S. Conermann: Die multikulturelle Gesellschaft in der Sackgasse?

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Title
Die multikulturelle Gesellschaft in der Sackgasse?. Europäische, amerikanische und asiatische Perspektiven


Author(s)
Conermann, Stephan
Series
Bonner Asienstudien 3
Published
Extent
234 S.
Price
€ 34,80
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Lena Springer, Universität Wien

Das Thema dieses komparativ angelegten Sammelbands ist hoch politisch. Strategien im Umgang mit Migration werden in ihrem historisch gewachsenen Korsett vorgestellt und die Übertragbarkeit von einem „Modell“ z.B. aus Kanada, den USA oder den Niederlanden nach Deutschland wird kritisch hinterfragt. Aktueller Hintergrund ist die noch immer breite Skepsis in Deutschland gegen den Wandel zu einem Einwanderungsland. Wie im Vorgriff auf die medienwirksamen Absagen von Angela Merkel an „Multikulti“ im Oktober letzten Jahres sowie der Zustimmung Nicolas Sarkozys und David Camerons bietet der Band so noch zwei Jahre nach der Publikation (2009) Stoff für Reaktionen auf die nun erneut aufgeheizte Frage, ob „Die multikulturelle Gesellschaft in der Sackgasse?“ stecke.

Ein Teil der Antwort liegt bereits in der regional breit gestreuten Suche nach Lösungsansätzen: in verschiedenen Teilen Europas, Nordamerikas und Asiens. Bei genauerem Hinsehen entpuppen sich die jeweiligen nationalen und subnationalen Integrationsstrategien in ihren Implikationen für das nationale Selbstverständnis und den Rollenzuweisungen an Immigranten als sehr unterschiedlich. Die Autoren illustrieren durch ihre Vergleiche von politischen Anstrengungen und historisch gewachsenen Animositäten die Probleme der aufnehmenden Staaten und Regionen statt - wie im populistischen Diskurs allzu verbreitet - Probleme auf der Seite der Immigranten zu suchen.

Bi-kulturelle Spaltung der Empfängergesellschaften
„Multikulturalismus“ bedeutet „kulturelle Vielfalt“, eine „Utopie“ oder konkrete „politische und juristische Maßnahmen“ entsprechend jener Vielfalt und Ideale (S. 140, 154). Einblicke in die Immigrationspolitik „im Schatten“ (S. 26) der jeweiligen historisch gewachsenen Identitätspolitik (S. 142 f., 155, 169) von unterschiedlichen Nationalstaaten eröffnen den Blick auf die innenpolitischen Ursachen für das Selbstverständnis und den Umgang mit Migranten. Akteure auf verschiedenen politischen und gesellschaftlichen Ebenen werden unterschieden.

In den empfangenden Gesellschaften Kanada, USA und den Niederlanden sowie in Deutschland sind diesbezüglich deren kulturinhärente Spaltungen entscheidend. Das schwierige Erbe des Schwarz-Weiß-Denkens in den USA aus der Erfahrung der Ausgrenzung von ehemaligen „schwarzen“ Sklaven wird ins Treffen geführt. Die zumindest angestrebte historische Errungenschaft der gegenseitigen Anerkennung von französisch und englisch Kolonialisierten in Kanada (S. 147) bildet die Grundlage für die spätere Politik gegenüber Migranten. Heute „ist das Kantonesische die dritte Landessprache Kanadas“ (S. 149); Familien sind zur guten Hälfte transnational durchmischt (S. 160). Die niederländische Politik der Anerkennung von gleichberechtigten religiös-kulturell identifizierbaren Vereinigungen von Migranten geht laut Rosemarie Sackmann auf die Wertschätzung des Nebeneinanders von Calvinisten und Katholiken zurück (S. 122f.). Der Blick auf die Bundesländer, die in Deutschland am Beispiel des sekundären Bildungswesens stark die Integrationspolitik bestimmen, zeigt deutlich, das „uneinheitliche Bild“ (S. 98): zwischen verschiedenen Bundesländern einerseits und zwischen Absichtsbekundungen auf Bundesebene im Gegensatz zu „wechselnden ad-hoc-Initiativen“ auf Landesebene - in Nord-Rhein-Westfahlen eher noch als in Bayern.

Neben der so von Elif-Esra Senel in Frage gestellten Politik der „Integration“ wird im Beitrag zur indonesischen Minderheitenpolitik ein anderer überstrapazierter Begriff dekonstruiert: der allzu pauschal gebrauchte Begriff der „Einheit in Vielfalt“. Die Autoren der Beiträge zum kanadischen Modell (S. 163) und zu Indien im selben Band machen jedoch nicht deutlich, warum sie diesen indonesischen Nationalslogan aus den Zeiten Sukarnos und Suhartos aufgreifen. Die über Indien hinaus relevante Identifikationstheorie wäre eher die von Louis Dumont, der zufolge das Andere, i.e. Sikh, als Teil des machtvollen Selbst, i.e. Hindu, verstanden wird. „Indigene Ressourcen“ der hinduistischen Religion und vage „Bruchstellen zwischen Subkulturen“ (S. 191) unterscheidet Heinz Werner Wessler jedoch in ihrem Pluralismus von heutigen „monokulturellen“ Verfälschungen und als vorbildhaft für eine „traditionsgebundene“ Zukunft, die Indien Europa voraus habe.

Deutschland als zukünftiges Einwanderungsland: Internationale und subnationale Vergleiche
Die Autoren formulieren ausdrücklich oder implizit Ratschläge an Entscheidungsträger und die deutsche Öffentlichkeit. Ein deutsches Modell sei laut Sabine Sielke noch zu entwickeln, wozu die multikulturelle Gesellschaft weiterhin als eine „Utopie“ „produktiv“ genutzt werden könne und sich sogar als „notwendig“ erweise (S. 154 f.). Kanada ziehe staatliche Politik zur Anerkennung „sichtbarer Minderheiten“ und indigener „erster Nationen“ (S. 149) vor, während in US-Amerika pauschal Werte für entscheidend gehalten werden. Rainer Geißler nennt die wichtige „Management-Annahme“ (S. 163), der zufolge multikulturelles Zusammenleben nach kanadischem Modell erst durch gezielte „politische Ermutigung und Förderung“ zu erreichen sei.

Dass der internationale Vergleich auf die im breiten Diskurs für vorbildhaft gehaltenen Staaten fällt, lässt sich klar nachvollziehen. Warum aber sonst keine Staaten in Europa behandelt werden, sondern einer aus Südasien (Indien) und einer aus Südostasien (Indonesien) sowie die Türkei, lässt sich nicht erraten. Asiatische Perspektiven werden knapper in das Gesamtbild einbezogen, als es der Untertitel vermuten lässt. Vor allem wird Asien gar nicht erst als Modell für Deutschland in Betracht gezogen. Hierzu wäre in Asien z.B. der Fall des ehemals faschistischen Japans hilfreich für weitere Vergleiche, insofern hier die Schwierigkeit im kulturellen Selbstverständnis so wie in Deutschland auch groß war, als klar wurde, dass Einwanderer ohne politische Absicht längst Teil der japanischen Gesellschaft und Wirtschaft geworden waren (Sassen 1993).

Trotz der politischen Frage im Titel gehört das Abwiegen und Verallgemeinern von politischen Ideen als solche nicht zum thematischen Rahmen des Bandes. Sami Nair, der ehemalige Berater der französischen Regierung und des Europäischen Parlaments in Migrationsfragen, prägte die für zukünftige Politik entscheidende Idee der Ko-Entwicklung: Durch gezielte Entwicklungspolitik in den Herkunftsregionen soll der Druck gemindert werden, der zu Emigration führt, sowie außerdem – wie bereits von der Weltbank aufmerksam gemessen – indirekt durch informelle Rücküberweisungen von Migranten dorthin. Solche translokalen Flüsse und inoffiziellen Netzwerke kommen wenig zur Sprache. Zuletzt betonte Nair diese multikulturelle Perspektive im Lettre International (Nr. 91) unter dem Titel „Europa wird mestizisch“.

Angesichts dieser Tatsache zeigen Berichte wie z.B. die der European Stability Initiative (ESI), dass Deutschland keineswegs vorbildlich in der konstruktiven Auseinandersetzung mit dem Nebeneinander und Überlappen von vielfältigen immigrierten Gruppierungen ist. Stattdessen zieht die ESI Erfahrungen aus Balkanländern und der Türkei heran. Die deutschsprachigen Länder haben zeithistorisch bedingt mit besonders großen innenpolitischen Widerständen gegen die Tatsache zu kämpfen, dass kulturelle Beziehungen heute allerorts komplexer geworden sind. Während die Kultur und Geschichte aller anderen behandelten Staaten in dem Band analysiert wird, bleibt neben den recht trockenen Schilderungen der Forschungs- und Dokumentationspraxis in Deutschland ein Einblick in die Hintergründe dieser Hürden bei der Förderung von Immigration aus.

Vor allem Ausführungen zum sozial- und politikwissenschaftlichen Forschungsstand in Deutschland füllen die Hälfte der Seiten dieses Bandes. Das Vorwort konzentriert sich vor allem auf die jüngere Forschung hier, die v.a. am Beispiel der offiziellen Migrationsberichte der letzten zehn Jahre in der politischen Beratung einflussreich sein konnte. Wie in der Reihe „Bonner Asienstudien“ und weiteren im Band aufgeführten Reihen üblich, sind die Autoren in Deutschland tätige Forscher. Allgemein ziehen die Autoren für ihre Ausführungen geläufige internationale Fachzeitschriften der Migrationsforschung und Kulturanthropologie kaum zu Rate. Die Beiträge von v.a. Sabine Sielke und von Bekim Agai fallen dabei durch die aufschlussreiche Bibliographie besonders positiv auf.

Zum Ende der 2010er-Jahre ist die Gesamteinschätzung von Migration selbst in der internationalen Forschung weniger optimistisch als die in den 2000er-Jahren betonte Weltoffenheit und Wertschätzung der notwendigen Beiträge von Immigranten zur wirtschaftlichen und demographischen Entwicklung. Migration wird in ihrer Heterogenität differenzierter betrachtet. Hinter allzu naiven Bildern von schrankenloser Entwicklung „von unten“ durch Ströme von Migranten steckte meist das Paradigma neoliberaler Märkte (De Haan 2008). Der Band trägt dazu bei, der seit den 1990er-Jahren wachsenden Flut von empirischen Einzelbeobachtungen über Migranten – in all ihrer lokalen Vielfalt und sozialen Schichtung – kulturhistorisch fundierte Analysen an die Seite zu stellen, welche die nationalen Hemmschuhe und subnationalen Reaktionsversuche herausarbeiten, in denen Muster von Migration erst vergleichend interpretiert und in transnationalen Strukturen und Austauschprozessen erkannt werden können. Der Herausgeber verzichtet zwar ausdrücklich darauf, Überlegungen zur Auswahl der im Band zusammengestellten Regionen oder Vergleiche zwischen den jeweiligen dortigen Erfahrungen anzustellen (S. 8, 19). Dieser Umstand mindert jedoch nicht den entscheidenden Impuls durch die Auswahl der Beiträge, der trotz des Verzichts auf dezidierte Worte zu den historischen Erfahrungen und Immigrations-Modellen weitere Vergleiche anregt.

Literatur
De Haan, Hein 2008, Migration and development. A theoretical perspective, working paper 9, International Migration Institute, University of Oxford (IMI)
European Stability Initiative (ESI) 2010, The Great Debate. Germany, Turkey and the Turks, Part I intellectuals, www.esiweb.org (15.05.2011)
Fassmann, Heinz/ Reeger, Ursula/ Sievers, Wiebke, Statistics and Reality, Amsterdam University Press, Amsterdam 2009
Nair, Sami 2011, Europa wird mestizisch, Lettre International, Nr. 91.
Sassen, Saskia, Economic Internationalization. The new migration in Japan and the United States, International Migration (1993) Vol. 31, pp. 73-102

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Published on
05.11.2011
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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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