Kulturkontakt und Wissenschaftsdiskurs / Cultural Encounters and the Discourses of Scholarship

Kulturkontakt und Wissenschaftsdiskurs / Cultural Encounters and the Discourses of Scholarship

Organizer(s)
DFG-Graduiertenkolleg „Kulturkontakt und Wissenschaftsdiskurs”
Location
Rostock
Country
Germany
From - Until
15.11.2007 - 17.11.2007
Conf. Website
By
Menja Holtz, Kristin Skottki und Sünne Juterczenka, Universität Rostock

Vom 15. bis 17. November 2007 fand das zweite Symposium des DFG-Graduiertenkollegs „Kulturkontakt und Wissenschaftsdiskurs” an der Universität Rostock statt. Unter dem Titel „Cultural Encounters and the Discourses of Scholarship“ versammelten sich ausgewiesene Experten und Nachwuchs-Wissenschaftler/innen, um die empirische Erforschung von Kulturkontakten bzw. kulturellen Begegnungen mit der theoretischen Reflexion des Wissenschaftsdiskurses zu verbinden. Die verschiedenen Blickwinkel der vertretenen Disziplinen (Literatur-, Politik-, Sozial-, Musik-, Medien-, Museums-, Geschichts- und Religionswissenschaft, Archäologie, Theologie, Volkskunde und Ethnologie) regten zu Diskussionen unter anderem über den zu beobachtenden Wandel von vorwiegend dualistisch formulierten hin zu dialogischen Konzepten von Kulturkontakten an.1 Die Einbeziehung wissenschaftlicher Diskurse als Untersuchungsgegenstand beruht auf der Überzeugung, dass die Erweiterung quellenbezogener Datenbestände von der Reflexion über den Ort des erzeugten Wissens innerhalb konkreter soziohistorischer Kontexte begleitet sein sollte.

Diese Thematik spann sich von Anfang an als roter Faden durch das Symposium: In seinem programmatischen Eröffnungsvortrag kennzeichnete JOHANNES FABIAN (Amsterdam) Begriffe wie Kulturkontakt und Diskurs weniger als Prämissen, sondern vielmehr als Probleme der Forschung. So sei es gefährlich, den Terminus Kulturkontakt unreflektiert oder gar metaphorisch zu verwenden.2 Schließlich können nur Menschen einander begegnen, nicht aber Kulturen. Auch sollten Wissenschaftler/innen stets bedenken, dass sie selbst Teil der Begegnung und des Diskurses darüber sind, und dass dieser Diskurs eine politische Qualität hat.

Wie politisch der Diskurs sein kann, zeigte BENEDIKT STUCHTEY (London) am Beispiel früher Kritiker des Kolonialismus, die in den europäischen Metropolen wirkten. Stuchtey charakterisierte diese public moralists als Intellektuelle, die keinen direkten Einfluss auf die Politik ausüben konnten, obwohl ihre Kritik meist exakter und fundierter war als die Verteidigungen kolonialer Ansprüche. Dennoch konnten sie ─ wie der zu Unrecht in Vergessenheit geratene französische Geograph Elisée Reclus─ durch ihre Schriften ein alternatives Bild der Kolonien verbreiten.

Auch die Gegenüberstellung von vertikaler und horizontaler Dimension kann Alterität akzentuieren. BRUCE HARVEY (Tallahassee) zeigte unter Bezugnahme auf Texte von Herman Melville die am Ende des 18. Jahrhunderts einsetzende Suche nach metaphysischer Tiefe. Harvey konstatierte einen veränderten Blick auf die Erdgeschichte durch die neu entstandene Wissenschaft der Geologie. Die Faszination für wissenschaftlich belegbare Tiefendimensionen von Geschichte und Raum zeige sich in Jules Vernes „hollow earth literature“ ebenso wie in Melvilles Charakterisierung des Erdzeitalters im Modus des Unheimlichen und Erhabenen sowie in seinem Blick auf fremde Kulturen.

ANDREAS NEHRING (Erlangen) präsentierte den theoretischen Ansatz von Gayatri Spivak, die mit einer absichtlich „falschen“ Lesart (mistaken reading) von Hegels Aussagen über die indische Bhagavadgita, einem von achtzehn Gesängen des indischen Epos Mahabharata, postkoloniale Ansätze kritisiert. Sie fordert von den Intellektuellen einen verantwortungsvollen Umgang (accountability) mit in den westlichen Texten verborgenen (subalternen) Stimmen. Nach Spivak offenbart sich nämlich an den Rändern solcher Texte – oder auch in rhetorischen Formen wie der Katachrese (‚Bildsprung‘) – die Stimme der eingeborenen Informantin (native informant).

Die Stimmen der im kolonialen Kontext vermeintlich Unterlegenen waren Thema des Vortrages von SAMUEL RUBENSON (Lund): Anhand der erstmals edierten Acta Aethiopica zeigte er, wie sich äthiopische Herrscher des 19. Jahrhunderts die Präsenz kolonialer Mächte zunutze machten. Dazu stellten sie in offiziellen Schreiben nach Europa ihr Land oftmals als eine von bedrohlichen muslimischen Staaten umgebene Insel dar. Dies ist nach Rubenson Teil der europäischen Sicht auf Äthiopien geworden, obwohl das Land durchgängig freundschaftliche Beziehungen zu seinen muslimischen Nachbarn unterhielt.

CLAUDIA SCHNURMANN (Hamburg) erörterte den Stellenwert aus Muscheln gefertigter Perlen (Wampum) als Tauschgegenstand im Nordamerikahandel des 17. Jahrhunderts. Diese galten der indigenen Bevölkerung an der Ostküste Nordamerikas als wertvoll oder heilig, während die Europäer sie als Ersatzwährung sahen. Trotz der unterschiedlichen Bewertung durch die Akteure kam ein Austausch zustande, von dem – zeitlich begrenzt – auch einige der indigenen Nationen profitierten. Entgegen bisheriger stereotyper Interpretationen der wirtschaftlichen Beziehungen als einseitig charakterisierte Schnurmann sie als ein komplexes Geflecht vielfältiger Interessen, in dem Wampum als „cultural broker“ fungierte.

FRANK SCHULZE-ENGLER (Frankfurt) regte eine Debatte über die Bedeutung der Wissenschaft – hier science statt scholarship – innerhalb verschiedener Kulturen an. Er führte anhand zweier Romane von Amitav Ghosh vor, wie dieser indische Autor die westliche Vernunft als Domäne imaginierter europäischer Superiorität dekonstruiert. „The Calcutta Chromosome“ zeigt eine mögliche Brechung des westlichen Verständnisses von Wissenschaft durch die Erfindung einer counter science in Indien. Ghoshs Roman „The Hungry Tide“ thematisiert die kompromisslose westliche Ideologie des environmentalism, die Umweltschutz über einheimische Lebensbedürfnisse stellt.

Den unterschiedlichen Umgang mit einem Phänomen indischer Musik in Europa und Indien selbst stellte LARS-CHRISTIAN KOCH (Köln/Berlin) vor. Bei der Beschäftigung mit Srutis (=Mikrotönen) hätten sich sich westliche Wissenschaftler/innen seit dem 19. Jahrhundert auf deren mathematisch genaue Berechnung konzentriert. In der indischen Wissenschaftstradition hingegen würden die Srutis als kleinste hörbare Tondifferenz gelten, deren exakte Wiedergabe in der musikalischen Praxis sogar als unangemessen empfunden wird. Letztere ist über religiöse Grenzen zwischen Hindus und Muslimen hinweg stärker vom Lehrer-Schüler-Verhältnis als von musiktheoretischen Überlegungen geprägt.

INGE NIELSEN (Hamburg) verdeutlichte das Problem der Übertragung von Begrifflichkeiten aus einer wissenschaftlichen Disziplin in eine andere. Sie interpretierte architektonische Mischformen und Umformungen in der griechisch-römischen Antike als Zeichen von Akkulturationsprozessen. Als Beispiele zeigte sie veränderte Nutzungen und Bauweisen von Bädern, Gymnasien, Palästen und Aufführungsorten ritueller Dramen. Die Deutung des funktionalen Wandels variierte je nach fachlicher Orientierung zwischen Romanisierung, Hellenisierung und Orientalisierung. Demnach ist der Begriff der Akkulturation in der klassischen Archäologie nach wie vor gewinnbringend anwendbar, während er in anderen Disziplinen problematisiert wird.

STEFAN ALTEKAMP (Berlin) erinnerte am Beispiel des Irak (vor 2003) erneut daran, wie sehr wissenschaftliche (in diesem Fall archäologische) Arbeit an ideologische und politische Implikationen geknüpft ist. So gab es während der Kolonialzeit Auseinandersetzungen zwischen britischen Mandatsträgern und der einheimischen Altertumsverwaltung über unterschiedliche Konzepte des Umgangs mit vor Ort verbliebenen Funden. Nach der Unabhängigkeit ließ die irakische Regierung dann nur noch solche Monumente (re-)konstruieren, die zur Identitätsstiftung beitragen konnten, indem sie eine glorreiche Vergangenheit repräsentierten.

Wenngleich in den Diskussionen Ungleichzeitigkeiten und unterschiedliche Schwerpunktsetzungen der einzelnen Disziplinen zutage traten, kristallisierten sich doch gemeinsame Tendenzen heraus. So wurde eine verstärkte Rückkehr zur Empirie angeregt, welche nach der kritischen Auseinandersetzung mit älteren Methoden durch postmoderne, poststrukturalistische und postkoloniale Ansätze wieder an Bedeutung gewinnen könnte und sollte. Diese Überlegung enthebt Forschende aber nicht der Pflicht, weiterhin auf die politische Brisanz von Kulturkontakten sowie auf die politics of theory zu verweisen und die eigene Verortung im Diskurs zu berücksichtigen.

Insgesamt (besonders aber in den Beiträgen von Koch und Fabian) wurde deutlich, dass eine wissenschaftlich präzise Abbildung des Anderen weder möglich noch erstrebenswert ist. Eine gewisse Unschärfe, die in Formen analytischer Inkonsequenz (Nehring), situativer Ambiguität (Schnurmann) oder der Ambivalenz zwischen Faszination und Abwehr (Harvey) blieb, wurde abschließend durchaus begrüßt und ihre Berücksichtigung eingefordert. Als überaus fruchtbar erwies sich der interdisziplinäre Zuschnitt der Tagung, indem er kritische Anfragen an die facheigenen Methoden erlaubte. Einen engen Austausch ermöglichten darüber hinaus das Tagungsprogramm bereichernde Workshops und die Anwesenheit der zusätzlichen Diskutanten ARNDT BRENDECKE (München), MICHAEL HARBSMEIER (Kopenhagen) und ANDREA PAGNI (Erlangen).

Konferenzübersicht:

Johannes Fabian (Universiteit van Amsterdam)
"You meet and you talk. Anthropological Reflections on Encounters and
Discourses"

Panel I: Concepts and Theories of Cultural Encounter and Their Politics
Benedikt Stuchtey (German Historical Institute London): "Cultural Encounters: European Critics of Expansionism in the Age of Empire"
Bruce Harvey (Florida International University): "Melville, Deep Time, and the World in Ruins"
Andreas Nehring (Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg): "Mistaken Readings - Gayatri Spivak's Deconstruction of Hegel and the Bhagavadgita"

Panel II: Historical Antecedents: Constructions of Cultural Otherness in the Mediterranean and Atlantic
Samuel Rubenson (Lunds Universitet): "The European Impact on Christian-Muslim Relations in the Middle East in the Nineteenth Century"
Claudia Schnurmann (Universität Hamburg): "Wampum as Cultural Broker in the American Northeast, 1620’s-1660’s"

Workshops:
1. Concepts of cultural encounters
2. History of cultural encounters
3. Cultural Encounters and Representation /Performance
4. Cultural Encounters and Space/Migration

Panel III: Microtones and Microenvironments in India: Scientific Constructions in the Contact Zone
Frank Schulze-Engler (Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main): "Strange Encounters or Succeeding Dialogues? Science, Culture and Modernity in Amitav Ghosh’s The Calcutta Chromosome and The Hungry Tide"
Lars-Christian Koch (Universität zu Köln und Berliner Phonogramm-Archiv): "Srutis - The Concept of Microtonality and the Construction of Indian Music in 19th and 20th Century Europe"

Panel IV: Sites and Scapes of Cultural Encounter and Their Analysis
Inge Nielsen (Universität Hamburg): "Ancient Architecture as a Tool to Elucidate Acculturation Processes"
Stefan Altekamp (Humboldt-Universität zu Berlin): "Restoring Mesopotamia to Iraq. Archaeological Monuments and the Nation State"

Anmerkungen:
1 Ein solches Konzept wäre etwa das der Transkulturation. Vgl. Pratt, Mary Louise, Imperial Eyes. Travel Writing and Transculturation, London 1992.
2 Wie im Falle des vermeintlichen „clash of civilizations“. Huntington, Samuel P., The clash of civilizations and the remaking of world order, New York 1996.


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Published on
06.01.2008
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