S. Anagnostou: Missionspharmazie

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Title
Missionspharmazie. Konzepte, Praxis, Organisation und wissenschaftliche Ausstrahlung


Author(s)
Anagnostou, Sabine
Series
Sudhoffs Archiv 60
Published
Stuttgart 2011: Franz Steiner Verlag
Extent
465 S.
Price
€ 68,00
Reviewed for Connections. A Journal for Historians and Area Specialists by
Stefanie Gänger, Historisches Institut, Universität zu Köln

Sabine Anagnostou untersucht in ihrer 2011 erschienenen Habilitationsschrift das pharmazeutische Wirken von Missionsorden zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert weltweit: Sie erarbeitet die Bedeutung von Ordensapotheken als Stätten der Arzneizubereitung und Dispensierung und deren Zusammenwirken als Knotenpunkte eines globalen Heilmittel- und Wissenstransfers. Die Beschaffung, Herstellung und Verabreichung von Medikamenten, so das zentrale Argument Anagnostous, entwickelte sich im Rahmen der frühneuzeitlichen Expansion Europas zu einer „eigenen Form der Pharmazie einerseits und einem essentiellen Instrument der Mission andererseits“ (S. 82). Missionare durchforschten die materia medica Mittel- und Südamerikas und Ost- und Südasiens nach Substitutionsmöglichkeiten und stellten selbst Medikamente her – wie Anagnostou in einem ersten Teil des Buches erläutert, weil europäische Produkte aufgrund langer Transportwege kaum verfügbar waren und weil es ihnen die Wertschätzung der indigenen Bevölkerung sicherte. In einem zweiten Teil der Arbeit befasst Anagnostou sich am Beispiel von fünf heilkundlichen Kompendien mit missionspharmazeutischem Schrifttum: Das Anfang des 18. Jahrhunderts in den paraguayischen Jesuitenreduktionen entstandene Herbarium Materia médica misionera von Pedro Montenegro (1663–1728); der dem Jesuiten Sigismund Aperger (1678–1772) zugeschriebene, vermutlich im zweiten Drittel des 18. Jahrhunderts ebenfalls in den Reduktionen Paraguays entstandene Tratado breve de medicina; das 1725 wahrscheinlich als Lehrbuch verfasste Werk Pojha ñaña – Materia medica misionera o Herbario de las Reducciones Guaranies aus der Feder des Jesuiten Marcos Villodas (1695–1741); das 1712 in Mexiko gedruckte Florilegio medicinal des Jesuiten Johann Steinhöfer (1664–1716); und die auf dem philippinischen Archipel entstandene Schrift Remedios faciles para diferentes enfermedades des Jesuiten Paul Klein (1652–1717). Ein dritter Teil von „Missionspharmazie“ befasst sich mit der Errichtung – vorranging jesuitischer – Ordensapotheken in den urbanen Zentren der Missionsländer. Anhand der Kollegs-Apotheken von Santiago de Chile, Lima, Buenos Aires, Quito, Manila und – in kurzen Exkursen – Apotheken Brasiliens und des asiatischen Raums, zeigt Anagnostou deren Rolle als Stätten der regionalen und überregionalen Arzneiversorgung und deren Länder, Imperien und Kontinente übergreifende Vernetzung. Gestützt auf Inventare, Korrespondenz und die jesuitischen Litterae annuae – die Jahresberichte –, rekonstruiert Anagnostou, wie Medikamente aus Amerika und Asien durch die pharmazeutischen Netzwerke der Jesuiten Eingang in die europäische materia medica fanden und traditionelle europäische Arzneien umgekehrt in den landeseigenen Arzneischatz der Missionsgebiete. Sie macht die Dimensionen des Netzwerkes exemplarisch deutlich anhand des weltweiten Siegeszuges ausgewählter Substanzen und Komposita – anhand der Panazeen Goastein und Theriak, der peruanischen Chinarinde – die aufgrund natürlicher Alkaloide gegen Malaria wirksam war – und der philippinischen Ignatiusbohne, eines Emetikums.

Leserinnen und Leser, die sich von Sabine Anagnostous Buch aufgrund des Titels Erkenntnisse zur Geschichte der Missionspharmazie außerhalb der katholischen, oder gar der christlichen Kirche erhoffen, werden kaum fündig werden. Anagnostou kontrastiert die Geschichte der katholischen Mission abschließend zwar – in einem letzten, fünfunddreißigseitigen Teil, den sie als „Exkurs“ abgrenzt – am Beispiel Hallescher Pietisten mit der Rolle der Missionspharmazie in der protestantischen Glaubensverbreitung. Dennoch wäre ein etwas enger gefasster Titel der Studie sicher gerechter geworden: „Missionspharmazie“ ist tatsächlich in erster Linie eine Arbeit zur katholischen Missionspharmazie, mit einem deutlichen Schwerpunkt auf dem Wirken der Gesellschaft Jesu im spanischen Kolonialreich. Jesuitische Pharmazie in Spanisch-Amerika ist das langjährige Spezialgebiet der Autorin 1 und ihre Kenntnis auf diesem Gebiet und die Vielfalt der untersuchten Quellenbestände sind es gerade, die das Buch auszeichnen: „Missionspharmazie“ ist ein wertvoller, grundlegender und in seiner Form und Breite nahezu enzyklopädischer Beitrag zu einer Geschichte jesuitischen pharmazeutischen Wirkens während der Frühen Neuzeit. Das Buch bereitet eine Vielzahl kaum bekannter und unveröffentlichter Quellen akkurat und kenntnisreich auf – von den Bibliothekskatalogen jesuitischer Kollege bis hin zu seltenen Kompendien. Einige der von Anagnostou bearbeiteten Traktate sind bis heute nur handschriftlich überliefert, während andere aufgrund sprachlicher Barrieren kaum untersucht sind: das Pojha ñaña beispielsweise ist eine der wenigen fachlichen Schriften auf Guarani aus der spanischen Kolonialzeit und Anagnostou gibt einen wichtigen ersten Einblick in diesen Text. Historikerinnen und Historiker, die sich für frühneuzeitliche materia medica und Pharmazie oder für die Geschichte des Jesuitenordens interessieren, werden bei Sabine Anagnostou wertvolles Material, gekonnt analysiert und verortet, finden.

An manchen Stellen hätte sich Anagnostous Darstellung der beteiligten Akteure nuancierter gestalten lassen: Der Kontrast zwischen dem karitativen und bewahrenden Wirken der Jesuiten und „der Ignoranz der Konquistadoren“ (S. 185), den Anagnostou für Spanisch-Amerika zeichnet, wird der Vielschichtigkeit der kolonialen Realität sicher nicht gerecht: Ohne die Gelehrsamkeit oder die Fürsorge vieler jesuitischer Missionare bestreiten zu wollen, ist doch unleugbar, dass an der pharmazeutischen Erforschung der Pflanzen der Neuen Welt ebenso wie an der medizinischen Versorgung der Bevölkerung neben Jesuiten auch spanische, kreolische und indigene Intellektuelle beteiligt waren. Andere Punkte hätte man vielleicht ausführlicher thematisieren oder stärker problematisieren können: Die von Anagnostou bearbeiteten Kompendien stützten sich bei der Beschreibung und Anwendung der Medizinpflanzen nicht nur auf traditionelle Lehrmeister der abendländischen Heilkunde und auf die Werke zeitgenössischer Gelehrter zur amerikanischen und asiatischen Flora, sondern durchweg auch auf die Kenntnisse der einheimischen Bevölkerung. Anagnostou benennt diese Prozesse von Rezeption und Integration mehrfach (z.B. S. 185, 207, 210), befragt ihre Quellen aber nicht viel weiter – etwa auf den epistemischen Wert hin, den die Missionare dem Wissen ihrer „Informanten“ beimaßen oder auf die kulturellen Topoi, die Diskursen über deren „Empirie“ möglicherweise zugrunde lagen. Bedauerlich ist besonders, dass Anagnostou die Frage nach der Wirksamkeit der hergestellten und gelieferten Medikamente nicht anspricht. Die in der Forschung lange vorherrschende Vorstellung, die frühe Geschichte der Medikamente verdiene keine Aufmerksamkeit, weil medikamentöse Behandlung bis weit in das 19. Jahrhundert „mehr Schaden anrichtete als sie Gutes tat“ – so formulierten es jüngst Harold J. Cook und Timothy Walker 2 – ist seit langem in der Kritik und die Frage nach der Wirkweise von amerikanischen Heilpflanzen – etwa über natürliche Alkaloide – hat dadurch neue Relevanz gewonnen. Gerade wenn man wie Anagnostou argumentiert, ihre medizinische Tätigkeit habe den Missionaren das Wohlwollen der indigenen Bevölkerung gesichert, wäre es sinnvoll und interessant, sich der Frage zu stellen, ob die Heilmittel – innerhalb eines frühneuzeitlichen Erwartungshorizontes – wirksam waren. Half Contrayerba gegen Schlangenbisse (S. 177), war Aguaribaybalsam bei der Wundheilung hilfreich (S. 171), und ließ ein Pflaster aus Rosmarin Knochenbrüche schneller heilen (S. 165)? Anagnostou, als sowohl historisch wie auch pharmazeutisch ausgebildete Wissenschaftlerin, wäre sicher eine der wenigen im Feld, die kompetent Antwort auf Fragen dieser Art geben könnte.

Anmerkungen:
1 Sabine Anagnostou, Jesuiten in Spanisch-Amerika als Übermittler von heilkundlichem Wissen, Stuttgart 2000.
2 Harold J. Cook / Timothy Walker, Circulation of Medicine in the Early Modern Atlantic World, in: Social History of Medicine 26 (2013) 3, S. 1–15.

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02.07.2014
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