jahrzehntes. Berlin 1996; Reinhard Veser, Unfreiwillige Helden. Die Sicht kommunistischer Parteifunktionäre auf das Jahr 1989. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10. Februar 2009; Manfred Wilke, „Wenn wir die Partei retten wollen, brauchen wir Schuldige“. Der erzwungene Wandel der SED in der Revolution 1989/90. Interview mit Wolfgang Berghofer. In: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 2007, 396-421.

Contact (announcement)

Susan Baumgartl
Universität Leipzig
Research Academy Leipzig (RAL)
Graduiertenzentrum Geistes- und Sozialwissenschaften Emil-Fuchs-Str. 1
04105 Leipzig

E-Mail: baumgartl@uni-leipzig.de


Editors Information
Published on
08.05.2009
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Conf. Language(s)
German
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