J. Allen: Lost Geographies of Power

Title
Lost Geographies of Power.


Author(s)
Allen, John
Published
Oxford 2003: Wiley-Blackwell
Extent
232 S.
Price
€ 32,99
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Adèle Garnier, Graduiertenkolleg "Bruchzonen der Globalisierung", Universität Leipzig

Die Forschung über den Raumbezug des menschlichen Handelns ist in den letzen Jahren über fachliche Grenzen hinweg exponentiell gewachsen, wie es die epochal anmutende Bezeichnung „spatial turn“ bezeugt.1 Zunächst wurde die Fixierung auf den Nationalstaat als neutraler Container des Sozialen in Frage gestellt und die Wichtigkeit anderer Ebenen wie des Globalen und des Lokalen betont.2 Die Koexistenz, Konkurrenz oder zyklische Erscheinung verschiedener Raumordnungen, die soziale Interaktionen prägen, ist auch Gegenstand der Analyse geworden.3 „Raum“ scheint in den Geistes- und Sozialwissenschaften eine nicht mehr zu übersehende Kategorie geworden zu sein. In diesem Zusammenhang irritiert der Titel von John Allens Werk „Lost Geographies of Power“. Die Grundthese Allens, Professor für Wirtschaftsgeographie an der Londoner Open University, lautet etwas provozierend: obwohl das räumliche Machtvokabular mittlerweile sehr umfangreich geworden ist, seien die Geographien der Macht insofern verloren gegangen, als die spezifischen Verwobenheiten von Macht und Raum übersehen werden.

In der Einleitung definiert Allen „power“ bzw. „Macht“ 4 als „relational effect of social interaction“ (S. 2). Macht wird hiermit als Wirkung definiert und nicht als Ressource. Für Allen werden Ressourcen in Machtbeziehungen zwar eingesetzt, bilden aber nicht die Macht an sich, entgegen alltäglicher Redenwendungen wie „to hold power„ bzw. „Macht besitzen“. Darüber hinaus strebt Allen einen differenzierten Umgang mit dem Machtbegriff an. Hier geht es ihm, knapp formuliert, um die „lost modalities of power“, bzw. um die seiner Auffassung nach aus dem Blick geratenen Typen sozialer Interaktionen, die durch den Einsatz von Ressourcen als unterschiedliche Machtmodalitäten bezeichnet werden können. Zum einem unterscheiden sich diese Machtmodalitäten entlang der dadurch hergestellten sozialen Beziehungen zwischen Macht mit dem Anderen bzw. assoziativ (Verhandlung oder Überredung zum Beispiel) und Macht über den Anderen bzw. instrumentell (untern anderem Herrschaftsbeziehung und Autorität), zum anderen durch den geographischen Ausdruck dieser sozialen Interaktionen: die Machtmodalitäten pflegen einen unterschiedlichen Umgang mit Nähe und Distanz.

Das Wiederfinden und Verstehen der verlorenen „modalities“ und „geographies“ der Macht diene dem emanzipatorischen Ziel, Möglichkeiten des sozialen Wandels herauszuarbeiten: „For it is (…) where we are able to recognize the powerful and not so powerful forces that face us, that the possibility for empowerment lies” (S. 12).

Allens Grundthese sowie seine Machttypologie werden entlang zweier Argumentationslinien weiterentwickelt.
Im ersten Hauptteil des Werkes (Kapitel 2 bis 4) geht es Allen um eine Untersuchung des raumbezogenen Vokabulars unterschiedlicher sozialwissenschaftlicher Machttheorien. Er ordnet diese Literatur in drei Kategorien von Raumverständnissen ein, denen er jeweils ein Kapitel widmet. Zunächst werden Theorien untersucht, die Macht als eine dinghafte Ressource verstehen, die sich räumlich von einem Zentrum zu einer Peripherie problemlos verteilen ließe. Dieses Machtkonzept findet Allen in Werken von Hobbes über Weber bis zur aktuellen Globalisierungsliteratur. An diesem Machtverständnis kritisiert er die Gleichstellung der Machtfähigkeit (bzw. Ressource) mit der Machtausübung. In einer raumbezogenen Perspektive sei die Vorstellung einer sich linear verbreitenden Macht bedenklich, als würde der Raum in der Machtverbreitung keine Rolle spielen. Die aktuelle Globalisierungsliteratur zeige zwar die Pluralität der Machtzentren und –peripherien, verabschiede sich jedoch nicht vom Konzept einer linearen Machtverbreitung. Im darauffolgenden Kapitel widmet sich Allen dem Konzept der Macht als Produkt sozialer Netzwerke, die sich schwer lokalisieren lässt. Diese Machtvorstellung findet er bei Parsons, Giddens, aber auch in Arendts Vorstellung der assoziativen Macht sowie in der Netzwerkliteratur um Castells. Die Leistung dieser Theorien sieht Allen in ihrer Betonung der Rolle der sozialen Netzwerke, die komplexe Machtgefüge transportieren. Jedoch wird erneut die Problemlosigkeit dieser Diffusion im Raum kritisiert. Abschließend werden Foucaults und Deleuzes Machttopologien und -diagramme kommentiert. Allen lobt die Hervorhebung des räumlich-zeitlichen Kontextes in diesen Analysen, bemängelt jedoch die Vorstellung einer sehr undifferenzierten (meistens als Herrschaftsbeziehung fungierenden) und immanenten Macht.

Im zweiten Hauptteil des Buches (Kapitel 5 bis 7), der den Kern von Allens eigener Analyse bildet - und auch „lost geographies“ betitelt ist - , wird betont, dass Raum 5 machtinhärent sei. Allen zeigt inwiefern Nähe und Distanz durch den Einsatz der anfangs dargestellten Machtmodalitäten konstruiert werden. Hierbei greift er Latours Konzept der „translation“ in Netzwerken auf, nach welchem der „Machttransport“ in einem Netzwerk von der erfolgreichen Vermittlung dieser Macht durch die Netzwerkteilnehmer abhängt.6 Somit ist soziale Distanz trotz physisch-geographischer Nähe möglich, falls der „Machttransport“ mangels erfolgreicher Vermittlung scheitert. Der Erfolg der Vermittlung hängt nicht zuletzt von der Machtmodalität ab, die weiterkommuniziert werden soll. In dieser Hinsicht kritisiert Allen Nikolas Roses Konzept des „governing at a distance“.7 Rose übersehe, dass das Postulat einer perfekt vermittelbaren (bzw. „übersetzbaren“) Regierungsmacht bis zu ihren entferntesten Bürgern problematisch sei, weil die „governance“ bzw. Regierbarkeit den Einsatz unterschiedlicher Machtmodalitäten voraussetze (nicht nur wie von Rose angenommen Autorität, sondern auch Verführung und Manipulation), die durch unterschiedliche Raumbezüge funktionierten. Sogar Autorität beruhe auf der Herstellung einer gewissen sozialen Nähe, weil sie von der Zustimmung der Regierten abhänge. Die Macht der Regierung „at a distance“ sei stark an ihrer erfolgreichen „Übersetzung“ gekoppelt, und diese sei nicht selten fehlerhaft.

Anschließend liefert Allen eine ausführliche Studie eines Abschnitts von Lefebvres „The Production of Space“, in welchem die Machtbeziehungen an der Londoner Börse untersucht werden.8 Lefebvre zeige zwar, wie soziale Nähe und Distanz vor Ort durch alltägliche Praktiken und Codes räumlich produziert würden, allerdings spielten dabei für Lefebvre nur Herrschaftsbeziehungen eine Rolle. Allen hebt anhand desselben Beispiels die anderen Machtmodalitäten hervor, die auch präsent seien. Autorität, Manipulation und Verführung zeigten sich hier auch am Werke.9

Allen schlussfolgert einerseits, dass Macht nur in der Form von Machtmodalitäten und nur raumbezogen existiere: „there is no everywhere to power“ (S. 183) und andererseits, im abschließenden achten Kapitel dass der Raumbezug jeglicher sozialer Interaktion konstruiert sei: „there are no simple proximities“ (S. 193).

Mit diesem Werk liefert Allen ein herausforderndes, interdisziplinär angelegtes Plädoyer für ein verräumlichtes Machtverständnis. Das Buch ist klar strukturiert und lässt sich trotz der Fülle an verwendeten Theorien und Konzepten durch seine klare und präzise Sprache gut lesen. Bis auf die an Lefebvre angelegte ausführlichere Studie der Londoner Börse sind die empirischen Beispiele knapp gehalten. Es geht hier um die Entwicklung einer eigenen Theorie, die sich auf einen umfangreichen wissenschaftlichen Fundus stützt.

Seit seiner Erscheinung wird das Werk in der englischsprachigen politischen Geographie diskutiert, wobei Allen an der Diskussion teilgenommen hat.10 Gelobt wird die umfangreiche Machtanalyse aus dieser fachlichen Perspektive, da Macht in der politischen Geographie nicht selten als „black box“ fungiere.11

Kritisch betrachtet werden Allens Machtverständnis sowie seine Machttypologie. Allen verstehe Macht als politischen Begriff, der wenig auf alltägliche Machtmechanismen eingehe. Dies stelle die angelegte Interdisziplinarität des Ansatzes in Frage.12 Die Brauchbarkeit der Machtkategorien in der politischen Geographie sowie ihre Wissenschaftlichkeit werden auch debattiert. Allens Machtmodalitäten entsprächen eher seiner persönlichen Komplexitätsreduktion als weitreichend empirisch verwendbaren Kategorien, oder diese seien so abstrakt dargestellt, dass ihre empirische Wirklichkeit schwer zu konzipieren sei.13

Im Hinblick auf Allens Absicht einer Theoriefundierung können diese kritischen Betrachtungen als Ermutigungen verstanden werden, die empirische Haltbarkeit seiner Theorie zu testen. Tatsächlich reflektieren die im Buch eher spärlich vorhandenen Beispiele die akademische Herkunft des Verfassers und sind meistens politökonomischer Natur. Jedoch schließt die theoretische Konstruktion von vorne herein keine Bereiche aus.

Mit Blick auf fachübergreifende, empirische Tests ist es daher wünschenswert, dass das Werk über Fachgrenzen hinaus eine breite Leserschaft findet.

Zwei tiefgreifendere Einwände werden in die Diskussion eingebracht. Für Sayer bilde die konzeptuelle Fixierung auf Macht als Wirkung sozialer Interaktion und die Ablehnung der Ressourcen als Macht an sich eine unnötige Beschränkung der Analysereichweite.14 Low vermisst eine deutlichere Trennung zwischen Machtbeziehung und anderen Formen des sozialen Handelns.15 Eine Präzisierung des generellen Machtbegriffs vor dessen Aufteilung in Kategorien sei also wünschenswert. Tatsächlich klärt dieses in vieler Hinsicht hervorragende Buch die Frage nicht, ob jegliche soziale Beziehung eine Machtbeziehung ist, also ob es machtfreies Handeln gibt und welche geographies dieses hervorbringt – vielleicht der Stoff für weitere Studien des Autors.

Anmerkungen:
1 Einen trotz des Buchtitels fachübergreifenden Überblick über die Formierung und Entfaltung des spatial turn in den Sozialwissenschaften gibt Doris Bachmann-Medick in: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek 2006, Kapitel „Spatial Turn“, S. 284-328.
2 Vgl. Berking, Helmut, Raumtheoretische Paradoxien im Globalisierungsdiskurs, in: ders. (Hg.), Die Macht des Lokalen in einer Welt ohne Grenzen, Frankfurt am Main 2006, S. 7-22 und kritisch zur Dichotomie global/ lokal: Stäheli, Urs, The outside of the global, New Centennial Review 3(2003)2, S. 1-22.
3 Vgl. Brenner, Neil, Beyond state-centrism? Space, territoriality, and geographical scale in globalization studies, in: Theory and Society 28(1999)2, S. 39-78; Engel, Ulf; Middell, Matthias, Bruchzonen der Globalisierung, globale Krisen und Territorialitätsregime. Kategorien einer Globalgeschichtsschreibung, in: Comparativ 12 (2005)5/6, S. 5-38.
4 Hier wird „power“ der Einfachheit halber mit „Macht“ gleichgesetzt, auch wenn beide Begriffe sprachlich nicht genau deckungsgleich sind.
5 Allen merkt an, dass auch Zeit machtinhärent sei, auch wenn dies nicht im Zentrum seiner Analyse steht.
6 Vgl. u.a. Latour, Bruno, Re-assembling the Social. An Introduction to Actor-Network Theory, Oxford 2005.
7 Vgl. u.a. Rose, Nikolas, Power of Freedom. Reframing Political Thought, Cambridge 1999.
8 Vgl. Lefebvre, Henri, The Production of Space, Oxford 1991.
9 Vgl. auch Allen, John, Ambient Power. Berlin’s Potsdamer Platz and the Seductive Logic of Public Spaces, Urban Studies 43(2006)2, S. 441-455.
10 Siehe die Debatte in Geografiska Annaler 87 B(2005)1: Low Murray, „Power“ and Politics in Human Geography, S. 81-88; Allen John, Lost in Familiar Spaces. A Reply to Murray Low, S. 89-90; Low Murray, A Reply t o John Allen S. 91-92.
11 Vgl. die Rezensionen von Cidell, Julie, Annals of the Association of American Geographers, 95(2005)1, S. 230-232; Low Murray (wie Anm. 10, „Power…“); Ogborn, Miles, Progress in Human Geography, 28(2004)1, S. 124-125, wobei Ogborn dieses Problem nicht nur für die politische Geographie feststellt.
12 Vgl. Low (wie Anm. 10, „Power“…), Cidell (wie Anm. 11).
13 Vgl. Low (wie Anm. 10, „Power“…), sowie die Rezension von Clegg, Stuart in: Area 38(2006)1, S. 113-114.
14 Sayer Andrew, Seeking the geographies of power, Economy and Society vol.33(2004)2, S. 255-270.
15 Vgl. Low, (wie Anm. 10, „Power“…), S. 86-87.

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08.06.2007
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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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