Russland als Imperium

Pietrow-Ennker, Bianca (Hrsg.): Russlands imperiale Macht. Integrationsstrategien und ihre Reichweite in transnationaler Perspektive. Köln 2012 : Böhlau Verlag, ISBN 978-3-412-20949-0 400 S. € 49,90

Norris, Stephen M.; Sunderland, Willard (Hrsg.): Russia's People of Empire. Life Stories from Eurasia, 1500 to the Present. Bloomington 2012 : Indiana University Press, ISBN 978-0-253-00183-2 365 S. $ 35.00

Woodworth, Bradley D., Brüggemann, Karsten (Hrsg.): Russland an der Ostsee. Imperiale Strategien der Macht und kulturelle Wahrnehmungsmuster (16.–20. Jahrhundert). Köln 2012 : Böhlau Verlag, ISBN 978-3-412-20671-0 423 S. € 49,90

Reviewed for Connections. A Journal for Historians and Area Specialists by
Franziska Davies, Historicum, Abteilung für die Geschichte Ost- und Südosteuropas, Ludwig-Maximilians-Universität München

Auch über zwanzig Jahre nach der Veröffentlichung von Andreas Kappelers wegweisender Studie zur Geschichte Russlands als Vielvölkerreich ist ein Ende des „imperial turns“ nicht abzusehen. Die Fragen, die an das Imperium gestellt werden, haben sich seitdem aber gewandelt. Anhänger einer „neuen Imperialgeschichte“ forderten in Auseinandersetzung mit Kappelers Werk, die Geschichte des Imperiums nicht nur als Beziehungsgeschichte zwischen imperialem, russisch dominierten Zentrum und den nationalen Bewegungen in seinen Peripherien zu erzählen, sondern auch die Bedeutung imperialer, regionaler und konfessioneller Identitäten und ihre Wechselwirkungen stärker in den Blick zu nehmen.1 Alle drei zu besprechenden Sammelbände ließen sich in mancher Hinsicht einer solchen „neuen Imperialgeschichte“ zuordnen. Alle haben sie das Ziel, unser Wissen über das russische und das sowjetische Imperium zu erweitern.

Der von Bianka Pietrow-Ennker herausgegebene Band zu „Russlands imperiale[r] Macht. Integrationsstrategien und ihre Reichweite in transnationaler Perspektive“ ist im Rahmen des Konstanzer Exzellenzclusters „Kulturelle Grundlagen von Integration“ entstanden. Die Auseinandersetzung mit „Machtmitteln“ (S. 16) dient als gemeinsamer Bezugspunkt. Dabei ist für eine Reihe der Beitragenden Michel Foucaults Annahme leitend, dass Machtverhältnisse diskursiv konstruiert werden. Pietrow-Ennker geht es darum, diese Dimension von Macht in inter- und transnationaler Hinsicht zu analysieren und dabei Prozesse der Interaktion und des Kulturtransfers sichtbar zu machen. Damit ist eine ganze Reihe von Forschungsfeldern eröffnet, und folgerichtig sind die Beiträge des Sammelbandes nicht nur in ihrem zeitlichen und regionalen Fokus, sondern auch thematisch recht heterogen. Die russische Begriffsgeschichte des 18. Jahrhunderts ist ebenso vertreten wie eine Analyse der sowjetisch-indonesischen Beziehungen der 1920er- bis 1960er-Jahre oder ein Aufsatz über den Einfluss von Vergangenheitsvorstellungen auf die heutige polnische und litauische Außenpolitik. Die einzelnen Beiträge sind bestimmten kulturwissenschaftlichen Fragestellungen zugeordnet, aus denen sich insgesamt vier einzelne Kapitel ergeben. Im Folgenden seien aus jedem dieser Kapitel jeweils einzelne Beiträge beispielhaft herausgegriffen.

Der erste Teil ist „Hegemonialen Konzeptbildungen“ gewidmet. Ricarda Vulpius’ Beitrag über „imperiales Denken“ (S. 38) im Russischen Reich des 18. Jahrhunderts steht in der Tradition einer „Kulturgeschichte des Politischen“, die durch einen diskursanalytischen Zugang nach der kulturellen Konstruktion politischer Identitäten fragt. Vulpius interessiert sich für die Selbstwahrnehmung russischer Eliten. Wie manifestierte sich ein bestimmtes Selbstverständnis in der Sprache? Welche Rückschlüsse erlaubt diese darüber, wie Zeitgenossen ihre Welt wahrnahmen? Welche Bedeutungsverschiebungen lassen sich dabei beobachten? Vulpius gelingt es, das sich formierende imperiale Selbstverständnis russischer Eliten aufzuzeigen, indem sie die allmählichen Bedeutungsverschiebungen zentraler Begriffe des imperialen Denkens (političnyj, ljudskost’, prosveščenie) nachweist. Vulpius leistet damit einen wichtigen Beitrag zur russischen Begriffsgeschichte des 18. Jahrhunderts.

Das zweite Kapitel setzt sich mit „Repräsentationsformen von imperialer Macht“ auseinander. Malte Rolf untersucht den Anteil imperialer Eliten an der städtischen Modernisierung Warschaus im 19. Jahrhundert. Galten die Repräsentanten zarischer Herrschaft lange Zeit als Bremser der Modernisierung, so vermag Rolf zu zeigen, dass es auch Beispiele von fruchtbarer Zusammenarbeit zwischen der polnischen und jüdischen Stadtbevölkerung auf der einen und der staatlichen Verwaltung auf der anderen Seite gegeben hat. Dabei offenbart sich die Heterogenität der russischen Administration in Polen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert: Während vor allem auf der Ebene der Generalgouverneure die Interessen des imperialen Zentrums Priorität hatten, war städtischen Verwaltungseliten durchaus an einer Modernisierung Warschaus gelegen.

Das dritte Themenfeld bildet die „Trans- und Internationalität diskursiver Machtstrategien“, dessen Beiträge ausschließlich dem 20. Jahrhundert gewidmet sind. Als ein „transnationales Geschäft“ begreift Martin Lutz die Versuche von Siemens, in den 1920er-Jahren in der sowjetischen Elektroindustrie Fuß zu fassen. In einer akteurszentrierten Perspektive macht Lutz deutlich, wie es letztlich auf Grund ideologischer Differenzen und unterschiedlicher Zielpräferenzen nicht gelang, eine stabile und vertrauensvolle Geschäftsbeziehung zwischen Siemens und dem sowjetischen Außenhandelsapparat herzustellen. Teil einer „visual history“ der Sowjetunion ist Isabelle de Keghels Aufsatz über die visuelle Repräsentation ostdeutsch-sowjetischer Beziehungen in der Illustrierten Ogonek. Bei ihrer Untersuchung von Pressefotografien zwischen 1949 und1964 kommt de Keghel zu dem einleuchtenden, aber auch nicht überraschenden Schluss, dass die visuellen Medien genutzt wurden, um die allmähliche Integration der DDR in den sowjetischen Raum zu kommunizieren und dabei das Machtgefälle zwischen den beiden Staaten festzuschreiben.

Den Abschluss des Bandes bilden „Widerständigkeiten und Gegenentwürfe als Formen von Desintegration“. Ein überzeugendes Beispiel dafür ist Robert Briers Beitrag über die „Außenpolitik“ polnischer Oppositioneller in den 1980er-Jahren. Brier zeigt auf, wie es diesen gelang, durch die Gewinnung internationaler Unterstützung eine Gegenmacht zur kommunistischen Regierung aufzubauen. Gleichzeitig wurde die Positionierung gegenüber polnischen Oppositionellen etwa in Frankreich oder in den Vereinigten Staaten von Amerika zu einem Mittel der innenpolitischen Auseinandersetzung.

Die kulturwissenschaftliche Analyse von Machtverhältnissen vermag als Strukturprinzip eines Sammelbandes nicht ganz zu überzeugen – zu groß ist die inhaltliche, aber auch die methodische Vielfalt, die sich dahinter verbirgt. Dennoch liest man jeden der skizzierten Beiträge (und eine ganze Reihe derer, die hier nicht aufgeführt werden konnten) mit Gewinn.

In einem Band, in dem der methodische Einfluss von Michel Foucault sowohl in der Einleitung als auch in vielen Beiträgen stark gemacht wird, vermisst man allerdings eine kritische Auseinandersetzung mit seinen Thesen – besonders, wenn es um die Sowjetunion geht. Kann das Diktum, dass Diskurse Macht überhaupt erst konstruieren, denn tatsächlich auch für Diktaturen gelten? In welchem Verhältnis stehen in einem totalitären System Diskurse und Macht? Sind es wirkliche sprachliche Diskurse, die Machtverhältnisse konstruieren oder sind in einer politischen Ordnung, in der dem tatsächlichen oder vermeintlichen Gegner im Extremfall die physische Vernichtung droht, nicht andere Machtmittel die letztlich entscheidenden? Ungeachtet dessen ist dieser Sammelband ein eindeutiger Beleg dafür, welche wertvollen Forschungsbeiträge eine kulturwissenschaftlich orientierte Imperiumsforschung leisten kann.

Karsten Brüggemann und Bradley D. Woodworth gehen mit „Russland an der Ostsee. Imperiale Strategien der Macht und kulturelle Wahrnehmungsmuster“ einen anderen Weg. Nicht ein methodischer Zugriff, sondern eine bestimmte Region steht im Mittelpunkt der Betrachtung. In ihrer Einleitung konstatieren Brüggemann und Woodworth, dass es hinsichtlich der baltischen Regionen noch einige Forschungslücken zu füllen gäbe. Zwar sei die Geschichte der Deutschbalten gut erforscht, dies gelte aber nicht für die Beziehungen der Region zum russischen und sowjetischen Imperium. Hier dominiere nach wie vor die Erzählung eines russifizierenden, imperialen Zentrums, gegen dessen Bestrebungen regionale Eliten ihre Autonomie verteidigten. Diese Deutung übersehe, dass solche Konfliktlinien sich erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts herauskristallisierten, als Petersburg sich bemühte, die baltischen Regionen stärker in das Reich zu integrieren. Die Aufsätze des Bandes sollen dazu beitragen, die russisch-baltischen Beziehungen nicht auf eine Geschichte der Eroberung und Unterdrückung zu reduzieren. Auch hier seien wieder aus jedem Kapitel einzelne Beiträge skizziert.

Der erste Teil setzt sich mit der Wahrnehmung der baltischen Region und Legitimationen imperialer Herrschaft auseinander. Die Aufsätze von Anti Selart und Aleksandr I. Filjuškin über den Livländischen Krieg und seine russischen und europäischen Deutungen bilden den Auftakt. Den Wandel der russischen bzw. sowjetischen Wahrnehmung der Ostseeprovinzen und des Baltikums in der neueren Geschichte zeichnen Karsten Brüggemann und Tobias Privitelli nach. Brüggemann legt einleuchtend dar, wie die Eliten des Russischen Reiches die kulturelle und ethnische Andersartigkeit der baltischen Region zunächst als eine Bereicherung und Ausweis der Europäizität ihres Imperiums deuteten. Erst im Verlauf der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und in Folge des Erstarkens des russischen Nationalismus wurde versucht, die Region als Teil des eigenen nationalen Territoriums zumindest mental zu vereinnahmen. Die kulturelle Dominanz der Deutschen wurde nunmehr als eine historische Ungerechtigkeit verstanden, die der Korrektur bedurfte. Unter anderen Vorzeichen stand die sowjetische Perzeption des Baltikums in den 1920er-Jahren. Die Propaganda der frühen Sowjetunion betonte die vermeintliche Unterdrückung und Ausbeutung der Arbeiterklasse in den unabhängigen baltischen Staaten, und ab 1934 wurden sie dem „faschistischen“ Lager zugerechnet.

Der Rekonstruktion des „imperialen Faktors“ verschreibt sich der zweite Teil. Die meisten Autor/innen setzten sich mit den Interaktionen zwischen dem russischen imperialen Zentrum und den baltischen Regionen auseinander. Lesenswert, wenn auch stark an seine frühere Publikationen anlehnend, ist der Beitrag von Theodore R. Weeks zur Rolle der Litauer in der „Russifizierungs“-Politik. In den Quellen dieser Zeit würden die Litauer vor allem durch ihre Abwesenheit auffallen. Dies sei zum einen durch den Vorrang sozialer und religiöser Kategorien gegenüber ethnischen auch im späten Zarenreich zu erklären, zum anderen aber auch damit, dass die Litauer von russischen Administratoren bis ins frühe 20. Jahrhundert schlicht nicht als ernsthafte Bedrohung wahrgenommen wurden. In den Augen Petersburgs war die „Russifizierung“ schließlich stets eine defensive Maßnahme. Trotz des Idealbildes einer allmählichen Homogenisierung der Bevölkerung ging es dem konservativen Regime in seinen westlichen Peripherien nie um eine systematische Assimilation der Nicht-Russen.

„Literarische Bilder und Propaganda“ bilden den dritten Schwerpunkt, bei dem sich deutliche Überschneidungen mit der im ersten Teil thematisierten Wahrnehmungsgeschichte ergeben. Dies liegt vor allem daran, dass Timur Guzairov und Jelena Nõmm noch einmal die sowjetische Wahrnehmung des baltischen Raums in den 1920er- und 1930er-Jahren aufgreifen. Eine genuin neue Perspektive bietet dagegen Katja Wiebe, die den Topos des Nordens in der russischen Literatur präzise dekodiert. Besonders die finnische Kultur diente russischen Literaten im späten 19. Jahrhundert als Inspirationsquelle. Estland figurierte dagegen vor allem als Landschaft, in der das künstlerische Ich zu sich selbst finden konnte.

Der Band schließt mit der Analyse des „lokalen Faktors im imperialen Kontext“. Evgeniya L. Nazarova stellt überzeugend das immer noch verbreitete Klischee der Letten als „Bauernnation“ in Frage und zeigt auf, dass ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Letten vermehrt als Offiziere oder Beamte in den Dienst des zarischen Staats traten. Die Präsenz von Letten in höheren Bildungseinrichtungen, im Eisenbahnbau und im Post- und Telegrafenwesen erhöhte sich ebenfalls. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war damit eine Generation von Letten herangewachsen, die nicht als Bauern geboren worden waren. Olga Kurillo entwirft ein differenziertes Bild der Russland-Vorstellungen deutschbaltischer Adliger während der Regentschaft Alexanders III. Trotz der Konjunktur anti-russischer Ressentiments gab es nach wie vor enge Kontakte zwischen Deutschbalten und Russen im lokalen Raum. Der Dienst für den Zaren in Armee und Verwaltung trug dazu bei, die Bindung an den russischen Staat aufrechtzuerhalten. Der Zar und seine Familie blieben auch während der „Russifizierung“ eine positive Bezugsgröße. Außerdem macht Kurillo noch einmal deutlich, wie stark Wahrnehmungsmuster von individuellen Erfahrungshorizonten geprägt waren: So waren anti-russische Vorstellungen besonders unter jenen Adligen verbreitet, die ihre baltische Heimat kaum verließen. Andere, die etwa als Militärangehörige Zeit in St. Petersburg verbrachten, wussten die pulsierende imperiale Hauptstadt durchaus zu schätzen.

Karsten Brüggemann und Bradley D. Woodworth haben einen gelungenen Sammelband vorgelegt, der neuere Forschungen zur russisch-baltischen bzw. sowjetisch-baltischen Geschichte bündelt. An Stelle der insgesamt drei Beiträge zur sowjetischen Wahrnehmung der baltischen Staaten in der Zwischenkriegszeit, wären auch ein oder zwei Beiträge etwa zum Zweiten Weltkrieg denkbar gewesen. Doch das Konzept, die vielfältigen Wechselbeziehungen zwischen Imperium und einer bestimmten Region in den Fokus zu stellen, geht auf. Ihrem eigenen Anspruch, den historischen Wandel der baltisch-russischen Beziehungen hervorzuheben und damit eine historische Perspektive jenseits von Unterdrückung und Gewalt zu eröffnen, sind Brüggemann und Woodworth dabei gerecht geworden.

Ein alternativer Ansatz zum regionalen Fokus ist der biographische, der in den letzten Jahren in der Imperiumsforschung an Beliebtheit gewonnen hat. Der Reiz besteht dabei darin, sich aus Großdeutungen der Imperialgeschichte zu lösen und stattdessen nach den Manifestationen von Imperien in individuellen Lebensläufen zu fragen. Wie lebte man in einem Imperium? Was können uns Biographien über die Funktionsweisen von Imperien sagen? In der gegenwärtigen deutschsprachigen Forschung gibt es mehrere Projekte, die sich mit „imperialen Biographien“ in den Vielvölkerreichen der Romanovs, Habsburger und Osmanen auseinander setzen. 2 Der von Stephen M. Norris und Willard Sunderland herausgegebene Band „Russia’s People of Empire. Life Stories from Eurasia, 1500 to the Present“ gehört ebenfalls in diese Kategorie. Menschen, die im russischen, sowjetischen oder post-sowjetischen Imperium (oder in mehreren der genannten) gelebt haben, werden in insgesamt 31 knappen biographischen Skizzen vorgestellt. Die Auswahl der Personen kann bei einem solchen Unterfangen nur arbiträr anmuten, was aber keineswegs schadet. Norris und Sunderland legen in ihrer Einleitung dar, worin sie die Bezugspunkte sehen, die diese Biographien zusammenhalten. Zum einen hätten diese Menschen alle „imperial lives“ (S. 6) gelebt. Zweitens habe jede Person in irgendeinem Verhältnis zur imperialen Herrschaft oder zu „cultural production“ (S. 6) gestanden. Drittens werde ein Querschnitt angestrebt: Frauen wie Männer seien vertreten, genau wie unterschiedliche soziale Schichten, bekannte Persönlichkeiten und unbekannte. Insgesamt positionieren sich Norris und Sunderland aber eher in der Tradition der Mikrogeschichte als in der Biographieforschung. Während die klassische Biographie dazu tendiere, das Singuläre und Besondere eines Individuums herauszustellen, sähe die Mikrogeschichte in jedem einzigartigen Leben immer auch das Typische: Jedes Individuum ist von den historischen Zusammenhängen geprägt, in denen es sich bewegt. Im besonderen Leben des Einzelnen spiegelt sich stets auch das Allgemeine, die großen historischen Umbrüche, der kulturelle Kontext. Während sich die Mikrogeschichte bisher vor allem mit Menschen beschäftigt habe, die in einer Geschichtsschreibung der „großen Männer“ nicht auftauchen würden, sei ein Ziel des Bandes den mikrogeschichtlichen Ansatz eben auch für Schlüsselfiguren der Geschichte fruchtbar zu machen.

Das übergeordnete Thema ist dabei stets die religiöse und ethnische Diversität, die ihre imperialen Lebenswelten gekennzeichnet habe. In einer ganzen Reihe der Lebensgeschichten gelingt dieses Unterfangen hervorragend. Faszinierend etwa liest sich Bradley D. Woodworths Porträt von Carl Gustaf Emil Mannerheim, als schwedisch-sprachiger Offizier aus Finnland ein loyaler Diener des Zarenreiches, dann vehementer Gegner der Bolschewiki und schließlich eine der bedeutendsten Figuren des unabhängigen finnischen Nationalstaates, dabei stets ein Mann, dem die Welt nach 1918 und ihre nationalstaatliche Verfasstheit fremd blieb – ein Mensch, der Zeit seines Lebens von dem Imperium geprägt war, das ihn hervorgebracht hatte. Charles Steinwedel erweitert seine Darstellung von Kutlu-Muchammed Batyrgireevič Tevkelev um eine familiengeschichtliche Dimension, indem er nachvollzieht, in welchen Funktionen Mitglieder dieser muslimischen Adelsfamilie aus der Wolga-Region über die Jahrhunderte in den Dienst des russischen Staates traten. Durch eine solche Perspektive kann Steinwedel den Wandel des imperialen Staates im Verhältnis zu seinen muslimischen Eliten nachzeichnen. Andere dieser „imperial lives“ sind weniger durch ihr Verhältnis zum zarischen Staat geprägt, sondern eher durch die unterschiedlichen Kulturen zwischen denen sie sich bewegten. Im Falle Nikolaj Gogols traten ukrainische und russische Identitätsentwürfe bisweilen konflikthaft aufeinander, die berühmte Ballerina Matil’da Kšesinskaja blieb bei all ihrer Verwurzelung in der russischen Kultur stets auch ihrer polnischen Herkunft verhaftet.

Einige Autoren verlieren den von Norris und Sunderland entworfenen Rahmen ein wenig aus den Augen, was die Qualität des Bandes aber keineswegs schmälert. So ist etwa Ronald Grigory Sunys Aufsatz zu Josef Stalin glänzend geschrieben, berührt aber die Frage nach dessen imperialer Prägung nur am Rande. Insgesamt ist der Sammelband dennoch Ausweis dafür, dass „imperiale Biographien“ uns etwas über das russische und sowjetische Imperium erzählen können. Dass sie dabei nicht immer etwas Neues erzählen ist unerheblich, denn sie können den Blick für Nuancen und Widersprüchlichkeiten schärfen, die bei Großerzählungen über den Aufstieg und Niedergang von Imperien nur allzu leicht übersehen werden.

Anmerkungen:
1 Trotz einer Vielzahl von Neuerscheinungen zur russischen und sowjetischen Imperiumsgeschichte in den letzten Jahren nach wie vor ein guter Überblick zu konzeptionellen Fragen: Ricarda Vulpius, Das Imperium als Thema der Russischen Geschichte, in: Zeitenblicke 6 (2007), Nr. 2, [24.12.2007], URL: <http://www.zeitenblicke.de/2007/2/vulpius/index_html> (14.02.2015).
2 Im deutschsprachigen Raum gibt es derzeit das deutsch-schweizerische Forschungsprojekt zu „Imperial Subjects. Autobiographische Praktiken und historischer Wandel in den Kontinentalreichen der Romanovs, Habsburger und Osmanen (Mitte 19. – frühes 20. Jahrhundert)“ (<https://dg.philhist.unibas.ch/bereiche/osteuropaeische-geschichte/projekte-konferenzen-initiativen/forschungsprojekte/imperial-subjects//>, 14.02.2015) sowie das Konferenz- und Forschungsprojekt „Imperiale Biographien. Elitekarrieren in den Vielvölkerreichen der Romanows, Habsburger und Osmanen (1850–1918)“ (<http://www.uni-bamberg.de/en/hist-oeg/team/prof-dr-malte-rolf/forschungsschwerpunkte/imperiale-biographien-elitekarrieren-in-den-vielvoelkerreichen-der-romanows-habsburger-und-osmanen-1850-1918/>, 14.02.2015).

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12.03.2015
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