M. Meyer: Remembering China from Taiwan

Title
Remembering China from Taiwan. Divided Families and Bittersweet Reunions After the Chinese Civil War


Author(s)
Meyer, Mahlon
Published
Extent
252 S.
Price
€ 28,70
Reviewed for Connections. A Journal for Historians and Area Specialists by
David Möller, Historisches Seminar, Universität Zürich

Im Juli 2015 besetzten Schüler/innen das Bildungsministerium in Taiwan, um ihrem Unmut über die Reform des Geschichtsunterrichts Ausdruck zu verleihen. Sie werfen der regierenden Guomindang (GMD) vor, durch die Änderungen des Lehrplans ihre eigene autoritäre Herrschaft in Taiwan von 1949 bis 1987 in einem positiveren Licht darzustellen und staatliche Gräueltaten – zum Beispiel die Verfolgung und Ermordung von Oppositionellen – zu verharmlosen. Zudem ließen sich die Änderungen als „pro-chinesisch“ bezeichnen, denn sie negierten die lokale Geschichte Taiwans sowie eine eigene nationale Identität des Inselstaates.

In Taiwan wie im restlichen Ostasien werden Geschichtsbücher oft zum Ausgangspunkt für öffentliche Debatten und Auseinandersetzungen. Die Guomindang, die sich nach der Niederlage gegen die Kommunisten im Jahr 1949 offiziell mit ungefähr zwei Millionen Soldaten, Offiziellen und deren Familienangehörigen nach Taiwan zurückzog, wird dabei oftmals mit der Bewertung der eigenen Vergangenheit und der Beziehung zum chinesischen Festland konfrontiert. Das vorliegende Buch von Mahlon Meyer bezieht sich auf solche Fragen von Identität und nationaler Verfasstheit, indem er sich derjenigen Bevölkerungsgruppe widmet, die in Taiwan am engsten mit der Guomindang und dem chinesischen Festland verbunden wird.

Meyers Analyse stützt sich auf eigene Oral History-Interviews mit Personen, die um 1949 vom chinesischen Festland nach Taiwan immigrierten und sich daher als waishengren (etwa: „Menschen von außerhalb Taiwans“) bezeichnen oder so bezeichnet werden. Sein „qualitative approach“, der nicht weiter erläutert wird, beschränkt sich auf neun Personen, die durch persönliche Netzwerke ausgewählt wurden. Da Meyer die Personen Mitte der 2000er-Jahre persönlich befragte, spielt der zeitliche Kontext der Interviews eine wesentliche Rolle für die Erinnerungen der Befragten. Mit der Wahl von Chen Shui-Bian zum Präsidenten der Republik China auf Taiwan im Jahr 2000 befand sich nun zum ersten Mal ein Politiker im höchsten Staatsamt, der nicht Mitglied der ehemals alleinherrschenden GMD war. Laut Meyer erlebten viele waishengren die Wahl und die folgenden acht Jahre als Verlust von Status und Macht, waren sie doch als Teil eben jener Politik- und Machtelite eingewandert, die nun abgelöst wurde. Daher hätten die Festlandchinesen zunehmend eine chinesische Identität imaginiert, die sich auf ein wirtschaftlich prosperierendes Festlandchina bezieht. Meyer schlägt deshalb vor, einen gemeinsamen chinesischen Erfahrungsraum anzunehmen, in dem alle Chinesen und Chinesinnen der letzten vier Generationen von „war, dislocation and changing identities“ (S. 8) geprägt waren.

Meyer gliedert seine Analyse in vier Kapitel, die in Form und Aufbau den Lebenserzählungen der Interviewten folgen. In Kapitel 1 geht er auf einzelne Narrative ein, die die Erinnerung seiner Interviewpartner strukturieren. Ausgehend von Erfahrungen von Krieg und japanischen Gräueltaten evozierten die Befragten Bilder von Flucht und Zerstörung, die sich mit gegenwärtigen Gefühlen des Machtverlustes verbinden. Der Wunsch nach Rückkehr in die Heimat und das Gefühl, für die wirtschaftliche Prosperität Taiwans Opfer gebracht zu haben, markierten einen Fluchtpunkt für gegenwärtige Enttäuschungen.

Auch im zweiten Kapitel lässt Meyer einzelne Personen in langen Passagen episodenhaft aus ihrem Leben erzählen. Die teilweise stark psychologisierende Interpretation der persönlichen Lebensschicksale wird in einen Kontext von Heimatverlust und verpassten Chancen, Gefühlen von Fremdheit und Überlegenheit sowie Konflikten mit der alteingesessenen Bevölkerung eingeordnet. Einen wichtigen Bezugspunkt bildet dabei die Familie. Zum einen fokussiert Meyer auf den Verlust der Familie auf dem Festland und auf die Heirat mit lokalen Taiwanerinnen, die meist gesellschaftliche Ablehnung erfuhr. Zum anderen zeigt er, dass nach 1987 – dem Jahr, in dem offiziell das Reiseverbot nach Festlandchina aufgehoben wurde – einige Interviewte in ihre alte Heimat zurückkehrten und dort mit der Entfremdung von ihrer eigenen Familie konfrontiert wurden. Meyer argumentiert, dass sich viele Festlandchinesen wie Waisenkinder fühlen, da sie sowohl in Taiwan isoliert als auch von ihrer Familie und Herkunft entfremdet seien (S. 115).

Das dritte Kapitel beschäftigt sich mit den nachfolgenden Generationen von Festlandchinesen in Taiwan. Meyer argumentiert, dass auch die zweite Generation vom Verlust der Heimat auf dem chinesischen Festland und der veränderten politischen Lage in Taiwan geprägt sei. Das ambivalente Verhältnis zur eigenen Herkunft und die Identitätskonstruktion erscheinen dabei abhängig von Erfahrungen in der Familie, den jeweiligen dominanten Diskursen um taiwanische Identität und Geschichte sowie der eigenen Position in einer sich demokratisierenden Gesellschaft.

In Kapitel 4 geht Meyer noch einen Schritt weiter, indem er Interviews mit Familienangehörigen seiner Gesprächspartner/innen auswertet, die auf dem chinesischen Festland geblieben sind. Anhand von drei ausgewählten Personen zeigt Meyer, dass den Angehörigen während der politischen Kampagnen in der Volksrepublik China – zum Beispiel die Kulturrevolution – Leid zugefügt und ihnen Chancen auf bessere Arbeitsplätze genommen wurden. Dies war das Resultat ihrer familiären Verbindungen nach Taiwan, obwohl sie ihre Familienmitglieder schon Jahrzehnte nicht mehr gesehen hatten. Das Wiedersehen war später von ökonomischer Disparität und unterschiedlichen Lebenswelten gekennzeichnet. Meyer ordnet die Erzählungen der Festlandchinesen in Taiwan und deren Angehörigen in historische Tendenzen der chinesischen Migration ein, wobei er die Bedeutung eines sich im Aufstieg begriffenen und wirtschaftlich prosperierenden Chinas für die Identitätskonstruktion der waishengren hervorhebt.

Meyers Studie über die Erinnerung von Festlandchinesen auf beiden Seiten der Taiwan-Straße erweist sich als ein interessantes und lesenswertes Werk, das durchaus ein breites Publikum erreichen kann. Indem Meyer seine Analyse dem Narrativ einer gemeinsamen, überregionalen chinesischen Erfahrung und Identität unterordnet, bleiben allerdings einige Aspekte der neueren Forschung zu Identitätspolitik und Ethnizität in Taiwan unerwähnt. Besonders in den letzten Jahren untersuchten viele Studien und Oral History-Projekte die Erinnerungen und Lebensgeschichten der ehemaligen Guomindang-Soldaten und deren Angehörigen.1 Entgegen der von Meyer postulierten gleichförmigen Ausrichtung auf Festlandchina zeigt sich, dass die Lebenserzählungen keinesfalls einförmig sind, sondern sich durch divergierende Erinnerungen und Bewertungen unterscheiden.

Zudem entwickelte sich seit den 1990er-Jahren eine rege wissenschaftliche Beschäftigung mit den verschiedenen ethnischen Gruppen in Taiwan, die selbst als Teil der Erinnerungsdiskurse und der Diskussion um die Verfasstheit Taiwans zu begreifen sind.2 Zwar fügt sich Meyers Werk in diese Forschungsliteratur ein, reflektiert dies inhaltlich und forschungspraktisch aber leider nicht. Deswegen wirken die Auswahl der geführten Interviews und die daraus abgeleiteten Erkenntnisse recht willkürlich. Zum einen befragt Meyer vor allem ehemalige hohe Staatsbeamte und Angehörige der festlandchinesischen Elite und macht so eine Differenzierung der Erinnerung anhand sozialer Kategorien von vornherein unmöglich. Die Lebenswirklichkeit vieler einfacher Guomindang-Soldaten bleibt ausgeblendet, was ein differenzierteres Bild verhindert. Zum anderen geht Meyer weder auf inhaltliche Diskussionen um ethnische Identität in Taiwan ein, noch verortet er individuelle Erinnerung in einem größeren gesellschaftlichen Kontext. Er verweist zwar auf die Rolle der politischen und sozialen Situation in Taiwan, führt dies allerdings methodologisch nicht weiter aus. An dieser Stelle hätte man sich gewünscht, dass der Autor näher auf die Frage eingeht, inwieweit der Zeitpunkt der geführten Interviews die Erzählung und Bewertung der Lebenserfahrungen beeinflusst und ob viele der Interviewten zu einem anderen Zeitpunkt ihr Leben in Taiwan nicht anders erzählen würden.

Trotz dieser Mängel leistet Meyers Studie dennoch einen wichtigen Beitrag zur Diskussion über die Bedeutung von chinesischer Nation, chinesischer Erinnerung und einer gemeinsamen chinesischen Erfahrung im 20. Jahrhundert. Dabei wirft Meyer die Frage nach der Beziehung von Taiwan und Festlandchina nicht direkt auf; sein Buch bietet aber Möglichkeiten, über die Frage abseits von machtpolitischen Erwägungen nachzudenken. Ebenso kann es dazu beitragen, die Erinnerungen an den Verlust der Heimat, Gewalt und Flucht im Zuge des Zweiten Weltkriegs nicht nur als genuin europäische Erfahrung zu verstehen, sondern als globales Phänomen.

Anmerkungen:
1 Siehe zum Beispiel: Joshua Fan, China’s Homeless Generation: Voices from the Veterans of the Chinese Civil War, 1940s–1990s, London 2011; Meng-Hsuan Dominic Yang / Mau-Kuei Chang, Understanding the Nuances of Waishengren. History and Agency, in: China Perspectives 3 (2010), S. 108–112.
2 Siehe zum Beispiel John Makeham / A-chin Hsiau (Hrsg.), Cultural, Ethnic, and Political Nationalism in Contemporary Taiwan, New York 2005; Stéphane Corcuff (Hrsg.), Memories of the Future. National Identity Issues and the Search for a New Taiwan, Armonk, NY 2002.

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09.10.2015
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