C. Rauhut: Santería und ihre Globalisierung in Kuba

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Title
Santería und ihre Globalisierung in Kuba. Tradition und Innovation in einer afrokubanischen Religion


Author(s)
Rauhut, Claudia
Series
Religion in der Gesellschaft 33
Published
Würzburg 2012: Ergon Verlag
Extent
340 S.
Price
€ 42,00
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Michael Zeuske, Universität zu Köln

History is back – nicht nur in säkularen Ereignissen und Medienspektakeln um sie, sondern auch in Religionen, die eher für longue durée, Ideologie-, Diskurs- und Mentalitätswandel stehen. Claudia Rauhut nimmt sich in ihrer Doktorarbeit (Uni Leipzig) ausgehend von einer kritischen Reflektion des Begriffs und der Realität von „Religion“ vor, die gegenwärtige gesellschaftliche Verankerung der Santería - natürlich als eine „populäre, nationale Volksreligion“ Kubas (S. 22) – und ihrer Bedeutung im Alltag eines Landes, welches sich als „kommunistisch“ definiert, zu erforschen. Das Hauptproblem der Santería-Gläubigen auf Kuba (immerhin der patria de la santería als Cuba santa) besteht, nach Rauhut und meiner Meinung nach sehr richtig, aus einem zum Teil extrem lokalen Umfeld, das von einem starken kommunistischen Nationaldiskurs überwölbt ist und zugleich neue Formen der Partizipation in dynamischen Prozessen der Globalisierung und Transnationalisierung zu finden versucht, ohne die eigene Souveränität und Traditionen völlig aufzugeben.

Die Hauptthese des Buches geht aus von einem konstanten Balanceakt der Santería-Praktizierenden zwischen Teilhabe und Integration in globale Prozesse einerseits und der Behauptung größtmöglicher Souveränität im lokal bezogenen Handeln andererseits. Die Geschichte einer Globalisierung, die sich in den Mikroebenen stark kompliziert und in gewissem Sinne verwirbelt, im Sinne von Konflikten, Neuaushandlungen, Widerständen, Polarisierungen und Widersprüchen. Im Grunde, um das auch deutlich zu sagen, handelt es sich um eine Höhenkamm-Analyse der Santería in Havanna als zugleich globaler, atlantischer und transnationaler Metropole (auch und grade in historischer Dimension), die zugleich Teil eines heute recht abgeschotteten Inselstaates ist. Zu den dynamischen Prozessen auf der Insel minus Havanna wird man in dem Buch nichts finden.

Die Konstellation der Beobachtung (siehe die Ausführungen zur Stellung der Beobachterin, S. 19-20) sowie ca. 30 Interviews jeweils mit wissenschaftlichen und religiösen Expert/Innen (beide Kreise überlappten sich zum Teil) im gesellschaftlichen Kontext der späten Fidel-Ära (2000-2007) und unter sich von deduktiv (religiöse Globalisierung) zu empirisch (Rolle von Babalaos und Frauen) wandelnden Fragestellungen ergibt ein sehr interessantes Panorama. Es ist geprägt durch Perspektiven und Traditionsmodell des Babalaos und Ethnologen Victor Betancourt und eines dynamischen Schneeballsystems des Zuganges der Autorin zu Informant/Innen, dessen Anfang in der Entscheidung liegt, direkt an wissenschaftliche Expert/Innen heran zu treten. Deshalb ist das, was im Buch dargestellt wird, eher eine Art intellektueller Designreligion der Eliten Havannas und weniger der viel breiteren Welt der Volksreligion(en) auf Kuba (minus Havanna = „Interior“).

Der Grund dafür wiederum liegt im zunächst deduktiven und systematischen Herangehen, mit dessen Darstellung der inhaltlich Teil des Buches von Claudia Rauhut beginnt (Forschungsstand und theoretische Überlegungen, S. 31-52). Als Historiker hätte ich, wenn überhaupt, diese Partien an den Schluss gesetzt und mit Aussagen der Informanten begonnen. Aus Sicht des Historikers machen diese Konzept-Herleitungen wenig Sinn, zumal wenn sie mit Bezug auf Volksreligionen, die als Kulte des Sklaverei-Atlantik entstanden sind, mit Aussagen einhergehen, wie etwa dass die Praktikant/Innen der Santería kein „historisches Bewusstsein der Sklaverei verinnerlicht“ hätten (S. 46). Das wissen wir nicht, denn die Verfasserin hat in ihren Interviews danach nicht gefragt. Es ist auch grundsätzlich fraglich, ob Menschen, die, wenn auch nur irgendwie, wissen, dass sie von Versklavten abstammen, das preisgeben würden (eine bekanntes Problem der Postemanzipationsgeschichte). Das ist aber nicht das eigentliche Problem. Das eigentliche Problem sind Geschichtsrelativismus und Strukturfeindlichkeit heutiger Perzeptions-Konzepte. Auch Perzeptionen haben Strukturen und beruhen auf ihnen. Auch und gerade, wenn die Akteur/Innen sich dessen nicht bewusst sind. Mann/Frau kann über Sinn und Unsinn von Konzepten wie „Black Atlantic“, „Yoruba“ und „Diaspora“ trefflich streiten. Nicht streiten kann man darüber, dass nicht die Sklavereien und die Versklavten die eigentlichen Träger mobiler, transatlantischer Kulturen (zu denen diasporische oder mobile Kulte und Religionen gehörten) gewesen sind, sondern bei einiger Überlegung eher diejenigen, die sie von den Afrikas in die Amerikas verschleppten und dann wieder zurück nach Afrika fuhren, um neue Verschleppte zu transportieren.

Das Personal des Sklavenhandels und beeinflusst von diesem Personal die Verschleppten auf den Schiffen des Atlantiks (und danach erst an den unterschiedlichen Orten des Sklavereien) waren die Träger von Kulturen, die transkulturelle Religionen hervorbrachten, deren Ausgangsritual in der Initiierung von fiktiven Verwandtschaften (und damit möglicherweise von integrierten Kopien des christlichen Taufrituals) gelegen haben mag. Als „Personal“ fasse ich auch die im Buch erwähnten „Rückkehrer“, die oft auf Sklavenschiffen zurückkehrten oder dort als Köche, Übersetzer, Heiler, Kabinenboys, Lotsen, Ruderer oder Matrosen beschäftigt waren. Nur ein wirklicher, von Nation, auch von Trans-„Nationalität“ oder versteckter Imperialgeschichte völlig losgelöster Atlantic Approach ist hier sinnvoll und löst auch die vertrackte Creolization-Debatte, in dem er den Beginn (nicht den „Ursprung“!) der Kreolisierung in afrikanischen Territorien verortet, wo sie allerdings bis zur Passage des Atlantiks (dort fanden die den flow stabilisierenden Rituale statt, die sich auf die Neuformierung afroamerikanischer Gemeinschaften auswirkten, insofern haben Price und Mintz Recht) sehr instabil waren und durch den afrikanischen Sklavenhandel immer wieder zerrissen wurden.

Claudia Rauhut hat ihrerseits Recht, wenn sie sagt, dass all dies nur durch ethnologische Mikroforschungen und emische Perspektiven gelöst werden kann (S. 48). Die Frage, ob eine essentialistische Definition „Afrikas“, die es gibt, auf Kuba in den Aushandlungs- und Hierarchieprozessen wirklich Sinn macht; auch wenn viele kubanische Babalaos durch eine Reise zu den mythischen Ursprüngen sicherlich glauben, ihre Position in der Authentizitätsfrage verbessern zu können.

Insgesamt muss man wohl sagen, dass es sich um eine Dissertation handelt und dass es in den systematischen Wissenschaften nun einmal üblich ist, zu Beginn den gut geputzten Satz konzeptioneller Instrumente zu präsentieren. Das ist Claudia Rauhut, auch und grade in ihrer Kritik daran, sehr gut gelungen. Auch die Wiedergabe der Debatten um die Konstruktion von Yoruba (Diaspora, Lucumí, Nagô) im Rahmen des Afrika-Zentralismus und transatlantischer Interaktionen (bei denen allerdings auffällt, dass eben das Personal, weil verbunden mit dem Schweigefeld atlantisches Slaving, nicht oder kaum erwähnt wird). Was den Synkretismus betrifft, so bin ich aus historischen Gründen geneigt anzunehmen, dass Versklavte und auch das Personal aktiv die für sie augenscheinlich „stärkere“ Religion annahmen und sie aber (auch) für sich nutzten und Taufrituale mit Performanzen und Elementen anreicherten (Blutopfer, geweihte Steine, Kräuter, Tänze/ Rhythmen), die sie halt kannten und oft auch von Mitverschleppten übernahmen (vielleicht Synkretismus der Diaspora?). So funktionieren halt historische Konjunkturen. Die Synthese offener Prozesse unter historischen Konstellationen ist ein gutes Erklärungskonzept.

Das eigentlich Spannende ist aber die noch völlig unerforschte Dimension der dichten Hin- und Her-Transkulturationen des atlantischen Slaving unter Einschluss der Verschleppten. Auch die Frage, wie die Informationen zwischen Personal der Schiffe/ Häfen und Versklavten der Häusern und Plantagen flossen, ist neu und sehr spannend. Nicht umsonst fassten bestimmte Kulte/ Geheimgesellschaften nur in Hafenstädten Raum. Nicht die Cabildos in den spanischen Amerikas wären demnach die wirklichen Gründungsräume transkultureller Kulte und neuer Religionen - auch wenn das heute aus nationaler („lokaler“) Perzeption so erscheinen mag -, sondern der atlantische Raum davor und seine Portale/ Enklaven sind die originalen Orte der Transkulturation und der Translokalität, und auf ihm Atlantikkreolen und Schiffe. Claudia Rauhuts historischer Partien sind „ohne Personal“ geschrieben (mit Ausnahme der „Rückkehrer“). Das ist aber nicht ihr Fehler, sondern ein Manko des kulturellen Postkolonialismus, der nicht bereit ist, den offenkundigen Widerspruch zwischen quantitativ-sozialhistorischer (www.slavevoyages.org) und kulturwissenschaftlicher Forschung (Konzentration auf Versklavte/ captives/ Nichtbeachtung des Personal auch ehemaliger Sklaven im atlantischen Slaving) zur Kenntnis zu nehmen.

Die empirischen Teile des Buches von Claudia Rauhut sind wahre Fundgruben. Hier zeigt sich die Bedeutung der Feldanalysen vor Ort.
Nach einer kurzen Kontextanalyse (Santería und Kubanische Revolution, S. 87-97 mit Folklorisierung und Musealisierung; Zurückdrängung ins Private) geht die Autorin daran, ihre Ergebnisse für die Zeit ab 1990 darzulegen. Dabei wird deutlich, dass sie Reform der Religion auf Kuba nach 1990 den Reformschüben der Wirtschaft voranging. Sie folgte aber ähnlichen Mechanismen: etwas Informelles wurde erlaubt und aktiv genutzt, u.a., um unter Nutzung der Ergebnisse von Initiierten in der Wissenschaft das Authentizitätsmonopol der Chefs von Ritualfamilien (wieder) auszubauen und sie an den partiellen Öffnungen nach außen sowohl formell (Tourismus, Wissenschaft) wie auch persönlich (Freunde, Bekannte, Patenkinder) partizipieren zu lassen. Noch spannender ist die Integration eines Landes in den globalen Religionsmarkt unter Bewahrung konstruierter Authentizität. Kuba ist formell immer noch ein kommunistischer Staat und einer von starkem Zentralismus kontrollierten Wirtschaft. Private Akteure unterliegen extremer Kontrolle, so dass sich unter den Chefs von Ritualfamilien ein neuer Synkretismus (ich benutze den etwa abgelederten Begriff ganz bewusst) herausbildete – der Wissenschaftssynkretismus. Auch weil es (noch?) keine Santería-Theologie gibt. Dazu kommt, wegen der Touristifizierung des Landes, die neue Sichtbarkeit speziell von Santería-Praktiken, Läden, Ritualen, künstlerischen Darstellungen und Habita (Weißkleidung in der Probezeit). Die anderen Elemente der Volksreligionen, die nicht oder kaum (Stephan Palmié ist eine Ausnahme) von berühmten Literaten, Intellektuellen und Wissenschaftlern bearbeitet worden sind – Palo Monte, Abakuá, etc. – werden negativ dargestellt und erhalten nicht die Aufmerksamkeit der Santería und der Regla de Ifá.

All das analysiert Claudia Rauhut in den tragenden empirischen Kapiteln des Buches (S. 99-180). In dem folgenden Kapitel legt sie unter den Stichworten „Afrikanisierung Kubas“ (S. 181-205) die konkreten Einflüsse religiöser Globalisierung und des Yorubaisierungs-Modells auf Havanna dar. Das Kapitel 10 zählt zu den spannendsten Teilen des Buches. Es befasst sich mit Victor B., Víctor Betancourt Estrada, dem Protogonisten einer Re-Lucumiisierung Kubas („Traditionsmodell Lúkúmí“). Zum Programm soll auch die Initiierung von Frauen zu Babalaas (Iyáonifá) gehören. Das Reformprogramm basiert auf fast quellenkundlich genauer Relektüre der Texte in der Ritualsprache Lucumí und kontrollierter Transkulturation in Richtung Yoruba-Globalisierung. Eine Art Reformation soft. Das trifft natürlich, genau wie die schon vorher begonnene Entwicklung der so genannten línea Africana (Frank Cabrera – von Anfang an Babalao) und insgesamt die Afrikanisierung, auf den Widerstand der im Ganzen nicht-diasporischen Lucumí-Identität oder gar lucumí-kubanischen National-Identität der allermeisten Praktizierenden. Das Geheimnis löst sich einerseits mit Hilfe der microstoria – Victor B. war erst Initiierter des Palo Monte, dann der Santería und schließlich der Regla de Ifa (S. 207) und andererseits aus der longue durée-Psychopathologie der kubanischen Geschichte in ihrem Independencia-Narrativ. Was hat es seit 1868 nicht gekostet, möglichst viele in das Independencia-Lager, mit seinen militärisch-patriarchalischen Strukturen zu integrieren?! Auch die abschließenden Aussagen über Synkretismus und Nicht-Synkretismus (und das Verhältnis zu etablierten Kirchen) ist und bleibt sehr spannend.

Das Buch von Claudia Rauhut stellt einen sehr originären Forschungsbeitrag dar und ist Jeder/Jedem empfohlen, der sich mit den extrem dynamischen globalen und nationalen/ lokalen Prozesses von Diaspora-Religionen, natürlich in ihrer einzigartigen kubanischen Form (in Havanna), befassen will.

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09.05.2014
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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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