E. Bar-Chen: Weder Asiaten noch Orientalen

Title
Weder Asiaten noch Orientalen. Internationale jüdische Organisationen und die Europäisierung "rückständiger" Juden


Author(s)
Bar-Chen, Eli
Published
Würzburg 2005: Ergon Verlag
Extent
180 S.
Price
€ 28,00
Reviewed for Connections. A Journal for Historians and Area Specialists by
Parkes Institute for the Study of Jewish/non-Jewish Relations, University of Southampton

Seit Mitte des 19. Jahrhunderts gründeten etablierte Juden in Mittel- und Westeuropa und in den Vereinigten Staaten von Amerika eine Vielzahl neuer philanthropischer Vereinigungen auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene, die sich für hilfsbedürftige Juden einsetzten. Gleichzeitig unterstützten viele Juden kulturelle und soziale Projekte außerhalb der jüdischen Gemeinden.

In den letzten Jahren haben eine ganze Reihe von Autoren jüdische Wohltätigkeit in Mittel- und Westeuropa näher untersucht – und dabei vor allem die lokale Ebene der Gemeinde(n) und die individuellen jüdischen Philanthropen (sowie ihre Familien).1 Überraschend ist indes, dass die international tätigen jüdischen Hilfsorganisationen bisher nur ansatzweise erforscht sind.2 Mit der vergleichenden Studie der drei bedeutsamsten internationalen jüdischen Hilfsorganisationen im Zeitraum von 1860 bis 1914 füllt der an der Universität München lehrende Historiker Eli Bar Chen daher eine wichtige Forschungslücke.

Warum entstanden die Alliance Israèlite Universelle (1860), die Anglo-Jewish Association (1871) und der Hilfsverein der deutschen Juden (1901)? Welche Ziele verfolgten sie und wie kann ihre Politik im Rückblick bewertet werden? Diese Fragen stehen im Zentrum der Studie. Alle drei Vereinigungen suchten insbesondere die Lage der Juden in Osteuropa und im "Orient", das heißt im Osmanischen Reich und in den von Frankreich bzw. Großbritannien kolonialisierten Gebieten in Nordafrika und der Levante, zu verbessern. In Osteuropa und im Osmanischen Reich befanden sich im 19. Jahrhundert die nicht nur von den Zahlenverhältnissen her bedeutendsten Zentren der jüdischen Diaspora. Die dortigen jüdischen Bevölkerungen besaßen zwar vielfach eine partielle Autonomie, aber ganz überwiegend nicht die vollen individuellen Bürgerrechte (wie die Masse der restlichen Bevölkerung).

Teilweise war ihre Lage tatsächlich prekär. Im Russischen Reich führten schwierige ökonomische Bedingungen, das starke jüdische Bevölkerungswachstum und staatliche Restriktionen zu einer Verarmung vieler Juden. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und insbesondere kurz nach der Jahrhundertwende wurden Juden darüber hinaus zunehmend Opfer gezielter antijüdischer Gewaltaktionen. Äußerst problematisch gestaltete sich die Situation auch in Rumänien, wo die Regierung Juden offen diskriminierte. Nach 1860 migrierten Juden in wachsender Zahl aus Osteuropa nach Westen. Es kam mehrfach zu dramatischen Szenen an den Grenzen. Etablierte Juden in Deutschland, Westeuropa und Nordamerika unternahmen große Anstrengungen, um den jüdischen Migranten zu helfen und deren Migration möglichst reibungslos zu organisieren. Fraglos hatten viele etablierte europäische Juden neben genuinem Mitleid auch ein erhebliches Interesse daran, die Migranten möglichst schnell nach Amerika weiterzuschicken.

Bar Chen berührt (wenn auch nur kurz) ein Schlüsselereignis der neueren jüdischen Geschichte, die Damaskus-Affäre (1840).3 Die Misshandlung von mehreren zu Unrecht eines Ritualmordes beschuldigten Juden in Damaskus durch die örtlichen Behörden und die (scheinbar) erfolgreiche Intervention jüdischer Repräsentanten aus Frankreich und England bildeten einen entscheidenden Wendepunkt. Die Affäre machte west- und mitteleuropäische Juden auf das Schicksal "anderer" Juden aufmerksam und bildete zugleich den Kristallisationspunkt für eine sich herausbildende internationale jüdische Öffentlichkeit. Der Ausgang der Affäre demonstrierte, dass Juden durchaus Handlungsspielräume nutzen konnten, um anderen Juden zu helfen – wenn sie sich an die Politik der westlichen Mächte anlehnten. Die Begegnung zwischen westlichen Staatsbürgern jüdischer Konfession mit den jüdischen Bevölkerungen der islamischen Welt warf indes viele Fragen auf. Hatten westliche Juden eine Verantwortung für die jüdischen Bevölkerungen des Ostens, sogar eine implizite Verpflichtung, diese nicht nur vor Verfolgungen zu schützen, sondern sie zu "verwestlichen"? War die Modernisierung "rückständiger" Juden gar ein Gebot des puren Eigeninteresses, angesichts von Projektionen der Juden des Ostens auf die des Westens (und umgekehrt) in der allgemeinen Öffentlichkeit, aber auch vor dem Hintergrund westlicher Kolonialpolitik? Aber war die Organisation internationaler jüdischer Hilfe mit den jeweiligen nationalen Loyalitäten vereinbar?

Die 1860 in Paris gegründete Alliance Israèlite Universelle institutionalisierte das vielschichtige Verantwortungsgefühl westlicher emanzipierter Juden für andere diskriminierte Juden. Die Alliance knüpfte auch an die vormoderne Tradition jüdischer Fürsprache für andere Juden an. Nicht alle Mitglieder der Alliance waren Franzosen. Die Anglo-Jewish Association entstand als Abspaltung der Alliance. Viele (zeitweise sogar die meisten) Alliance Mitglieder waren deutsche Juden; allerdings hatten sie innerhalb der Organisation keinen großen Einfluss. Der Hilfsverein der deutschen Juden entstand erst vergleichsweise spät. Während hinter der Alliance und der Association die dominierenden metropolitanen Gemeinden in London und Paris standen, mussten sich preußische, badische und andere Juden im Rahmen des 1871 gegründeten Nationalstaates neu formieren und dabei auf mehrere starke Gemeinden Rücksicht nehmen. Neben der späten Emanzipation war der vergleichsweise starke Druck zur Konformität im Kaiserreich, wie Bar Chen betont, ein retardierendes Element. Das starke Anwachsen der jüdischen Massenmigration aus Osteuropa, für die Deutschland das wichtigste Transitland darstellte, lieferte kurz vor der Jahrhundertwende den entscheidenden Anstoß für die Gründung des Hilfsvereins.

Bar Chen beschreibt detailliert die Aufgabenfelder der drei Organisationen. Diese setzten sich bei staatlichen Behörden für die von Gewalt oder politischen Maßnahmen betroffenen Juden ein. Ihr Einfluss im Russischen Reich und Rumänien blieb im Gegensatz zur islamischen Welt sehr gering, aber sie kümmerten sich um migrierende Juden. Gleichzeitig versuchten sie, die Lage der aus ihrer Sicht bedürftiger Juden vor Ort zu verbessern. Die Alliance baute im Osmanischen Reich ein dichtes Netz von Schulen auf. Es war kein Zufall, dass die Vereinigungen in Regionen tätig wurden, die für ihre jeweiligen Heimatländer außenpolitisch interessant waren. Die Erziehung jüdischer Kinder im Sinne westlicher Ideale und das Sammeln von Informationen diente der "Modernisierung" der lokalen Juden, aber flankierte auch westliche Kolonialpolitik. Die Organisationen koordinierten ihre Tätigkeit untereinander, häufig gerade in Zeiten internationaler Krisen.

Dieser letzte Aspekt kommt in der Studie etwas kurz. Um ein Beispiel zu geben, auf das Bar Chen nicht eingeht: Es war nicht selbstverständlich, dass sich Ende Oktober 1872 deutsche und französische Juden (zusammen mit Juden aus anderen Teilen Europas und den Vereinigten Staaten von Amerika) in Brüssel trafen, um sich für die bedrängten Juden in Rumänien einzusetzen. Dieser erste internationale jüdische "Gipfel" der Neuzeit (C. Fink) illustrierte auch die Grenzen des Einflusses der Alliance, die sich zunehmend mit anderen jüdischen Repräsentanten und Vereinigungen abstimmen musste, nicht zuletzt aus Deutschland. Doch die "polyglotten Discussionen" waren, wie die Allgemeine Zeitung des Judentums unterstrich, frei von jeglichen Dissonanzen und tief vom Geiste der "Solidarität" und "Humanität" geprägt. Hier ging es nicht nur um partikulare jüdische Interessen und um den willkommenen Kontrast zu den zerrütteten deutsch-französischen Beziehungen, sondern grundsätzlich um die Durchsetzung von allgemeinen Menschen- und Bürgerrechten.4

Die Zahl der Mitglieder und Förderer/innen der jüdischen Hilfsorganisationen war beachtlich. Das Engagement für jüdische Wohltätigkeit war häufig der kleinste gemeinsame Nenner für Juden, die ihr unterschiedliches Verständnis von jüdischer Identität zunehmend trennte. Jüdische Wohltätigkeit, ob lokal oder international, stiftete in einer Zeit massiver gesellschaftlicher Veränderungen Gemeinschaft – für die Förderer/innen, nicht unbedingt für die Empfänger/innen. In diesem letzten Punkt bezieht Bar Chen eine deutlich kritische Position. Die Politik der Organisationen war ohne Zweifel paternalistisch gefärbt und teilweise opportunistisch. Ähnlich wie Steven Aschheim im Hinblick auf die Juden Osteuropas betont Bar Chen, dass westliche Juden ein vielfach verzerrtes Bild der aus ihrer Sicht "rückständigen" Juden im "Orient" und in Osteuropa konstruierten. Und sie entzogen diesen die Möglichkeit zur "agency". 5 Bar Chens kritische Position ist vertretbar, aber ein anderer Aspekt sollte auch nicht übersehen werden. Die jüdischen Hilfsorganisationen verknüpften die Interessen von benachteiligten Juden mit universellen Idealen, sie agierten öffentlich, mussten ihre Mittel einwerben (und deren Verwendung rechtfertigen), und sie legten großen Wert auf Transparenz. Sie können durchaus als wichtige Vorläufer der transnationalen NGO's der Gegenwart gesehen werden, ebenso wie das 1863 gegründete Internationale Komitee des Roten Kreuzes.

Die Reichweite der drei Organisationen beeindruckt, vor allem wenn man sich die gesammelten Spenden und die Zahl der unterstützten Personen vor Augen führt. Ebenso bemerkenswert war der Grad an Professionalität und Effizienz der Organisationen. Doch sollte der Einfluss der Hilfsvereinigungen auch nicht überschätzt werden. Die absolute Zahl der Empfänger von Hilfsleistungen war sehr hoch, repräsentierte aber doch nur ein Teil der Juden des Ostens. Insbesondere auf dem diplomatischen Parkett waren die Grenzen häufig klar abgesteckt. Die Zahl von jüdischen Migranten aus Osteuropa im Kaiserreich war nicht so viel geringer als in Frankreich und Großbritannien, weil der Hilfsverein die Durchwanderung von Juden aus Osteuropa vor allem nach Nordamerika so effizient organisierte, wie es Bar Chen darstellt (S. 79). Entscheidend war vielmehr die restriktive Migrationspolitik, auf die jüdische Organisationen keinen nennenswerten Einfluss hatten. Im Frühjahr 1906 etwa schob Preußen ohne Rücksicht auf die chaotische Situation in Russland mehrere tausend russische Juden aus Berlin in ihr Heimatland ab, obwohl sich viele der Migranten wirtschaftlich etabliert und seit Jahren in Berlin gelebt hatten.6

Doch das bleibt Detailkritik. Bar Chen hat eine bemerkenswerte Studie vorgelegt, die sich einfachen nationalgeschichtlichen Zuordnungen entzieht und verschiedene Forschungsfelder geschickt verknüpft.

Anmerkungen:
1 Liedtke, Rainer, Jewish Welfare in Hamburg and Manchester, c. 1850-1914, Oxford 1998; Reinke, Andreas, Judentum und Wohlfahrtspflege in Deutschland. Das Jüdische Krankenhaus in Breslau 1726–1944, Hannover 1999; Matthes, Olaf, James Simon, Mäzen im Wilhelminischen Zeitalter, Berlin 1999; Kraus, Elisabeth, Die Familie Mosse. Deutsch-jüdisches Bürgertum im 19. und 20. Jahrhundert, München 1999; Penslar, Derek J., Shylock's Children. Economics and Jewish Identity in Modern Europe, Berkeley 2001.
2 Rodrigue, Aron, French Jews, Turkish Jews. The Alliance Israèlite Universelle and the Politics of Jewish Schooling in Turkey, 1860–1925, Bloomington 1990.
3 Frankel, Jonathan, The Damascus Affair. 'Ritual Murder', Politics, and the Jews in 1840, Cambridge 1990.
4 Allgemeine Zeitung des Judenthums (Leipzig), 12. November 1872; Fink, Carole, Defending the Rights of Others. The Great Powers, the Jews, and International Minority Protection, 1871–1938, Cambridge 2004.
5 Aschheim, Steven, Brothers and Strangers. The East European Jew in German and German Jewish Consciousness 1800–1923, Madison 1982.
6 Wertheimer, Jack, Unwelcome Strangers. East European Jews in Imperial Germany, New York, Oxford 1987, S. 61.

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01.09.2006
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