Der Erste Weltkrieg – eine Zäsur in Transnationalisierungsprozessen Ostmitteleuropas

Der Erste Weltkrieg – eine Zäsur in Transnationalisierungsprozessen Ostmitteleuropas

Organizer(s)
Projektgruppe „Ostmitteleuropa Transnational“ am Geisteswissenschaftlichen Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO) Leipzig
Location
Leipzig
Country
Germany
From - Until
26.09.2008 - 27.09.2008
Conf. Website
By
Katja Naumann, Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO), Leipzig

Die Durchsetzung des Prinzips nationaler Selbststimmung bei der staatlichen Neuordnung Ostmitteleuropas nach dem Ersten Weltkrieg markierte für die Region einen tiefen Einschnitt. Dieser führte dazu, dass sich die Forschung umfänglich mit den vielfältigen Nationalisierungen von Territorien und Territorialisierungen von Nationen vor sowie nach der Auflösung des Habsburger Reiches beschäftigt. Neben einer solchen oft nationalgeschichtlich fixierten Perspektive werden im Zuge einer jüngeren Historiographie auch transnationale Verflechtungen für die Perioden dies- und jenseits der traditionell vielfach als Spiegelachse betrachten Jahre 1918/1919 thematisiert. Im Bereich der Welt- und Globalgeschichte sind jüngst mehrere Arbeiten erschienen, die dem Ersten Weltkrieg andere Wendepunkte gegenüberstellen und damit dessen Zäsurcharakter, zumindest für globale Phänomene wie Migration, Territorialisierung oder wirtschaftliche Vernetzung, relativieren. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, inwiefern sich auch für Ostmitteleuropa in seinen europäischen und weltweiten Einbindungen Kontinuitäten und Brüche in Bezug auf die Zäsur von 1918/19 neu diskutieren lassen. Anders, und als heuristische These formuliert: Ließe eine stärkere Konzentration auf transnationale Phänomene in der Historie der Region die auf das Nationale konzentrierte Markierung weniger eindeutig erscheinen? Unbestritten ist Jürgen Osterhammels Hinweis, dass „eine völlige Kongruenz zwischen globalen, kontinentalen, nationalen oder sogar regionalen Chronologien (...) kaum wünschenswert und schwer erreichbar“ sei.1 Doch immerhin sind an die Zuschreibung von Epochenjahren weitreichende Narrative gebunden, in denen Pfadabhängigkeiten, Sonderwege oder Rückständigkeiten verhandelt werden. Beide Überlegungen, einerseits nach Anregungen aus der Welt- und Globalgeschichtsdiskussion für die Historiographie Ostmitteleuropas zu suchen und andererseits tradierte Narrative, die die Geschichte der Region als eine nachholende erzählen, weiter empirisch herauszufordern, leiteten einen Workshop, den die Projektgruppe „Ostmitteleuropa transnational“ des GWZO2 am 26. und 27. September 2008 in Leipzig veranstaltet hat. Konkret wurde nach der Wirkkraft des Ersten Weltkrieges und der politischen Neuordnung von 1918/19 auf transnationale Prozesse, Akteure und Netzwerke gefragt, mit Blick auf fünf Themenbereiche: kulturelle Repräsentationen, Migration, wirtschaftliche Verflechtungen, Territorialität und Grenzen sowie organisierter Internationalismus.

Den Auftakt gaben zwei Vorträge der Projektleiter, die skizzierten, wie die Zäsur 1918/19 in den beiden erwähnten Forschungssträngen einerseits traditionell, andererseits gegenwärtig neu gedeutet wird. MATTHIAS MIDDELL (Leipzig) stellte folgende fünf globalgeschichtliche Interpretationen vor: Während Eric Hobsbawms kurzes 20. Jahrhundert lange Zeit die globalgeschichtliche Diskussion bestimmte, haben Michael Geyer, Charles Bright und Charles Maier mit Fokus auf Territorialisierungsprozesse und Dynamiken globaler Integration für das 20. Jahrhundert besonders auf den Zäsurcharakter der 1960er- und 1970er-Jahre hingewiesen, auf jenen Zeitraum also, in dem die Dominanz des Nationalen zugunsten transnationaler Bezüge an Bedeutung verlor. Sodann ist dafür plädiert worden, den 1880er- bis 1920er-Jahren mehr Aufmerksamkeit zu schenken, da sich in diesen Dekaden der folgenreiche Übergang von der britischen Politik des weltweiten Freihandels zum US-amerikanischen, aber auch deutschen, Protektionismus vollzog. Auch aus der Perspektive der vergleichenden Revolutionsgeschichte, so Middell, lassen sich die revolutionären Umbrüche in Ostmitteleuropa um 1918 in eine größere Entwicklung einbetten, den Wandel nämlich von den „bürgerlichen“ Revolutionen des 19. Jahrhunderts zu primär an den Peripherien hervorbrechenden Gesellschaftskonflikten im 20. Jahrhundert. Ferner hat Erez Manela mit Blick auf die 1918 einsetzenden Dekolonialisierungsprozesse außerhalb Europas auf den Zusammenhang von Nationalisierung einerseits und panafrikanischen und -asiatischen Bewegungen andererseits aufmerksam gemacht. Für die Geschichte Ostmitteleuropas ließe sich hier die Anregung entnehmen, dem „Wilsonian “ einen „Leninian Moment“ gegenüberzustellen und nach der Verflechtung der nationalstaatlichen Organisation mit einer global ausgerichteten kommunistischen Revolutionsbewegung zu fragen. Schließlich hat Dan Diner den Vorschlag unterbreitet, die Durchsetzung von Nationalisierung mit Blick auf jene Minderheiten zu kontrastieren, die sich dieser Einpassung widersetzten. Da die Historiographie zu Ostmitteleuropa seit den 1920er-Jahren auf nationalgeschichtliche Perspektiven fokussiere und somit das Entstehen ostmitteleuropäischer Staaten in Folge des Ersten Weltkriegs einer der zentralen Topoi sei, biete, darauf wies FRANK HADLER (Leipzig) hin, der Blick auf Prozesse und Phänomene von Transnationalisierung um diesen Einschnitt eine erhebliche intellektuelle Irritations- und Anregungskraft – unabhängig davon, ob sich dadurch an der Bedeutung des Einschnittes für die Nationalgeschichte etwas ändere. CLAUDIA KRAFT (Erfurt) betonte in ihrem Kommentar, dass in den vorgestellten Forschungsansätzen der Aspekt der vielfältigen transnationalen Netzwerke vernachlässigt werde, in denen sich historische Akteure kultur- und grenzübergreifend verbanden.

SARAH LEMMEN (Leipzig) setzte sich mit dem Wandel kultureller Repräsentationen vor und nach dem Ersten Weltkrieg auseinander, indem sie am Beispiel tschechischer Weltreisender rekonstruierte, wie sich die Nation (von den 1890er-Jahren bis in die Zwischenkriegszeit) in der Auseinandersetzung mit der außereuropäischen Welt positionierte. Gerade in Reiseberichten über Fernreisen nach Asien und Afrika würde deutlich, so Lemmen, dass sich auch in den „kleinen“ ostmitteleuropäischen Nationalgesellschaften, die keine Kolonialerfahrung besaßen, das Bewusstsein, in einer global vernetzten Welt situiert zu sein, als maßgeblich für die Konstitution des nationalen Selbstbewusstseins erwies. Nicht erst mit der Gründung der Tschechoslowakei wurde die Frage virulent, wie die tschechische Nation international sichtbar gemacht werden könne und in weltweite Zusammenhänge zu integrieren sei. Vielmehr bedingten sich Nationalisierung und Globalisierung bereits vor 1918 wechselseitig, wie sich nicht zuletzt an der weithin artikulierten Erwartungshaltung verdeutliche, die Präsenz tschechischer Produkte auf dem Weltmarkt zu stärken. Dabei bleibt auch für die Zwischenkriegszeit, zumindest in den kulturellen Repräsentationen Außereuropas, die Verortung der tschechischen Nation in globalen Kontexten bedeutsam – was der These einer De-Gobalisierung in den 1920er- und 1930er-Jahren entgegenläuft. Im Gegenteil habe die Wahrnehmung, sich mit der Welt außerhalb der eigenen Grenzen auseinandersetzen zu müssen, eher zugenommen.

Migrationprozesse und Ideentransfers wurden in einem zweiten Block thematisiert. MATHIAS MESENHÖLLER (Leipzig) diskutierte die Entwicklung von Migrationsbewegungen in Polen, den böhmischen Ländern und der späteren Slowakei in Hinblick auf das Argument von Adam McKeown, nach dem die Zäsur der Jahre 1914-1918 lediglich für transatlantische, nicht aber für transpazifische oder intrakontinentale (besonders innerasiatische) Wanderungen haltbar sei. Zwar träfe McKeowns Sicht für Ostmitteleuropa bedingt zu, da Polen primär für Destinationen in Europa und den USA verlassen wurde, dennoch bringe die Nahsicht für die Zäsurhaftigkeit des Ersten Weltkrieges ein ambivalentes Ergebnis: Einerseits hielt eine quantitative Abnahme der Abwanderung über den Krieg hinaus an, andererseits veränderten sich die Wanderungsziele. Ein eindeutigerer Befund lasse sich, so Mesenhöller, hingegen für die Diaspora formulieren, da sich die Ausländerpolitik in einer Reihe von Empfängerländern ebenso änderte, wie der Umgang mit den Exilanten seitens des 1918 wiederentstandenen polnischen Staates. Die Zusammenschau mit den tschechischen und slowakischen Entwicklungen lasse zwei Tendenzen erkennen: Zum einen war Massenmigration (saisonale ebenso wie längerfristige, regionale, kontinentale und überseeische) für die Region seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts kennzeichnend und dies änderte sich auch 1918 nicht wesentlich. Zum anderen wandelten sich in Folge des Krieges sowohl die Einwanderungspolitiken von traditionellen Zielländern als auch die Migrationspolitiken der neuen Staaten Ostmitteleuropas, so dass es zu einer Umleitung sowohl der Binnen- als auch der Außenwanderung kam. Insofern prägten die politischen Veränderungen um 1918 auch den Verlauf von Migrationsbewegungen, verbleibt der Erste Weltkrieg also für diesen Aspekt transnationaler Verflechtung in Ostmitteleuropa weiterhin als einschneidender Moment.

ZOLTÁN SZALAI (Budapest) wechselte den Fokus in zweierlei Hinsicht: er blickte auf Ungarn und auf einen einzigen Akteur, den Philosophieprofessor Wilhelm Szilasy, der seine Heimat verließ, jedoch privat und intellektuell eng mit ungarischen Diskursen eng verbunden blieb. Dabei unterstrich er das Plädoyer von Mesenhöller, dass die komplexe Geschichte von Migration und Diaspora nicht nur anhand von quantitativen Quellen zu erfassen sei, die notwendigerweise nur jene Wanderungen spiegeln, die von zeitgenössischen Instanzen als solche erachtet wurden, sondern biographischer Tiefenbohrungen bedürfe. Denn individueller Umgang mit Migrationserfahrung zeige, dass die Wahrnehmung von Weggang und Ankommen nicht nur zeitlich relativ losgelöst von dem tatsächlichen Moment der Auswanderung sei, sondern dass Rückbezüge zum Ursprungskontext auch nach dem Einfügen in neue Konstellationen nicht zwangsläufig nachlassen.

In ihrem Kommentar verwies BARBARA LÜTHI (Basel) auf die Notwendigkeit, die offensichtlich deutlichen Unterschiede im Verlauf von trans- sowie intrakontinentaler Migration zwischen Ostmitteleuropa und beispielsweise der Mandschurei oder Südostasien aus globaler Perspektive zu erklären. Sie bekräftige Szalais Argument, dass die Wahrnehmung von Zäsuren von den Quellenarten bzw. dem jeweiligen methodischen Zugang abhängig sei.

STEFFI FRANKE (Leipzig) ging der Bedeutung der Umbrüche von 1918/19 für den Wandel von Territorialisierungsmustern in der ostmitteleuropäischen Region nach. Nach einführenden theoretischen Bemerkungen über die Konzepte Territorium, Territorialisierung und Regimes von Territorialität arbeitete sie drei Prozesse heraus, die für die Region nach 1918 entscheidend waren: Erstens wandelte sich symbolische Aneignung des Raumes, da nationale Symboliken – wiewohl das Repertoire dazu schon früher entstanden war – nun angesichts neuer staatlicher Souveränität auch territorial verortet werden konnte. Zweitens wurde die materielle Kontrolle über den Raum nun von neuen Trägerschichten übernommen, ohne dass sich allerdings die leitenden Muster und Strategien änderten. Und drittens schließlich verblieb die Institutionalisierung von Territorialität, also die Schaffung effizienter staatlicher und administrativer Strukturen, trotz des faktischen Festschreibens staatlicher Souveränität fragil. Denn die Konsolidierung der neu gezogenen Grenzen erwies sich angesichts der Bindekraft transnationaler Verflechtungen als ebenso schwierig wie die Vereinheitlichung von Identitätsräumen entlang nationaler Muster. Im Ergebnis sei nach 1918 eine eher verschärfte Auseinandersetzung um die geeignete territoriale Ordnung beobachtbar. Aus diesem Befund, so Franke, lassen sich zwei Überlegungen entwickeln, die künftig empirisch zu testen wären: erstens, dass 1918/19 in Ostmitteleuropa ein neuer Möglichkeitsraum für Experimente mit verschiedenen und sich überlappenden Formen von Territorialisierung entstand; zweitens, dass die darin gemachten Erfahrungen in anderen Weltregionen rezipiert wurden, so dass die beschriebenen Konflikte in Ostmitteleuropa stärkere Parallelen mit den Neuordnungen im Zuge der Dekolonialisierung der 1960er- und 1970er-Jahre aufweisen könnten als mit Entwicklungen in Westeuropa.

Anschließend wurde nach dem Wandel wirtschaftlicher Prozesse gefragt. In seiner Überblicksdarstellung hob NIKOLAUS WOLF (Warwick) hervor, dass das Jahr 1918 in der makroökonomischen Entwicklung der Region nur bedingt als Einschnitt betrachtet werden könne. Die politischen Grenzziehungen haben eher bereits existierende Binnenhandelsgrenzen innerhalb der Habsburgermonarchie, aber auch innerhalb des Deutschen Reichs verfestigt. Zur Fragmentierung des innerregionalen Handels kam es erst mit der Umorientierung der Handelsströme infolge der Weltwirtschaftskrise. 1918 hat jedoch einen Bruch in der wirtschaftlichen Entwicklung der Region in dem Sinne mit sich gebracht, dass sich politische Interessen neu artikulieren konnten, zumeist in Konflikt zu bestehenden starken wirtschaftlichen Abhängigkeiten. Komplementär dazu stellte MARIA HIDVEGI (Leipzig) die Positionierungsstrategien zweier ungarischer Unternehmen der Elektroindustrie auf dem Weltmarkt vor, fokussiert auf internationale Kartellvereinbarungen. Internationale Kartelle seien insofern ein interessanter Prüfstein für die Grundfrage nach dem Verhältnis von Nationalisierung und Globalisierung, als sie auch auf Rechtunsicherheiten reagierten, die aus Lücken in der nationalen Gesetzgebung erwachsen und globale wirtschaftliche Transaktionen durch eine transnationale Rechtsschaffung zu verregeln suchen. Der Erste Weltkrieg bedeutete für die Kartelle insofern einen Einschnitt, als sich die gewandelten geopolitischen Machtverhältnisse in veränderten Kartellstrukturen spiegelten. Zugleich hob Hidvegi hervor, dass die transnationale Rechtschaffung über den Krieg hinaus auf den nationalen Rahmen angewiesen blieb. Wandel setzte nach 1918 auch hinsichtlich der Positionierungsstrategien der ungarischen Unternehmen ein: Wiewohl sie weiterhin etablierte Kontakte und Formen der internationalen Einbindung nutzten, wuchs die Bedeutung der Teilnahme an internationalen Kartellen. Zudem wurde nunmehr verstärkt an den ungarischen Staat appelliert, die nationale Industrieförderung um internationale Instrumente zu erweitern.

Die beiden letzten Vorträge beschäftigten sich mit der Geschichte Internationaler Organisationen und des Internationalismus. KATJA NAUMANN (Leipzig) arbeitete zunächst eine Spannung innerhalb der Forschungsliteratur heraus: Während die Forschungen zu Internationalen Organisationen Ostmitteleuropa beinahe vollkommen außer Acht ließen und im wesentlichen hoch normativ argumentieren, liegen mittlerweile einige empirische Studien zu dieser Region vor, in denen die enge Verflechtung von Nationalisierungs- und Internationalisierungsprozessen rekonstruiert ist. Letzteren sind drei Anregungen für künftige Forschungen zu entnehmen: erstens, lokale, regionale und nationale Interessenlagen bei der Teilhabe an internationaler Kooperation ernst zunehmen und Internationalisierung auch als politische Strategie zu interpretieren, die sich auf Emanzipation von imperialer Herrschaftsstrukturen (vor ebenso wie nach 1918) richtete; zweitens, den (Rück-)Wirkungen dieser Prozesse auf den Wandel von Internationalismus und von Strukturen Internationaler Organisationen während des 19. und 20. Jahrhunderts nachzugehen; damit drittens die Handlungsspielräume „kleiner“ und geopolitisch wenig einflussreicher Staaten in internationalen Organisationen auszuloten und viertens schließlich nach Transfer- und Lernprozessen zwischen unterschiedlichen subkontinentalen Regionen zu fragen.

BERNHARD BAYERLEIN (Mannheim) lenkte die Aufmerksamkeit auf jene kultur- und sozialpolitischen Netzwerke, die im Zusammenhang mit der kommunistischen Internationale entstanden sind. In den 1920er- bis 1940er-Jahren organisierte sich eine Vielzahl von transnationalen Arbeiter- und Intellektuellenbewegungen. Interessant an diesen überparteilichen Organisationen sei besonders zweierlei: zum einen, dass sie im Spannungsfeld von KomIntern, sozialistischer Kultur- und Außenpolitik sowie den nationalen kommunistischen Bewegungen bzw. Parteien agierten und somit den Doppelcharakter des Kommunismus als nationalstaatliche Verkörperung und als internationale Bewegung verdeutlichen; zum anderen, dass sie einen neuen Typus sozial- und kulturpolitischer Organisationen darstellen, da sie viel stärker als dies für vergleichbare Gruppierungen im 19. Jahrhundert der Fall war, auf transnationalen Kommunikationszusammenhängen beruhten und ihr Selbstverständnis, das heißt weltumspannende Anliegen global zu adressieren, tatsächlich zu einer neuen Qualität transnationaler Verflechtung führte.

In einem Abschlusskommentar zum gesamten Workshop betonte Claudia Kraft, dass bei der Diskussion um Zäsuren und Periodisierungen mindestens drei Ebenen bedacht werden müssen: Akteurshandlungen und -interpretationen, der Wandel von strukturellen Bedingungsgefügen und analytische Beobachtungen. In allen Vorträgen sei deutlich geworden, dass die Nationalisierungsprozesse um 1918/19 in Ostmitteleuropa von Prozessen begleitet wurden, die bereits im 19. Jahrhundert eingesetzt hatten und mindestens bis in die Zwischenkriegszeit andauerten. Eine transnationale Perspektive auf Ostmitteleuropa hat sich in zweierlei Hinsicht als intellektuell anregend gezeigt: Zum einen zeige sich die Region als ein hochdynamisches Experimentierfeld für das Agieren in fragilen Raumhierarchien. Die transnationalen Verortungen der historischen Akteure ebenso wie ihre regional übergreifenden Verflechtungen verdeutlichen nicht nur, dass lokale, regionale, nationale und trans- bzw. internationale Handlungsräume nebeneinander existierten, sondern dass das Entstehen neuer Verräumlichungsmuster in der Zeit von den 1880er- bis zu den 1920er-Jahren zu einem kreativen Austarieren von tradierten und alternativen Ordnungsmodellen führte. Damit wurde die Region zu einem Laboratorium, in dem Konflikte ausgehandelt, Erfahrungen gemacht und Strategien entworfen wurden, die im Verlaufe des 20. Jahrhunderts auch für andere Weltregionen bedeutsam wurden. Zweitens, und damit zusammenhängend, könne also gerade ein transnationaler Blick auf Ostmitteleuropa dazu beitragen, das Narrativ einer Rückständigkeit gegenüber Westeuropa zu untergraben. Ob es für das Ausschöpfen dieses Potentials tatsächlich notwendig sei, politische Zäsuren zu hinterfragen, bezweifelte Kraft. Sie schlug dagegen vor, den Wandel von politischen Rahmenbedingungen aus Momente des Empowerment zu untersuchen, mithin dem Entstehen von Handlungsspielräumen und der Entwicklung alternativer Ordnungen nachzugehen.

Als Fazit der Vorträge und Debatten wurde festgehalten, dass sich empirisch beachtliche Kontinuitätslinien über den Weltkrieg hinweg rekonstruieren lassen, wenn man auf transnationale Phänomene abhebt, ohne dass damit der Durchsetzung nationaler Selbstbestimmung ihre Relevanz abzusprechen sei. Jedoch erwächst daraus die Grundlage für detaillierte Untersuchungen darüber, in welcher Form in Ostmitteleuropa verschiedene Raumbezüge mit und jenseits des Nationalen verflochten waren und wie sich diese Arrangements über längere Phasen gewandelt haben. Im Ergebnis wird die Transnationalität der Region als Ausdruck weltweiter Prozesse sichtbar und damit integrierbar in einen globalen Zusammenhang, der sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts etablierte, in den historiographisch jedoch bislang keineswegs alle Regionen eingeschrieben sind.

Konferenzübersicht:

Matthias Middell (Universität Leipzig): Die Zäsur 1918 in der Globalgeschichtsdiskussion
Frank Hadler (GWZO, Leipzig): 1918 in der Historiographie zu Ostmitteleuropa

Kulturelle Repräsentationen
Sarah Lemmen (GWZO, Leipzig): Globale Selbst- und Fremdverortungen auf Reisen. Tschechische Positionierungsstrategien vor und nach 1918

Migration
Mathias Mesenhöller (GWZO, Leipzig): Kontinuitäten und Diskontinuitäten der Massenmigration aus Ostmitteleuropa vor und nach 1914/1918
Zoltán Szalai (Budapest): Intellektuelle Migration und Ideentransfers aus und nach Ungarn: Kontinuitäten und Brüche ca. 1867-1941
Kommentar: Barbara Lüthi (Universität Basel)

Territorialitätsregime und Grenzen in Ostmitteleuropa
Steffi Franke (GWZO, Leipzig): Territorialitätsregime in der Globalgeschichtsschreibung. Ostmitteleuropa zwischen Empire, Nation und Europäischer Union

Wirtschaft
Nikolaus Wolf (University of Warwick): 1918 - eine Zäsur in der wirtschaftlichen Entwicklung Ostmitteleuropas?
Maria Hidvegi (GWZO, Leipzig): Kartelle als Selbstregulierungsinstrument der Privatwirtschaft

Internationale Organisationen
Katja Naumann (GWZO, Leipzig): Internationale Organisationen in OME: Akteure und Netzwerke
Bernhard Bayerlein (Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung): Rote Globalisierung?

Schlusskommentar: Claudia Kraft (Universität Erfurt)

Anmerkungen:
1 Jürgen Osterhammel, Auf der Suche nach dem 19. Jahrhundert, in: Sebastian Conrad / Andreas Eckert / Ulrike Freitag, Globalgeschichte. Theorien, Ansätze, Themen, Göttingen 2007, S. 109-130.
2 Vgl. die Projektbeschreibung unter: <http://www.uni-leipzig.de/gwzo/Projekte/Transnational.htm> (20.02.2009); und den Bericht zu einem ersten Workshop des Projekts über „Die Rolle von Grenzen in einer transnationalen Geschichte. Ostmitteleuropa im weltweiten Vergleich, in geschichte.transnational, unter: <http://geschichte-transnational.clio-online.net/tagungsberichte/id=1589> (20.02.2009).


Editors Information
Published on
03.03.2009
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Temporal Classification
Regional Classification
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German
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