G. Espagne u.a.: Aubin-Louis Millin et l'Allemagne

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Title
Aubin-Louis Millin et l'Allemagne. Le Magasin encyclopédique - Les lettres à Karl August Böttiger


Editor(s)
Espagne, Geneviève; Savoy, Bénédicte
Series
Europaea Memoria. Studien und Texte zur Geschichte der europäischen Ideen 41
Extent
594 S.
Price
€ 88,00
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
France Nerlich, Universität Francois Rabelais

"Die Künste bringen nichts hervor, alles befindet sich in einem großen Stillstand, und ich bin bekümmert, wenn ich diese Schläfrigkeit mit der Aktivität in Deutschland vergleiche". Mit diesen Worten beschließt Aubin-Louis Millin (1759-1818), Konservator der Antikensammlung in der Bibliothèque nationale und Redakteur des Magasin encyclopédique, einen der ersten Briefe, die im Jahre 1797 an seinen Weimarer Korrespondenzpartner, den Archäologen und Literaten Karl August Böttiger (1760-1835), gehen. Mit dieser Verbindung beginnt ein überaus fruchtbarer Austausch zwischen der deutschen und französischen Gelehrtenwelt.

Diesem brillanten Vermittler zwischen Deutschland und Frankreich haben Geneviève Espagne (Universität Amiens) und Bénédicte Savoy (Technische Universität Berlin) einen bemerkenswerten Sammelband gewidmet, der allerdings auf den ersten Blick nicht gerade zum Lesen einlädt: Kompakt, grau und nicht besonders elegant wirkt der Band zuerst etwas unübersichtlich und der Titel scheint in seiner dreifachen Unterteilung eine gewisse Unentschlossenheit hinsichtlich Reichweite und Ziel des Projekts zu verraten. Schliesslich irritiert eine auf Anhieb nicht ganz einleuchtende Gliederung, die sehr verschiedene Texte neben der kommentierten Ausgabe von Briefen, die Millin an Böttiger geschrieben hat, in sich vereinigt. Dass es sich in Wirklichkeit um ein exemplarisches Werk handelt, wird jedoch offensichtlich, sobald man die Fülle der Erkenntnisse entdeckt, die von den sich gegenseitig erhellenden Artikeln und Briefen vermittelt werden. In der Tat besteht der erste – analytische – Teil des Buches aus den Beiträgen einer Tagung in Amiens. Organisiert wurde das Kolloquium von der Forschungsgruppe 18.-20. Jahrhundert: Transfer von Wissen und Texten zwischen dem deutschsprachigen Raum und den anderen europäischen Ländern unter der Leitung von Geneviève Espagne, während der zweite Teil des Bandes sich der Transkription und dem Kommentar von Briefen Millins an Böttiger widmet, die in deutschen Archiven verwahrt sind – eine beachtliche philologische Leistung von Bénédicte Savoy, die für ihre Gründlichkeit und ihren Kenntnisreichtum in Fragen des Kulturtransfers zwischen Frankreich und Deutschland am Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert bekannt ist.

Die Persönlichkeit Millins, auf die Bénédicte Savoy bei einer Tagung der INHA/ Getty im Jahre 2003 bereits aufmerksam machte1, hat ganz zweifellos eine solche weit ausgreifende Studie verdient. Dieser unermüdliche Literat, der schon sehr früh damit begonnen hat, ausländische Texte zu veröffentlichen und im Jahr der Revolution eine Zeitung gründet, während er gleichzeitig die historischen Monumente in der Provinz auf dem Höhepunkt der revolutionären Unruhe auflistet und zeichnet, ist eine exemplarische Gestalt dieser Zeit, die mit Enthusiasmus, Lust und Großzügigkeit in alle Wissensgebiete hineingreift. Während er 1794 im Gefängnis sitzt, redigiert er die Eléments d'histoire naturelle, erfindet ein Annuaire républicain und beginnt Deutsch zu lernen. Als er 1795 entlassen wird, gründet er das Magasin encyclopédique und unterrichtet Archäologie, bevor er schließlich zum Konservator der Antikensammlung, Medaillen und Steininschriften in der Bibliothèque nationale berufen wird. Das Interesse für das Ausland wird nie nachlassen – wie seine zahllosen Kontakte zu englischen, italienischen und deutschen Kollegen beweisen – und zeugt von dem Wunsch, Kenntnisse zu teilen und Meinungen auszutauschen. Die enzyklopädische Neugier dieses Gelehrten, Archäologen und Wissenschaftlers, Schriftgelehrten und Weltkundigen zeigt sich in der außergewöhnlichen geistigen Offenheit, die sein Magasin encyclopédique zu einem Forum europäischer Debatten dieser Zeit macht. Die Fokussierung des vorliegenden Bandes auf den Austausch zwischen deutschen und französischen Gelehrten lässt uns die Bedeutung des intellektuellen Dialogs erkennen und den wechselseitigen Wetteifer zu einem Zeitpunkt, als die Geisteswissenschaften ihre ersten methodologischen Werkzeuge schmiedeten.

Um die verschiedenen Facetten der Persönlichkeit Millins und seiner Zeitschrift zu erfassen, haben sich die Herausgeberinnen für eine originelle Lösung entschieden, die man als "polyzentrische kritische Ausgabe" bezeichnen könnte. Sie bieten nämlich im ersten Teil mit einer Reihe von Studien Lektüremöglichkeiten an, die durch thematische und transversale Herangehensweisen den Corpus der Briefe fasslicher werden lassen. Die in vier Kapitel aufgeteilten Beiträge des ersten Teils fassen einen Stoff zusammen, dessen Reichtum Anlass zu mehreren Publikationen hätte geben können. Die Aufsätze sind insgesamt in zwei Blöcke unterteilt, die sich zum einen mit dem Redakteur, zum anderen mit der Zeitschrift befassen. So wird man zu Beginn dank der meisterhaften Darstellung von Alain Ruiz (Universität Bordeaux) in den Kreis der Vertrauten Millins eingeführt, für die Millin in seiner Bibliothek regelmässig seine berühmte „literarische Teestunde“ veranstaltete, die intellektuelle und kosmopolitische Prominenz jener Zeit zusammenbrachte. Es ist bezeichnend, unter den Gästen auf Namen wie Wilhelm und Alexander von Humboldt, Friedrich Johann Lorenz Meyer, Carl Friedrich Cramer oder auch Johann Friedrich Reichardt zu stoßen, oder auch zu sehen, dass sein Salon den Gelehrten, Archäologen, Orientalisten sowie französischen und ausländischen Schriftstellern einen Ort des gedanklichen Austauschs bot.2

Nach diesem ersten Überblick veranschaulicht uns das zweite Kapitel eingehend den wissenschaftlichen Dialog des Archäologen Millin mit seinen Korrespondenzpartnern, den intellektuellen Wettstreit und die gegenseitige Rezeption von Arbeitsvorschlägen. Bénédicte Savoy präsentiert hier eine erste Auslegung der Briefe – eine Lektüre, die uns die schillernde und faszinierende Persönlichkeit des Gelehrten und Journalisten Böttiger erhellt, der ein ideales Pendant zu Millin war und ein unumgänglicher Vermittler zwischen Weimar und Paris. Diese Persönlichkeit, deren zwiespältiger Ruf eines "Magister ubique" wohl nicht unberechtigt war, ist dennoch ein vorzüglicher Korrespondenzpartner für Millin: ihre sehr ähnlich verlaufenden Karrieren zeugen von dem regen intellektuellen Leben, in dem die beiden aus der Bourgeoisie stammenden jungen Leute sich entwickelten. In seinem Wirken als Journalist, Gelehrter und streitbarer Geist ist Böttiger nicht nur Philologe, Kunsthistoriker und Archäologe, sondern auch eine der Schlüsselfiguren der deutschen Verlagswelt: Als Redakteur mehrerer herausragender Zeitschriften wie Neuer Teutscher Merkur, London und Paris oder Journal des Luxus und der Moden ist er Dreh- und Angelpunkt der Aktualität und fungiert als gut positioniertes Bindeglied zwischen Millin und der deutschen Gelehrtenwelt.

René Sternke, der mit Böttiger bestens vertraut ist, da er erst kürzlich dessen Briefwechsel und einen Teil seiner Erinnerungen veröffentlicht hat 3, beleuchtet die in Frankreich und Deutschland unterschiedlichen Ansätze der Archäologie zu dem Zeitpunkt, als sie sich als neue Disziplin emanzipiert. Marie-Renée Diot (Universität Amiens) betont ihrerseits die Bedeutung der "deutschen Vorbilder in der Entwicklung der wissenschaftlichen Antike-Forschung" in ihrem Beitrag über die Beziehung zwischen Millin und dem Elsässer Jérémie Jacques Oberlin. Cecilia Hurley (Musée de l'horlogerie de la Chaux de Fonds), Spezialistin auf dem Gebiet der Wissenschaftsgeschichte und der Klassifizierungssysteme, zeigt uns, dass das archäologische Interesse Millins Teil seines Interesses für die Naturwissenschaften ist und stellt die Verbindung zum zweiten Teil her, indem sie die Entstehung und die vielfältigen internationalen Inspirationsquellen der Zeitschrift nachzeichnet, die in den nachfolgenden Aufsätzen als Ort unterschiedlichster Diskussionen zwischen Deutschen und Franzosen erscheint. So beschäftigt sich die Philologin Pascale Hummel (Institut National de Recherche Pégagogique) mit der taxonomischen Organisation der Zeitschrift, um das enzyklopädistische Erbe besser zu verstehen, das sich an der thematischen Bandbreite ablesen lässt: es gibt eigene Rubriken für Geometrie, Astronomie, Seefahrt, Naturgeschichte, Botanik, Physik, Hydraulik, Mineralogie, Metallurgie, Hygiene etc. Die Vielfalt der Themen und Debatten wird in den sich anschließenden Beiträgen noch augenfälliger. So handelt der Historiker Franz Dumont (Universität Mainz) vom Problem der Guillotine, dessen ethische und anthropologische Dimensionen repräsentativ sind für einen aus der Aufklärung hervorgegangenen wissenschaftlichen und theologischen Diskurs; Pascale Rabault (Universität Aix-en-Provence), Spezialistin des deutschen Orientalismus, informiert über die methodologischen Versuche von Orientstudien zwischen Philologie und praktischer Forschung vor Ort, zwischen Lesesaal und Abenteuer 4; Gérard Laudin (Universität Paris IV – Sorbonne), Germanist mit Spezialgebiet Ideengeschichte des 18. Jahrhunderts, untersucht die Rezeption von Werken deutscher Historiker und die Verbindung Millins zur Gesellschaft der Wissenschaften in Göttingen, deren Mitglied er war, und die Germanistin Sylvie Le Moël (Universität Tours) die Übersetzungen deutscher Texte - eine Praxis, die in der Zeitschrift selber Gegenstand ständiger und grundlegender Reflexion war. Die Artikel des letzten Kapitels, die Aufschluss geben über die ästhetische Reflexion zwischen "Sensualismus" und "Vorromantik", sind der Literatur und Kunst gewidmet. Geneviève Espagne, Spezialistin dieser literarischen Epoche, widmet sich der Wielandrezeption und Wielands Rolle in den intellektuellen Diskussionen in Frankreich. Michel Grimberg (Universität Amiens) geht der Verbreitung und Rezeption der herausragenden und unumgänglichen Gestalt Schillers nach.

Michel Espagne (ENS) bietet einen Überblick über Tendenzen innerhalb des deutschen Kunst-Diskurses, wie er in Millins Zeitschrift dokumentiert wurde. Diese Beiträge vermitteln uns sehr genau die Spannung zwischen der Verbreitung und dem Verständnis idealistischer und philologischer Beschäftigung mit Literatur und Kunst, ihrer Interpretation, Übersetzung und Transformation durch die französische Öffentlichkeit. Der letzte Text von Michel Espagne lässt uns insbesondere verstehen, wie sich die Lektüre Winckelmanns, dieses allgegenwärtigen und zentralen Bezugspunkts, vermittelt durch Fernow und Goethe, der als Kunsthistoriker wahrgenommen wird, im Magasin encyclopédique niederschlägt und wie sich aus der Betrachtung von alter und zeitgenössischer Kunst nach und nach eine Debatte über den Geschmack entwickelt.

So wie dieser Text fällen die Beiträge dieser Gruppe von Germanisten, Historikern, Kunsthistorikern, Philologen, Spezialisten des Kulturtransfers5 weniger abschließende Urteile über Millin, seine Zeitschrift und seinen umfangreichen Briefwechsel – sie bieten vielmehr eine Reihe vielversprechender Ansätze, die für die Zukunft interessante Ergebnisse erwarten lassen. Um diese Korrespondenz zu einer abgesicherten Quelle zu machen, stellt uns Bénédicte Savoy mit ihren vorzüglichen, von den Ergebnissen des ersten Teils erhellten Anmerkungen – sie hat insbesondere versucht, alle von Millin und Böttiger erwähnten Werke zu identifizieren – die passenden Lektüreschlüssel zur Verfügung, die eine weitergehende Forschung ermöglichen.6 Dieser Band stellt also ein wertvolles Wissensreservoir für künftige transversale Studien dar: dieses Material ist zweifellos eine ergiebige Quelle für die Beschäftigung nicht nur mit dem wissenschaftlichen, sondern auch mit dem kulturellen Leben Frankreichs im europäischen Kontext. 7Bei der Lektüre der Briefe Millins und seiner Korrespondenten ermisst man tatsächlich nicht nur die Intensität des persönlichen Austauschs, sondern auch die Schnelligkeit, mit der die Texte, Artikel und Bücher zirkulierten; sie gingen von Hand zu Hand und manchmal sogar verloren, weil sie zu oft verliehen wurden. Meistens aber wurden sie zwischen den Lesern hin und hergeschickt und bildeten einen Gegenstand gemeinsamer Reflexionen.

Der von Savoy herausgegebene Band vereinigt vielfältige, methodologisch sehr unterschiedliche Lektüreperspektiven und bildet, so wie das Magasin encyclopédique selbst, einen Ort fortschreitender Reflexion.

Anmerkungen:
1 Savoy, Bénédicte, Des musées nationaux aux vases antiques du compte de Paroy. Regards allemands sur les collections parisiennes autour de 1800, in: Sénéchal, Philippe/ Preti-Hamard, Monica (Hgg.), Collections et marché de l'art en France, 1789-1848, Rennes 2006, S. 387-405.
2 Man kann bedauern, dass dieses erste Kapitel nicht weiter auf Kontext und gesellschaftliches Umfeld in Paris eingeht (mit der Ausnahme des Beitrags von A. Ruiz) und keine anderen möglichen Orte der Zusammenkunft berücksichtigt.
3 Siehe u.a.: Gerlach, Klaus/ Sternke, René (Hgg.), Karl August Böttiger. Literarische Zustände und Zeitgenossen. Begegnungen und Gespräche im klassischen Weimar, Berlin 1998; diess. (Hg.), Böttigers Briefwechsel mit Auguste Duvau, Berlin 2004.
4 Hier zeigt sich deutlich, wie das Magasin encyclopédique eine Mittlerrolle zwischen "Spezialistentum" und "Breiter Öffentlichkeit" spielen konnte, indem es dem ersten ermöglichte, sich zu etablieren und zu institutionalisieren.
5 Viele der Autoren sind Mitarbeiter der Forschungsgruppe der Universität Amiens "Transfer von Wissen und Texten zwischen dem deutschsprachigen Raum und den anderen europäischen Ländern vom 18. bis 20. Jahrhundert." Wir erinnern auch daran, dass Michel Espagne vor mehreren Jahren die systematische Reflexion über den "Kulturtransfer" in Gang gebracht hat - ein Begriff, den er mit geprägt hat.
6 Man kann auch bedauern, dass das Thema Kunstgeschichte, vor allem in ihrem Verhältnis zur Archäologie, nicht mehr zur Sprache kommt. Man hätte auch gerne mehr über Böttiger erfahren, dessen Erscheinung zu keinem Zeitpunkt wirklich fassbar wird, obwohl er doch der gleichberechtigte Partner Millins war.
7 Dass der Briefwechsel in der Reihe Europaea Memoria. Studien und Texte zur Geschichte der europäischen Ideen erscheint, betont natürlich diese Dimension: Der Briefwechsel zweier Schlüsselfiguren der französischen und deutschen Geisteswelt während der Jahrhundertwende ist ausserordentlich wertvoll, um den Gelehrtendialog von gestern und heute besser zu verstehen.

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14.07.2006
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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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