S. Wiederkehr: Die eurasische Bewegung

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Title
Die eurasische Bewegung. Wissenschaft und Politik in der russischen Emigration der Zwischenkriegszeit und im postsowjetischen Russland


Author(s)
Wiederkehr, Stefan
Series
Beiträge zur Geschichte Osteuropas 39
Published
Köln 2007: Böhlau Verlag
Extent
398 S.
Price
€ 49,90
Reviewed for Connections. A Journal for Historians and Area Specialists by
Alexander Höllwerth, Instytut Filologii Germańskiej, Collegium Novum, Poznań

Stefan Wiederkehr legt mit seinem Buch über die eurasische Bewegung ein wissenschaftliches Standardwerk vor, das in Zukunft zumindest für deutschsprachige ForscherInnen Ausgangspunkt und anspruchsvolle Messlatte für die Beschäftigung mit den verschiedenen Varianten der eurasischen Ideologie sein wird. Das Ziel der als Dissertation entstandenen Monographie ist die Darstellung und Analyse des Eurasismus, einer Ideologie, deren historisch erste Variante zu Beginn der 1920er-Jahre des 20. Jahrhunderts von teilweise sehr namhaften russischen Intellektuellen wie dem Sprachwissenschaftler Nikolai Trubezkoi, dem Geographen Pjotr Sawizki, dem Theologen Georgi Florowski und dem Philologen Roman Jakobson in der europäischen Emigration entwickelt wurde (S. 190). Die eurasische Ideologie hat, wie Wiederkehr zeigt, einerseits eine positive Dimension: Es geht in ihr um die Konstruktion einer eurasischen Einheit, die in etwa das Gebiet der ehemaligen Sowjetunion in den 1920er-Jahren des 20. Jahrhunderts umfassen sollte – in diesem Sinne ist die eurasische Ideologie eine imperiale Legitimationsideologie (S. 150-174). Andererseits ist die eurasische Ideologie eine antiwestliche Abgrenzungsideologie – als Feind fungiert dabei das romano-germanische Europa, dessen universalen Gültigkeitsanspruch die Eurasier, vor allem Trubezkoi in seiner Schrift „Ewropa i tschelowetschestwo“, unter dem Vorzeichen eines Kulturrelativismus zu dekonstruieren beabsichtigten (S. 112-129).

Zum Eurasismus der Zwischenkriegszeit gibt es, wie Wiederkehr in seiner Einleitung darlegt, bereits eine größere Anzahl von Arbeiten, angefangen von der ideengeschichtlichen Arbeit von Otto Böss von 1961. Der Gegenstandsbereich von Wiederkehrs Monographie umfasst jedoch nicht nur den Eurasismus der Zwischenkriegszeit, sondern auch die spät- und postsowjetischen Spielarten der eurasischen Ideologie, von der Theorie der Ethnogenese Lew Gumilews bis hin zu Aleksandr Dugins aggressivem Neoeurasismus. Schließlich geht Wiederkehr auf moderate Formen des Neoeurasismus wie die neokonservative Theorie des Politologieprofessors Aleksandr Panarin, das Eurasienverständnis der Zeitschriften „Westnik Ewrasii“ und „Ewrasija – Narody, kultury, religii“ und das primär wirtschaftlich motivierte Projekt einer Eurasischen Union des Präsidenten Kasachstans Nursultan Nazarbajews ein. Wiederkehrs Studie setzt sich das Ziel, jene fehlende Synthese zu bieten und die erwähnten Ausformungen des Eurasismus vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis zu seiner Renaissance an der Schwelle vom 20. ins 21. Jahrhundert zu behandeln (S. 14). Einen Versuch einer solchen Synthese stellt die Studie „Eurazjatyckie Imperium Rosji“ des polnischen Politologen Ryszard Paradowski von 2001 dar, doch erfasst sie die gemäßigten Varianten des Eurasismus im heutigen Russland nicht.

Wiederkehrs Untersuchung behandelt die verschiedenen Varianten des Eurasismus in diachroner Reihenfolge. Der größte Teil ist dem Eurasismus der Zwischenkriegszeit gewidmet (S. 33-192). Wiederkehr informiert über die Entstehungsgeschichte und den Niedergang der eurasischen Bewegung in den 1930er-Jahren, über die biographischen Hintergründe der Eurasier und über die Reaktionen auf die eurasischen Ideen in der russischen Emigrationsgemeinde. Wiederkehr zeigt auf, dass die Eurasier auf die „zentrale Unterscheidung der modernen Wissenschaftstheorie verzichten, nämlich auf die Unterscheidung zwischen realem Objekt und wissenschaftlichem Erkenntnisobjekt“ (S. 69). Der französische Slawist Patrick Sériot bringt dafür den Begriff des „ontologischen Strukturalismus“ ins Spiel, waren doch die Eurasier Trubezkoi und Jakobson führende Vertreter des Prager Strukturalismus. Das bedeutet konkret, dass die Eurasier versuchten, die reale (ontologische) Einheit Eurasiens auf der Basis von wissenschaftlichen Konzepten nachzuweisen – vermittels des geographischen mestoraswitije-Begriffs (in etwa: Kulturlandschaft), vermittels der linguistischen Sprachbundtheorie, vermittels des Nachweises einer historischen Einheit Eurasiens, vermittels der Annahme eurasischer ethnopsychologischer Typen und schließlich vermittels der vom slawophil-orthodoxen sobornost-Konzept inspirierten metaphysischen Personologie, die Eurasien als Kulturpersönlichkeit begreift. Wiederkehr zeigt, dass die Eurasier im Unterschied zu postmodernen Theorien über kollektive Identitäts- und Nationsbildung Eurasien nicht als diskursives Konstrukt betrachteten, sondern es essentialisierten (S. 74 und S. 108). Darüber hinaus reflektiert der Autor auch die ideengeschichtlichen Hintergründe, etwa die Slawophilie, die Kulturtypenlehre Danilewskis, die Philosophie der „gemeinsamen Tat“ Nikolai Fedorows etc.

Die Eurasier waren jedoch nicht bloß bestrebt, ein Ideengebäude zu errichten, sie hatten politisch-zukunftsgestalterische Ansprüche: Ihnen ging es darum, Russland-Eurasien vom romano-germanischen Europa abzugrenzen, es vom Bolschewismus zu befreien, wobei die Frage des Bolschewismus die Eurasier später in ein pro- und antibolschewistisches Lager spaltete und letztlich den Niedergang der eurasischen Ideologie herbeiführte. Auf der Basis ihres geschichtsphilosophischen Anspruches, Vergangenheit und Gegenwart einzig richtig zu verstehen, sahen sie sich verpflichtet, den künftigen Verlauf der Weltgeschichte in ihrem Sinne zu beeinflussen. Diesen Anspruch interpretiert Wiederkehr als Historizismus im Sinne Karl Poppers – eine durchaus schlüssige und passende Interpretation zumal im Hinblick auf den Eurasismus der Zwischenkriegszeit, da sie einerseits dessen starke kultur- und geschichtsphilosophische Dimension berücksichtigt, ohne gleichzeitig dessen politische Implikationen zu vernachlässigen.

Die politischen und gesellschaftlichen Visionen der eurasischen Ideologie waren antidemokratisch, antiindividualistisch und antiliberal, was sich im eurasischen Konzept der Ideokratie zeigt – ein Herrschaftsmodell, das die Eurasier in der Sowjetunion und im faschistischen Italien unvollkommen verwirklicht sahen (S. 129). Nur in sehr eingeschränkter Weise lässt sich der Begriff des Totalitarismus auf den Eurasismus der Zwischenkriegszeit anwenden, wie Wiederkehr am Beispiel des Totalitarismus-Modells Friedrichs und Brzezinskis aufzeigt – dies schon deshalb, weil die Eurasier das volle Ausmaß des Schreckens, das der deutsche Nationalsozialismus und die Stalin-Diktatur mit sich brachten, noch gar nicht kannten. Zudem wäre eine totalitäre Herrschaft, wie sie von Hitler und Stalin ausgeübt wurde, letztlich in einen Widerspruch zu den christlich-orthodoxen Fundamenten der Eurasier geraten – ein Widerspruch, der übrigens schon der eurasischen Ideologie selbst inhärent war, da diese davon ausging, dass es keinen individuellen Dissens zum harmonischen eurasisch-orthodoxen Konsens geben könne und nur die mangelhafte Wirklichkeit Zwang nötig mache. Dies ist auch der zentrale Unterschied zwischen dem klassischen Eurasismus und dem Neoeurasismus Aleksandr Dugins, der diesen Widerspruch von vorneherein zugunsten der Gewalt auflöst. Nicht umsonst war Dugin, noch bevor er den klassischen Eurasismus rezipierte, bereits mit dem Gedankengut der westeuropäischen Neuen Rechten vertraut (S. 234).

Auf etwa 100 Seiten behandelt Wiederkehr die Renaissance der eurasischen Ideologie im spät- und postsowjetischen Russland (S. 193-289), als deren bekannteste Träger der bereits erwähnte Aleksandr Dugin und früher noch Lew Gumilew gelten können. Die mit pseudonaturwissenschaftlichen Kategorien operierende Gumilewsche Theorie der Ethnogenese beruht auf einem biologisch begründeten Rassismus und Antisemitismus und legitimiert zumindest latent Völkermord (S. 203). Für Dugins neoeurasische Ideologie sind laut Wiederkehr drei Elemente konstitutiv, nämlich erstens Geopolitik, zweitens die Idee des „Dritten Weges“ („konservative Revolution“ und westeuropäische Neue Rechte) und drittens der Traditionalismus (mystische Geheimlehren, Verschwörungstheorien) (S. 248). Dugins komplexe Ideologie läuft, wie Wiederkehr treffend konstatiert, auf einen manichäischen Dualismus von Gut und Böse hinaus – der Feind ist nun aber nicht mehr wie im klassischen Eurasismus das romano-germanische Europa, sondern die USA (S. 261). Sowohl in Gumilews Theorie der Ethnogenese als auch in Dugins Neoeurasismus erkennt Wiederkehr eine historizistische Denkstruktur, wobei er für Dugins Ideologie zu Recht den Faschismus-Begriff im Sinne Griffins und Shenfields ins Spiel bringt (S. 267f.). Erwähnung verdient auch noch das Kapitel, in dem Wiederkehr auf die Reprintwelle von eurasischen Texten in den 1990er-Jahren eingeht – er interpretiert die (wissenschaftliche) Wiederentdeckung des klassischen Eurasismus als ein Symptom der Transformationskrise und als einen Versuch, das durch den Zusammenbruch des Kommunismus entstandene ideologische Vakuum zu füllen.

Eine eigenständige Leistung stellt die fast 80 Seiten umfassende Bibliographie dar – in ihr wird versucht, möglichst vollständig die eurasischen Originalquellen und die diesbezügliche Forschungsliteratur zu erfassen. Darüber hinaus ist ein breites Spektrum an geschichts- und kulturwissenschaftlicher, slawistischer und politikwissenschaftlicher Literatur eingearbeitet. Insgesamt ist Stefan Wiederkehrs Monographie als eine ideengeschichtliche Arbeit von seltener wissenschaftlicher Gründlichkeit und hohem theoretischen Reflexionsniveau zu bewerten.

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16.08.2008
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