M. Thomas (Hrsg.): The French Colonial Mind

Thomas, Martin (Hrsg.): The French Colonial Mind. Volume 1: Mental Maps of Empire and Colonial Encounters. Lincoln 2011 : University of Nebraska Press, ISBN 978-0-8032-2093-5 424 S. $45.00 / € 33,96

Thomas, Martin (Hrsg.): The French Colonial Mind. Volume 2: Violence, Military Encounters, and Colonialism. Lincoln 2011 : University of Nebraska Press, ISBN 978-0-8032-2094-2 440 S. € 34,00

Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Sarah Ehlers, Humboldt-Universität zu Berlin

What is the French colonial mind? – mit dieser Frage eröffnet Martin Thomas das zweibändige Sammelwerk und bringt zu ihrer Beantwortung eine erlesene Auswahl von – mehrheitlich den englischen Sprachraum repräsentierenden – ExpertInnen der französischen Kolonialgeschichte zusammen. Das Ergebnis ist ein selbstbewusster Forschungsbeitrag, der durchaus als Handbuch des französischen Kolonialismus und seiner Wirkungen gelten kann. Die Bände wirken stringent konzipiert und in sich verzahnter, als ihre Entstehung aus einer Konferenz (University of Exeter, April 2007) vermuten ließe. Die gewählte Fragestellung zielt weniger auf Mentalitäten, als vielmehr auf eine kollektive Geisteshaltung ab, die sich in Normen und alltägliche Praxis übersetzte. Was Thomas als das Rückgrat des Empires bezeichnet, wird hier einerseits kulturell gerahmt, andererseits in spezifischen historischen Situationen und Begegnungen verortet.

Flankiert von zwei Einleitungen (Martin Thomas), einer einführenden Reflexion (Patricia Lorcin) und einem Fazit (Robert Aldrich) sowie der disziplinierten Ausrichtung der einzelnen Beiträge auf verbindende Fragestellungen hebt das Projekt kollektive Denkmuster hinter der französischen Kolonialherrschaft ins Licht und produziert damit lesenswerte Ergebnisse. Der erste Band gliedert sich in drei Abschnitte. Die erste Sektion versammelt Studien, die den colonial mind anhand der Wirkung kolonialer Begegnungen und Imaginationen fassbar machen wollen. Dies geschieht zum einen, indem nach Effekten kolonialer Erfahrungen für das Denken französischer Intellektueller (Emmanuelle Sibeud über Félicien Challaye und John Strachan über Fernand Braudel und Charles-André Julien) gefragt wird. Insbesondere der beeindruckende Aufsatz von Ruth Ginio zu französischen Vorstellungen über afrikanische Hexerei in den 1920er- und 1930er-Jahren verdeutlicht dabei, wie sehr koloniales Denken von Projektionen geprägt war, die das Herz der kolonisierenden Gesellschaft offenlegen. Weit abgehoben von afrikanischen Realitäten eröffnet sich am Gegenstand der Hexerei der Blick auf durch den kolonialen Kontakt herausdestillierte Ängste und Wünsche französischer Denker und Administratoren. Ebenfalls als realitätsfern charakterisiert Anne Raffin „Vichy’s official mind“ in Indochina, der, in die Praxis übersetzt, scheiterte. Die Idee, Jugendliche durch sportliche Aktivitäten an die Kolonialmacht zu binden, erzielte den gegenteiligen Effekt und förderte widerständiges politisches Bewusstsein und Nationalismus.

Die zweite Sektion zerlegt den colonial mind in die Aspekte Sprache, Kultur und Gemeinschaft und kreist dabei hauptsächlich um Fragen der Bildung, Erziehung und Religion. Die AutorInnen zeichnen Bildungswesen und Sprachpolitik als ein stark verregeltes und umkämpftes Feld, das immer von dem Wunsch durchdrungen war, die Identität der Kolonisierten zu formen. James D. le Sueur zeigt eindrücklich den wachsenden Glauben an das Kontrollvermögen von Sprache in Zeiten der schwindenden Macht. So bezeichnet er die französischen Versuche einer kontrollierten Arabisierung Algeriens in den späten 1950er-Jahren als Ausdruck der Hoffnung, durch die Förderung eines Maghreb-Arabisch panarabischen Tendenzen entgegenwirken zu können.

Die dritte Sektion hebt koloniales Denken über die Schwelle von 1945, indem verschiedene Facetten von official minds der Nachkriegszeit beleuchtet werden. Sämtliche Beiträge verdeutlichen die Prägekraft der Kolonialzeit. „[T]o what extent is the ‚global mind‘ the ,colonial mind‘ writ large?” fragt Lorcin in ihrer Reflexion dieser Transformationen. In der Diskussion imperialer Denkstrukturen, die losgelöst von Kolonialgebieten auskommen, liegen mögliche Antworten. Der Wandel imperialistischen Denkens ist Thema der Beiträge zu Kolonialbeamten in der Entwicklungspolitik (Véronique Dimier) und Politikgestaltung in Französisch-Westafrika (Tony Chafer). In seinem Portrait der Karriere des atypischen Kolonialpolitikers Henri Laurentie illustriert Martin Shipman dagegen, wie wenig Wirkung individuelles Denken zu entfalten vermochte, wenn es durch institutionalisierte Normen und ideologische Positionen eingehegt wird.

Unter dem Titel „Violence, Military Encounters, and Colonialism“ präsentiert sich der zweite Band im Vergleich deutlich geschlossener. Unterteilt in die Sektionen „Cultures of Violence in the Empire“ und „Colonial Minds and Empire Soldiers“ liegt die Emphase auf dem distinkten Charakter kolonialer Gewalt. In seiner Einleitung zum Verhältnis von kolonialem Denken und Gewalt sieht Thomas diesen in der Ambivalenz des Gegenstandes hervortreten: Gewalt sei konstitutiv für koloniale Herrschaft, unterhöhle sie aber im selben Moment. In eben dieser Verschmelzung gegenläufiger Tendenzen identifiziert Thomas ihre Eigenheit. Im Gegensatz zum Gros der Forschung stehen in den folgenden Aufsätzen nicht die Gewalttäter, sondern die Gewaltpraxen im Mittelpunkt. Eher gewöhnlich ist dagegen, dass sich die Mehrheit der Kapitel Algerien widmet.

Die erste Sektion versammelt Beiträge, die sich mit den Dynamiken und Logiken extremer Gewalt beschäftigen. Während William Gallois die Einschreibung von Massengewalt in die mental maps der Eroberung Algeriens analysiert, stellt Michael Vann gewalttätige Eskalationen im kolonialen Hanoi in den Mittelpunkt, deren Triebkräfte er in der obsessiven Angst der Weißen vor gewaltsamen Übergriffen identifiziert. Die zweite Sektion untersucht koloniale Attitüden und Umgang mit den Kolonisierten. Die Beiträge verhandeln dazu den Kontakt von weißen Männern zu afrikanischen Frauen, Aushandlungsprozesse im Angesicht des erstarkenden Islam, Debatten über und den Umgang mit Kolonialsoldaten und Zivilisten. Auch Gewalt als Strategie von „anticolonial minds“ findet hier seinen Platz: Neil MacMaster interpretiert den Algerienkrieg zu weiten Teilen als einen Bürgerkrieg, dessen alltägliche Gewalt der Bevölkerung mehr und mehr den Raum nahm, keine Stellung zu beziehen. Der zweite Band schließt mit einer Reflexion Robert Aldrichs über die Bewegungen der Forschung und gesellschaftliche Auseinandersetzungen im postkolonialen Frankreich. Obwohl als „Conclusion“ betitelt greift Aldrich kaum die zuvor ausgelegten Stränge auf. Vielmehr erweitert er den French colonial mind um eine weitere Facette, indem er die Nachwirkungen einer kolonialen Geisteshaltung auf den Umgang mit Kolonialgeschichte diskutiert.

Mit seinen vergleichsweise kurzen, aber durchweg auf hohem Niveau und pointiert geschriebenen Beiträgen stellt „The French Colonial Mind“ eine entscheidende und innovative Bereicherung der Forschung dar. Zwei Kritikpunkte bleiben dennoch in der Gesamtschau zurück. So wird erstens kaum eine Perspektive entwickelt, die über nationalen Zugriff hinausreicht. Was bei vielen vergleichbaren Projekten zwar wünschenswert wäre, aber nicht wirklich schmerzt, ist hier ernsthaft bedauerlich. Was ist kolonial am French colonial mind, fragen sämtliche AutorInnen und bieten mit ihren Antworten ein Panorama von faszinierenden Einblicken und Thesen. Und was ist daran französisch, fragte ich mich, als ich von spätkolonialen Versuchen las, über verschiedene zivile Vehikel die Identität der Kolonisierten zu formen, über Kontinuitäten zur Entwicklungshilfe und über Gewaltspiralen, die sich zwischen Allmacht und Ohnmacht hochschrauben? Eine gesteigerte Aufmerksamkeit, nicht nur für vergleichbare Fälle, sondern auch für interimperiale Dynamiken, Konkurrenz- und Kooperationsphänomene, hätte vielen Beiträgen gut getan. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass koloniale Praxis nach dahinterliegenden Verhaltensmustern und nach breiter identifizierbaren Geisteshaltungen befragt wird, wirkt das Verweilen im französischen Kontext fast einengend.

Zweitens finden sich einige blinde Flecke, die den Wert des Projektes nicht schmälern, deren Erhellung die Forschung in diesem Zusammenhang aber verdient hätte. So wird der/die LeserIn in Thomas’ Einleitung mit medizinischen Metaphern, Verweisen auf die Schlüsselfunktion von Experten und Reflexionen zu Frantz Fanons Erfahrungen und seinem Denken angefüttert, doch in der Folge bleibt eine Auseinandersetzung mit kolonialer Wissenschaft und auch Kolonialmedizin aus. Auch spielt, abgesehen von Owen Whites Aufsatz, Gender keine Rolle für die Analyse des colonial minds. Diese Leerstelle wird von Lorcin offensiv benannt: Das vorliegende Werk präsentiere einen rein männlichen colonial mind. Während sie deshalb von der Forschung die Beschäftigung mit dem „female colonial mind“ einfordert, wäre dem vorliegenden Werk bereits mit weniger gedient gewesen: Es stellt sich bei mehreren Aufsätzen der Eindruck ein, dass Geschlecht für die beschriebenen Dynamiken eine Rolle spielt, in der Analyse aber unbenannt bleibt.

Diese Kritik speist sich mehr aus den immensen Erwartungen, die ein Projekt wie dieses zwangsläufig weckt, als aus tatsächlichen Schwächen. Wer sich für das Zusammenspiel von Denken und Handeln, für französische Kolonialgeschichte und ihre Auswirkungen interessiert, wird hier souveräne Antworten und Anstöße finden.

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18.10.2013
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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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