S. Amrith: Decolonizing International Health

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Title
Decolonizing International Health. India and Southeast Asia, 1930-65


Author(s)
Amrith, Sunil S.
Series
Cambridge Imperial and Post-Colonial Studies
Published
New York 2006: Palgrave Macmillan
Extent
261 S.
Price
£ 50.00
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Klaas Dykmann, Zentrum für Höhere Studien, Universität Leipzig

Sunil S. Amriths Monographie behandelt die Geschichte internationaler Gesundheitspolitik im Asien der kolonialen und postkolonialen Zeit, wobei der Schwerpunkt auf Indien liegt. Die auf der Doktorarbeit des Autoren basierende Studie hebt die transnationalen Netzwerke hervor, die Indien mit Südostasien und der Welt verbanden. Der Autor lehrt moderne indische und südostasiatische Geschichte am Londoner Birkbeck College. Amriths Untersuchung liefert vor allem für Globalhistoriker, Asien-Experten, Medizinhistoriker und Fachleute postkolonialer Prozesse interessante Erkenntnisse.

Sunil S. Amriths Werk basiert auf einer Fülle von Originaldokumenten und zahlreichen Forschungsarbeiten. Für die Quellensuche begab sich der indische Nachwuchswissenschaftler nach Genf zur Weltgesundheitsorganisation (WHO) und der Internationalen Arbeitsorganisation und recherchierte im Archiv der Rockefeller-Stiftung in New York sowie in Archiven in Indien, Singapur und Großbritannien. Durch die Analyse zahlreicher bisher unpublizierter Quellen liefert Amrith neue Einblicke in die Nationalismusforschung und Internationalisierung sowie den Wandel (medizinischer) Wissenschaft zwischen Kolonialzeit und postkolonialer Phase. Amriths Buch ist überwiegend chronologisch gegliedert und in sechs Hauptkapitel eingeteilt, welche die Zeit bis zum Zweiten Weltkrieg, die Kriegszeit, die unmittelbare Nachkriegszeit, die Modernisierungseuphorie der 1950er und die Probleme technologischer Lösungen der 1960er Jahre behandeln.

Bis vor wenigen Jahren galt die globale Verbreitung „westlicher Medizin“ weithin als eines der wenigen positiven Ergebnisse des Kolonialismus.1 Kürzlich begannen Historiker damit, diese positive Bewertung in Frage zu stellen. Drei Hauptkritikpunkte gilt es dabei zu nennen: 1) westliche Kolonialisten und Imperialisten waren vorwiegend Überbringer von Krankheiten – nicht von Gesundheit; 2) westliche Medizin wurde als fremde Wissens- und Praxisform kolonisierten Gesellschaften auferlegt, ohne die vorhandenen Kulturen und medizinischen Systeme zu berücksichtigten, 3) die Verbreitung westlicher Medizin war fundamental für die Aufrechterhaltung des Kolonialsystems, unter anderem, weil durch sie die Arbeitskraft der Einheimischen erhalten werden konnte.2

Dementsprechend ergibt sich auch Amrith zufolge ein grundsätzlich anderes Narrativ der Globalisierung moderner Medizin aus der Historiographie der Kolonialmedizin. Im Unterschied zum Verständnis von Historikern der Internationalisierung betrachtet die entsprechende Literatur „Wissenschaft“ viel skeptischer. Diesem alternativen Narrativ zufolge steht ‚globale’ Gesundheit synonym für die Ausbreitung westlicher Medizin und beinhaltet somit auch eine Geschichte der Gewalt und Beherrschung. Dies wird, so Amrith, im liberalen oder humanitären Narrativ des Internationalismus eher verschwiegen (S. 7f.). Die Expansion westlicher Medizin war Teil eines jahrhundertelangen Prozesses der Ausweitung von Handel, Einwanderung und Kommunikation, wobei Biomedizin ein konstituierendes Element der Kolonialherrschaft bildete: Moderne Medizin diente sowohl als symbolische Legitimation der Kolonialherrschaft als auch als Instrument des Kolonialstaates „die Körper kolonialer Bürger zu regulieren und zu disziplinieren“ (S. 8).

Mitte des 20. Jahrhunderts zielten die internationalen Bemühungen darauf ab, „eine Welt frei von Krankheiten“ zu schaffen. Dieses ehrgeizige Vorhaben führte unmittelbar zur Gründung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) nach 1945. Vielleicht war die Ansicht, dass Gesundheit eine Regierungsverantwortung und ein Bürgerrecht darstellte, die grundlegendste Verschiebung, die sich während des Weltkrieges ereignete. Diese Einschätzung stand im Gegensatz zu früheren Ansätzen (Feuerwehrvergleich), die sich auf die Prävention von Epidemien und den Erhalt der Einsatzfähigkeit von Arbeitskräften konzentriert hatten (S. 2). Internationale Organisationen wie die WHO spielten eine entscheidende Rolle in der Verbreitung und Legitimierung neuer medizinischer Techniken. Die WHO handelte auf einer „supranationalen“ Ebene: Sie überwachte die internationale Gesundheitslage und war bemüht sie zu verbessern. Die Organisation entstand aus dem weit verbreiteten Glauben, dass „moderne“ Methoden zur Krankheitskontrolle ebenso wie Strategien zur wirtschaftlichen Verwaltung oder progressive Arbeitspolitiken standardisiert und durch eine neue Generation von Technokraten umgesetzt werden könnten (S. 10). Das vorherrschende westliche Medizinverständnis wurde zunächst nicht hinterfragt und die WHO von den ehemaligen Kolonien als Bühne betrachtet, auf der sie ihre vormaligen europäischen Herrscher – appellierend an deren schlechtes Gewissen – mit Hilfsforderungen überziehen konnten. Indien nahm dabei eine führende Rolle unter den einstigen Kolonien ein.3

Da moderne Gesundheitsversorgung im pazifischen Raum eher direkt von den Vereinigten Staaten und in Lateinamerika von bereits existierenden Regionalorganisationen geprägt war, Afrika von einem neuen tatkräftigen Reformkolonialismus bestimmt wurde und China und Indochina durch Hinwendung zu einer anderen Gesundheitspolitik abseits standen, war Südostasien, mit Indien in seiner Mitte, von besonderer Bedeutung (S. 15): Amrith argumentiert, dass sich ein bestimmter Ansatz gegenüber den Fragen Gesundheit, Leben und Tod an der Schnittstelle Bahn brach zwischen dem Erbe des britischen Empire und den Notwendigkeiten des nation-building; zwischen US-Hegemonie und Blockfreienbewegung sowie zwischen medizinischer Expertise und Alltagspolitik in Gesellschaften, in denen die Erinnerung an die Massenmobilisierung gegen die Kolonialmacht noch immer frisch war. Diese Kräfteverteilung ließ Süd- und Südostasien als zentrale und größte Herausforderung in den globalen Gesundheitsplänen erscheinen (S. 15). Aufgrund vermeintlich gleicher/ähnlicher Klima- und Krankheitsmuster wurde Asien als Einheit imaginiert. Dies war eine Sichtweise, die von politischen Führern und Verwaltern postkolonialer Staaten bekräftigt wurde, wenngleich diese weniger auf die Krankheiten, sondern mehr auf Asiens Armut verwiesen: Krankheit durch Armut hieß die verkürzte Botschaft (S. 76f.). Indien, ein Land, in dem Gesundheitsdienste direkt die imperialen ökonomischen und politische Ziele der Kolonialherren unterstützten 4, spielte als „pathogenes“ Herz der Finsternis (eine Anlehnung an das Kongo in Joseph Conrads "Heart of Darkness") in der europäischen Vorstellung eine prominente Rolle: Hier wurden die meisten Fälle von Malaria, Cholera und Pest vermutet. Dies machte Indien zum idealen Experimentierfeld für die neuen Technologien zur Bekämpfung dieser Krankheiten. Ein weiterer Grund für Amrith, Indien als Untersuchungsgegenstand dieses Bandes zu wählen, war die indische Dominanz auf dem Gesundheitsgebiet (S. 13).

Zu Beginn behandelt Amrith die Depression und die Internationalisierung des öffentlichen Gesundheitswesens. In Indien fand eine breite öffentliche Debatte über koloniale und alternative Medizinkonzepte statt. Da vergleichsweise viele Inder in westlicher Medizin ausgebildet waren, wurde diese Diskussion auf einem höheren Niveau als anderswo geführt (S. 23). Das zweite Kapitel handelt von Gesundheit in Kriegszeiten und dem Aufstieg der Krankheitskontrolle. Die Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges führten zu einem Paradigmenwechsel in der Gesundheitspolitik: Technologische Fortschritte, die Entdeckung von DDT in Kriegszeiten und eine Reihe pharmazeutischer Entwicklungen ließen eine wirksame, billige Krankheitskontrolle möglich erscheinen (S. 47). Anschließend befasst sich Amrith mit dem Aufkommen einer internationalen Kultur der Gesundheitspolitik, die vor allem in der WHO Ausdruck fand: Die in der Nachkriegskrise entstandene WHO war dürftig finanziert, fragil und ohne große Macht. Deshalb war sie kaum in der Lage, auf vertieftem gesellschaftlichen und kulturellem Wissen basierende Eingriffe in die nationalen Gesundheitspolitiken vorzunehmen (S. 97). Die Gründung der WHO fiel mit der Unabhängigkeit in Südasien zusammen und in der Folge erhielt die neue internationale Gesundheitsorganisation die „enthusiastische Unterstützung“ der neuen asiatischen Führer (S. 75). Die Schlüsselaufgabe der UNO war es, den “unterentwickelten Ländern” zu helfen, den Vorteil moderner Techniken zu nutzen: Die neue Bedeutung technischer Unterstützung und die Unterordnung der meisten sozialen Ziele unter den Imperativ des wirtschaftlichen Wachstums traf auf ein wohlwollendes Echo in den neuen postkolonialen Staaten Asiens (S. 85f.). Nachdem die indische Regierung die WHO überzeugt hatte, ein Pilotprojekt zur Bevölkerungskontrolle zu starten, scheiterte dieses Unterfangen unter anderem an der kulturellen Unangemessenheit der angewandten Methoden (S. 97). Im sechsten Kapitel wird die Krise und der Niedergang der miteinander verbundenen Gesundheitsdienstinitiativen im asiatischen Raum der End-1950er analysiert.

Im Grunde konnten die internationalen Gesundheitskampagnen, die auf vielen lokalen Experimenten basierten, oftmals große Erfolge bei der Bekämpfung bestimmter Krankheiten erzielen – andere Krankheiten hingegen traten weiterhin auf. Selbst als die dramatischen Erfolge der Programme gegen „benannte“ Krankheiten gefeiert wurden, wiesen Gesundheitsexperten darauf hin, dass „nicht-spezifische“ Infektionen weitaus schwieriger zu bekämpfen waren. Dies erklärt, warum trotz der Erfolge der internationalen Gesundheitskampagnen gegen einzelne Krankheiten die Todesrate in der Dritten Welt hoch blieb und bis heute ist (S. 184). Amriths Kernaussage über die technokratischen internationalen Gesundheitskampagnen in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg lautet: eigentlich waren die Kampagnen z.B. zur Ausrottung von Malaria, Tuberkulose oder der Pocken erfolgreich (die Pocken galten tatsächlich 1979 als weltweit ausgerottet) (S. 150). Aber eben nur eigentlich, da es auch viele Probleme gab, die Programme oftmals noch erfolgreicher hätten sein können und schließlich – und dies ist zu recht ein Punkt, auf den Amrith besonders hinweist – diese krankheitsfixierten Konzepte von jenen Infektionen ablenkten, die weitaus mehr Todesopfer in Entwicklungsländern forderten (z.B. Durchfallerkrankungen) (S. 184). Im Schlusssatz aus Amriths Buch zur Dekolonisation internationaler Gesundheit steckt sowohl die Hoffnung, der Weltgesundheitsorganisation (WHO) könne es gelingen, aus der Dominanz westlicher Mächte herauszutreten, als auch die Feststellung, dass sich im 20. Jahrhundert trotz der Existenz internationaler Gesundheitspolitiken nur wenig an der Gesundheitslage in den meisten Weltregionen geändert hat (S. 191).

Amriths Abhandlung ist ein lesenswertes Buch, das kenntnisreich den aktuellen Forschungsstand berücksichtigt, politische und intellektuelle Debatten über die Gesundheitsversorgung in ländlichen Regionen, demographische Fragen und den Zusammenhang zwischen Gesundheit und Entwicklung analysiert und dabei verschiedene Diskussionsebenen (in internationalen Organisationen sowie auf regionaler, nationaler und bisweilen lokaler Ebene) einbezieht.

1 Worboys, Michael‚ Colonial Medicine, in: Cooter, Roger; Pickstone, John (Hgg.), Medicine in the Twentieth Century, Amsterdam 2000, S. 68f.
2 Cunningham, Andrew; Andrews, Bridie (Hgg.), Western medicine as contested knowledge, Manchester 1997, S. 2f.
3 Lee, Sung, WHO and the developing world. The contest for ideology, in: Cunningham, Andrew; Andrews, Bridie (Hgg.), Western Medicine as contested knowledge. Manchester 1997, S. 26.
4 Worboys, Michael‚ Colonial Medicine, in: Cooter, Roger; Pickstone, John (Hgg.), Medicine in the Twentieth Century, Amsterdam 2000, S. 67.

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09.03.2007
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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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