E. Noël (Hrsg.): Dictionnaire des Gens de Couleur dans la France Moderne

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Title
Dictionnaire des gens de couleur dans la France moderne (début XVIe s.-1792). Volume II: La Bretagne


Editor(s)
Noël, Erick
Series
Bibliothèque des Lumières 82
Published
Extent
964 S.
Price
CHF 102,00
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Matthias Middell, Global and European Studies Institute, Universität Leipzig

Dass Frankreich ein Einwanderungsland ist, wird niemand bestreiten, und doch hat sich die historische Forschung erst in den letzten zehn Jahren der zahlreichen Facetten einer Geschichte dieses Prozesses angenommen. Erick Noël hat vor einigen Jahren eine Geschichte der bislang weitgehend vernachlässigten „gens de couleur“ vorgelegt, die im Zuge des Sklavenhandels zwischen dem 16. Jh. und dem Ende des Ancien Régime nach Frankreich gelangt sind.1 Etwa 15000 Menschen vor allem afrikanischer Herkunft blieben für längere Zeit oder dauerhaft in Frankreich, jeweils etwa die Hälfte in der Pariser Region und in der historischen Bretagne mit dem Hafen Nantes, dem eigentlichen Zentrum des französischen Engagements im Sklavenhandel entlang der afrikanischen Westküste. Die katholisch gebliebene Bretagne profitierte dabei auch vom Bedeutungsverlust ihrer Nachbarprovinzen, deren Hafenstädte Zentren des Protestantismus gewesen waren und unter dem Exodus der Hugenotten und der scharfen königlichen Kontrolle litten. Das seit 1692 direkt mit der Hauptstadt durch den Canal d’Orléans verbundene Nantes wurde zum Ausgangspunkt für die vielfältigen atlantischen Aktivitäten seit 1657 besonders Richtung Guinea-Küste2, während die Konkurrenz aus Saint Malo erst eine Generation später in das Geschäft einstieg, es aber angesichts der Risiken, die die Seeüberlegenheit der Engländer heraufbeschwor, schon bald wieder verließ. Nicht zuletzt mit dem Zufluss von hauptstädtischem Kapital und der Immigration von Holländern und Iren 3 nahm der Handelskapitalismus in der Bretagne nach dem Frieden von Utrecht 1713 einen erheblichen Aufschwung, der allerdings durch die Attacken und zeitweisen Blockaden der britischen Navy immer wieder unterbrochen wurde. Gleichwohl trug Frankreich (mit Nantes eindeutig an der Spitze) für ca. ein Achtel des gesamten Sklavenhandels im 16. bis 19. Jahrhundert von Afrika in die Amerikas Verantwortung 4 und folgte Portugal und England in dieser seltsamen Rangliste. Nach den Berechnungen von Jean Mettas 5 gingen 42,7% aller Schiffe/ Schiffskonvois (1427 von 3341) im 18. Jh. von Nantes aus, womit von den schätzungsweise 1 Million Afrikanern, die auf französischen Schiffen im letzten Jahrhundert des Ancien Régime nach Amerika verschleppt wurden, ca. 450.000 auf das Konto der Nantaiser Kaufleute gingen.

Ein Seiteneffekt dieses gewaltigen Menschentransports waren die „nègres de nation“, jene Farbigen, die trotz prohibitiver Gesetze in die Metropole gelangten. Da ihre Zahl bei Weitem geringer war, bietet sich nach Auffassung Noels im Unterschied zu den vielen quantifizierenden Untersuchungen über die nach Amerika verbrachten Afrikaner eine qualitative Studie an, die in zahlreichen Qualifizierungsarbeiten von Studierenden um biografische Skizzen und Rekonstruktionen des Aufnahmekontexts ergänzt wurden.
Der vorliegende Band, der einem entsprechenden Verzeichnis für den Pariser Raum folgt, gibt in 7839 Einträgen Auskunft über die Farbigen in der Bretagne, von denen rund drei Viertel in Nantes verblieben, während das restliche Viertel in 59 weiteren bretonischen Gemeinden unterkam. Die Präsenz der Farbigen in Frankreich stand ganz eindeutig in Verbindungen mit den Praktiken des Kaufmannsmilieus – die Stadt des Parlements, Rennes, zählte gerade einmal acht farbige Zuwanderer im gesamten Untersuchungszeitraum.
Die Rechtslage erlaubte zunächst nur maximal ein-, später dreijährige Aufenthalte, aber wie immer war die soziale Praxis weit vielfältiger als es die juristischen Texte annehmen lassen – vom Dienstpersonal bis zur hochqualifizierten Verwalterin der Kolonialgeschäfte begegnet beinahe jede Beschäftigungsform und Lebensführung. Dabei gab es grundsätzlich nach französischen Recht keinen Sklavenstatus in der Metropole, aber natürlich scherten sich viele der im Sklavenhandel engagierten Kaufleute, Militärs, Schiffsleute und Finanziers nicht um solche Feinheiten und hielten viele mitgebrachte Afrikaner in größter persönlicher Abhängigkeit.
Skrupulöse Auswertung einer breit gestreuten Mischung von nationalen, regionalen und lokalen Quellenbeständen erlaubt, die wenigen Spuren, die viele dieser Einwanderer hinterlassen haben, aufzuspüren, indem all jene Orte und Momente besichtigt werden, an denen sie aktenkundig geworden sein könnten: von der oftmals ignorierten Meldepflicht innerhalb der ersten acht Tage nach Ankunft bis zur Beerdigung auf einem Gemeindefriedhof.
Hieraus entsteht Miniporträts, die zumeist das Ankunfts- oder Einschiffungsdatum enthalten, den oder die Namen, unter denen die Einwanderer in die Papiere aufgenommen wurden, gegebenenfalls ihre Herkunft und ihr Weg nach Frankreich sowie die zugehörigen Archivquellen.
Dieser Band ist nicht nur großartiges Beispiel angewandter Gelehrsamkeit, die nach vielen Jahren entbehrungsreicher Arbeit in den Archiven ein ganzes Kapitel der französischen Einwanderungsgeschichte neu zu schreiben erlaubt, sondern auch ein vorzüglicher Ausgangspunkt für weitere Recherchen.

Anmerkungen:
1 Erick Noël, Etre noir en France au XVIIIe siècle, Paris 2006.
2 Bernard Michon, Une expédition négrière d’un navire de Nantes de 1657, in: Revue d’Histoire Martime 6 (2006),S. 165-172.
3 Alain Croix (Hrsg.), Nantais venus d’ailleurs. Histoire des étrangers à Nantes, Rennes 2007.
4 Vgl. die Schätzungen, die sich zwischen Philip Curtin, The Atlantic Slave Trade. A Census, Milwaukee 1969 und Olivier Petré-Grenouilleau, Les traites négriers. Essai d’histoire globale, Paris 2004 mehrfach zwischen 10 und 12 Millionen verschoben haben.
5 Jean Mettas, Répertoire des expéditions négrières françaises au XVIIIe siècle, 2 Bde., Paris 1978-84.

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Published on
16.01.2015
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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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