P.-C. Hsiung: A Tender Voyage

Title
A Tender Voyage. Children and Childhood in Late Imperial China


Author(s)
Hsiung, Ping-Chen
Published
Stanford, CA 2007: Stanford University Press
Extent
378 S., 47 Abb.
Price
$ 29.95
Reviewed for Connections. A Journal for Historians and Area Specialists by
Heike Frick, Department of East Asian Languages and Cultures, Indiana-University-Bloomington

Unter dem Titel "A Tender Voyage. Children and Childhood in Late Imperial China” legt Hsiung Ping-Chen acht faszinierende Beiträge zum Thema Kind und Kindheit im späten Kaiserreich (circa 1400-1911) vor, die aus historischer Perspektive Perzeptionen sowie reale Bedingungen und Faktoren von Kindheit anhand einiger zentraler Bereiche wie der Kinderheilkunde, der physischen Bedingungen des Aufwachsens und des sozialen Lebens skizzieren. Darüber hinaus reflektiert Hsiung Ping-Chen in zwei an den Schluss gestellten Beiträgen unter der Überschrift “Multiplicity” und auch im Nachwort zu Herausforderungen, Möglichkeiten und Schwächen bisheriger China-bezogener und historischer Kindheitsforschung.

Der erste Teil des Buchtitels “A Tender Voyage” konnotiert mehrere Bedeutungen. Ursprünglich eine Metapher buddhistischer Provenienz charakterisiert sie das menschliche Leben als eine risikobehaftete und leidvolle Reise. Im späten Kaiserreich ist der Terminus eine gängige Umschreibung kindlicher Fragilität (S. 27). Der Titel lässt sich aber auch auf die historische Kindheitsforschung übertragen, die sich den Herausforderungen und Schwierigkeiten dieses unter Historikern noch wenig beachteten Themas mit Umsicht und „Mitgefühl“ zu stellen hat.

Hsiung Ping-Chen zufolge stellt die vorliegende Sammlung vor allem einen ersten Schritt dar, historische Erkenntnisse zu Kind und Kindheit in China in größere historische Zusammenhänge einzubetten (S. 7). Historische Kindheitsforschung kann und sollte einen Beitrag leisten zu Fragen der allgemeinen Geschichte und nicht als Ersatz oder etwas Additives verstanden werden, das an die allgemeine Geschichte angehängt wird. Ebenso wie “gender” ein historisches Konstrukt ist, sollten auch “Alter” und “Lebenszyklus” verstärkt als sich historisch wandelnde Faktoren in die Rekonstruktion von Geschichte integriert werden, auch wenn, wie Hsiung Ping-Chen konstatiert, die Gruppenzugehörigkeit und die Region des Aufwachsens sicherlich einen entscheidenderen Einfluss auf die Erfahrungswelt der Kinder zeitigte als Alter und gender (S. 194).

Anhand der Beiträge zu den physischen Bedingungen von Kindheit, dem sozialen Leben und zu "girlhood" in China werden zwei historische Brüche in China nachgewiesen, in denen sich ein deutlicher Wandel im Verhalten als auch im Erkenntnisstand gegenüber Kindern abzeichnete: die Herrschaft der Südlichen Song (1161-1279) und die Ming-Dynastie (1368-1644). In der ersten Periode formierte sich erstmals eine eigenständige Kinderheilkunde. In der zweiten kam es zu einer weiteren Ausdifferenzierung des physischen Verstehens von Kindern, und es erschienen philosophische Traktate, die auf eine liberalere und dem natürlichen Wesen des Kindes näherkommende Behandlung im Alltag drangen und den rigiden Erziehungsvorstellungen neokonfuzianischer Orthodoxie entgegenliefen.

Den historischen Bruch Ende des 16. Jahrhunderts, bedingt durch Urbanisierung, Kommerzialisierung, die Ausformung neuer sozialer Schichten und die Entstehung innovativer Formen populärer Unterhaltung, wirkten sich auch auf die Kinder aus. Vor allem in der häuslichen, familiären und frühkindlichen Erziehung weist Hsiung Ping-Chen einen Wandel der Einstellungen zum und Konzepte vom Kind nach, die nicht zuletzt auch Ausdruck des gesteigerten Konkurrenzdrucks in einer sich sozial, ökonomisch und kulturell wandelnden Gesellschaft waren: die verstärkt auftretenden Forderungen eines auch die Mädchen einbeziehenden frühkindlichen Unterrichts, der hohe Stellenwert, der frühkindlicher Erziehung beigemessen wurde, sowie die weitverbreitete Akzeptanz und Praktizierung von Sanktionen als Bestandteil kindlicher Erziehung. Zugleich verweisen die Quellen auf eine neue Praxis im Umgang zwischen Eltern und Kind, die nicht nur durch eine starke emotionale Bande zwischen Müttern und Söhnen, sondern in den höheren sozialen Schichten auch durch eine emotionale und häufig tolerante Haltung gegenüber Töchtern gekennzeichnet war.

Hsiung Ping-Chen fordert den Leser auf, bei der Rekonstruktion historischer Kindheiten die subjektiven Stellungnahmen der Kinder in stärkerem Maße zu berücksichtigen. Diese Forderung ist nicht neu, aber im Kontext historischer Kindheitsforschung in ihren Realisierungsmöglichkeiten begrenzt. Wenig historische Materialien zur subjektiven Wahrnehmung und Erfahrungswelt der Kinder sind überliefert, und selbst biografisches und autobiografisches Material stellt im Nachhinein konzipierte Erinnerung dar, die von der Umwelt sehr stark mitgeprägt sein kann. Die von der Autorin vorgeschlagene Einbeziehung der "weißen" Flecken, das heißt die Interpretation des Nichtvorhandenseins kindlicher "Stimmen" und „Partizipation“, scheint ebenso sinnvoll wie eine stärkere Miteinbeziehung der materiellen Objekte kindlicher Lebensräume (S. 260). Auch Hsiung Ping-Chens Aufforderung, Kindheiten nach genderspezifischen Gesichtspunkten zu erschließen, ist sicherlich ein wichtiges Anliegen, aber schwierig in Anbetracht der Quellenlage und der Tatsache, dass die meisten Konzepte auf geschlechterspezifische Nuancen verzichten.

Hsiung Ping-Chen definiert für die späte Kaiserzeit drei unterschiedliche Konzepte vom Kind: Erstens die Kontextualisierung des Kindes (zi, tong oder yu) als soziales Wesen. Als sozial bestimmtes Konstrukt definierte sich das Kind als jüngstes Mitglied einer konfuzianisch geprägten sozialen Hierarchie gegenüber den anderen (älteren) Familienmitgliedern. Der soziale Status des Kindes konnte folgerichtig nicht per se als etwas Singuläres oder Unabhängiges gedacht werden, sondern immer nur in Beziehung zu anderen, zumeist älteren Personen des familiären Umkreises.

Ein zweites Deutungsmuster entwickelte sich im Bereich der Kinderheilkunde und in den frühkindlichen Erziehungsmustern. Auf biophysischen Entwicklungsmodellen fußend, wurde die Zeitspanne der Kindheit in zeitliche (Entwicklungs-)Phasen unterteilt, die durch bestimmte kognitive Fertigkeiten, aber auch durch spezifische Formen von Pflege und Fürsorge gekennzeichnet waren.

Ein dritter Deutungsbereich von Kindheit entwickelte sich im Kontext von Philosophie und Religion. In buddhistischen und taoistischen Vorstellungen finden sich Deutungen vom Kind in abstrakter Form als ein spezifischer geistiger Zustand in der Natur des Menschen. Kindliche Natur und “angeborene Unschuld” (S. 23) werden als Seele und Ausdruck des wahren Menschseins gelesen und finden sich in idealer Weise auch im Erwachsenen verkörpert.

Die drei Definitionen vom Kind traten nicht sukzessive sondern gleichzeitig in Erscheinung. Ein wichtiges Anliegen Hsiung Ping-Chens ist es daher, und hier kritisiert sie weitgehend bisherige Forschungen zur Kindheit in China, den Gegenstand klarer zu umreißen. Dazu gehört nach ihrer Auffassung eine explizitere Definition der Konzepte, eine Spezifizierung des Alters im Rahmen des Forschungsgegenstandes “Kindheit” als auch die Vermeidung von zu vagen und schnellen Schlussfolgerungen, die regionale und zeitliche Unterschiede nivellieren. Auch Thesen, wie etwa bei Ariès, die eine kontinuierliche Verbesserung der Erfahrungswelt Kind postulieren und von einer ”Entdeckung” des Kindes in der Moderne sprechen, sollten in ihrer Übertragbarkeit auf China hinterfragt werden.1 Hsiung Ping-Chen widerspricht diesem Paradigma westlicher kindheitsbezogener Forschung auf das Schärfste, da es auf den chinesischen Kontext keinesfalls zu übertragen sei. “If Philippe Aries had known Chinese and the world of China, he probably would have hesitated before making his assertion that until relatively recent times people had little notion of children or childhood.” (S. 220)

Aber gerade hier ist vielleicht auch ein Missverstehen von Hsiung Ping-Chen verwurzelt. Das Vorhandensein unterschiedlicher, auch kindzentrierter Konzepte bedeutet meines Erachtens nicht, dass nicht auch einzelne Konzepte zur Disposition gestellt werden können, die eine “Entdeckung“ des Kindes als soziales Wesen andeuten. Dies negiert nicht das Vorhandensein früherer Vorstellungen, aber es verweist beispielsweise auf die in der Republikzeit erfolgte soziale Anerkennung des Kindes als Wesen mit eigenen Interessen, Bedürfnissen sowie emotionalen und kognitiven Fähigkeiten, die erstmals nicht den Normen der erwachsenen Welt unterstellt werden sollten, oder eine Gegenkultur konzipierten, um bestimmte Sachverhalte der Erwachsenenwelt und -ordnung zu kritisieren, sondern die das kindliche Wesen in seinem eigenen Recht zur Wurzel und Grundlage einer neuen sozialen Ordnung erhoben. Die Umkehr der Hierarchien galt vielen Intellektuellen der Republikzeit als die einzige Möglichkeit, China erfolgreich zu reformieren.

Insgesamt aber ist mit diesem Buch ein wertvoller Beitrag zu einer sich noch in ihren Anfängen befindenden historischen Kindheitsforschung in China gelungen. Konzepte zu Kindheit im späten Kaiserreich werden definiert und Überlegungen erstellt, wie Kinder als Randgruppen der Geschichtsforschung intensiver bei der Rekonstruktion von Geschichte einbezogen werden können. Darüber hinaus ist der vorliegende Band ein erster Schritt, Konzepte und Realitäten von Kindheit in China zu einer Sozialgeschichte historischer Kindheitsforschung zu vereinen, da sich bisherige Publikationen entweder weitgehend auf die Analyse der Konzepte zu Kindheit 2 oder aber auf die Rekonstruktion der Erfahrungen vom Aufwachsen von Kindern 3 beschränkten. Bleibt zu hoffen, dass weitere Arbeiten folgen werden, die Kindheiten in China rekonstruieren, systematisieren und in größere historische Zusammenhänge einbetten.

Anmerkungen:
1 Ariès, Philippe, Centuries of Childhood. A Social History of Family Life, New York 1962.
2 Kinney, Anne Behnke (Hrsg.), Chinese Views of Childhood, Honolulu 1995.
3 Saari, Jon L., Legacies of Childhood. Growing up Chinese in a Time of Crisis, 1890-1920, Cambridge u.a. 1990.

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11.06.2008
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