C. Franzius u.a. (Hrsg.): Europäische Öffentlichkeit

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Title
Europäische Öffentlichkeit.


Editor(s)
Franzius, Claudio; Preuß, Ulrich K.
Published
Baden-Baden 2004: Nomos Verlag
Extent
324 S.
Price
€ 44,00
Reviewed for Connections. A Journal for Historians and Area Specialists by
Andreas Anter, Universität Bremen, Zentrum für Europäische Rechtspolitik

Wenn Öffentlichkeit eine Voraussetzung der Demokratie ist, dann steht das politische System der Europäischen Union nicht sonderlich gut da. Denn von der Existenz einer europäischen Öffentlichkeit kann man nur in einem sehr eingeschränkten Sinne sprechen. Dies wiederum bleibt nicht ohne Folgen für die Legitimität der Union, da das Öffentlichkeitsdefizit auch ein Demokratie- und Legitimitätsdefizit nach sich zieht. Wer den Schaden hat, braucht nicht für den Spott zu sorgen; die EU könnte nicht ihr eigenes Mitglied werden, da sie ihre eigenen Aufnahmekriterien nicht erfüllt. Wie entscheidend die Öffentlichkeit als Legitimationsquelle ist, ist evident. 1 Mit Interesse nimmt man daher den von Claudio Franzius und Ulrich K. Preuß herausgegebenen Band in die Hand, der über den Stand der Debatte zur europäischen Öffentlichkeit informiert. Der Band, der aus einer Berliner Tagung hervorgegangen ist, die mit „großzügiger Unterstützung“ der Europäischen Kommission veranstaltet wurde, versammelt Beiträge von Sozialwissenschaftlern/innen, Juristen/innen und Europareferenten/innen, die das Thema aus theoretischen und praktischen Perspektiven in den Blick nehmen. Dabei sind neben den Beiträgen der beiden Herausgeber die von Peter Glotz, Christine Landfried, Anne Peters und Thomas Risse hervorzuheben.

Claudio Franzius resümiert in seinem einleitenden Beitrag, dass die europäische Integration weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit und als „Projekt von Eliten“ betrieben wurde (S. 1). Hat sich aber daran inzwischen etwas geändert? Die Antworten auf diese Frage gehen weit auseinander. Claudio Franzius, der „überzogenen Erwartungen vorbeugen“ will, meint zumindest „allmählich und punktuell“ die Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit beobachten zu können und führt als Beispiele hierfür den Protest gegen die Haltung einiger Mitgliedstaaten zum Irak-Krieg sowie die BSE-Krise an (S. 1). Er räumt zwar ein, dass die Kommunikation nach wie vor überwiegend in nationalen Bahnen verlaufe, glaubt aber, dass man mit etwas Phantasie bereits das Entstehen einer europäischen Öffentlichkeit erkennen könne (S. 11). Diese Einschätzung teilt er mit den meisten Autoren/innen des Bandes, so auch mit Christine Landfried. Sie versteht die europäische Öffentlichkeit als einen Kommunikationsraum, wo die Bürger „in Teilöffentlichkeiten über europäische Themen diskutieren“ und auf diese Weise auch die Machtausübung in der Union kontrollieren. Solche „Teilöffentlichkeiten“ beobachtet sie überall; als Beispiel führt sie etwa eine Hamburger Literaturveranstaltung an, bei der Autoren/innen aus 33 europäischen Ländern ihre „Gedanken zu Europa“ vor dem Publikum ausbreiteten (S. 123).

In den Beiträgen des Bandes wird immer wieder deutlich, dass es nicht zuletzt darauf ankommt, was man überhaupt unter Öffentlichkeit versteht. Ulrich K. Preuß bezweifelt, ob man den Begriff überhaupt definieren kann, da es keine objektiven Kriterien gebe, „nach denen die Qualität oder Intensität von Öffentlichkeit gemessen werden kann“ (S. 46). Er geht in seinem Beitrag von Kants Begriff der Publizität aller Rechtsakte als Bedingung ihrer Rechtmäßigkeit aus und kommt zu dem Ergebnis, dass man nur von „Ansätzen zu einer europäischen Öffentlichkeit“ sprechen könne (S. 47). Der EU attestiert er eine „strukturelle Öffentlichkeitsschwäche“ (S. 55). Man könne das nationalstaatliche Öffentlichkeitsideal zwar nicht auf transnationale Gebilde übertragen, aber eine europäische Öffentlichkeit werde „stets nur eine komplementäre Öffentlichkeit sein“ (S. 59).

Noch einen Schritt weiter geht Peter Glotz, der entschiedene Skeptiker unter den Autoren/innen des Bandes. Er stellt klipp und klar fest: „Eine solche europäische Öffentlichkeit existiert heute noch nicht.“ (S. 23) Als Beispiel führt er etwa das unübersichtliche Prozedere des Gesetzgebungsprozesses an. Im Lebensmittelrecht, Umweltschutz oder Wirtschaftsrecht treffe die EU Entscheidungen, die nicht öffentlich debattiert würden und überdies nur äußerst indirekt demokratisch legitimiert seien: „Die wesentlichen Entscheidungen werden vom Rat getroffen, das heißt hinter verschlossenen Türen. Der Rat arbeitet nach einer vordemokratischen Struktur. Als man die Prozedur schuf, ging man davon aus, dass Richtlinien der EU so etwas Ähnliches seien wie Rechtsverordnungen auf nationaler Ebene. Davon kann aber in der Zwischenzeit keine Rede mehr sein.“ Der Entscheidungsprozess sei überdies denkbar intransparent: „Die Verfolgung des Weges, den ein Vorschlag der EU-Kommission über das Parlament, den Rat, zurück zum Parlament und wieder in den Rat nimmt, ist kompliziert. Dazu ist die Kompetenzsituation bei unterschiedlichen Materien unterschiedlich. Selbst die Mitglieder der nationalen Parlamente sind häufig überfordert, wenn sie sagen sollen, in welchem Fall welche Entscheidung der Europäischen Union welche Verbindlichkeit hat.“ (S. 24)

Dass eine solche Struktur überhaupt entstehen konnte, hat groteske Züge. Aber trotz der anhaltenden Klagen, die keineswegs nur von Euroskeptikern/innen kommen, begegnet man dem Wirrwarr gemeinhin mit Nonchalance oder Achselzucken. Darin erinnert die Europäische Union an Kakanien, das Land, das Robert Musil im „Mann ohne Eigenschaften“ beschreibt. In diesem Land handelte man „immer anders, als man dachte, oder dachte anders, als man handelte“, und das alles „ständig im Gefühl der unzureichenden Gründe der eigenen Existenz“. 2 Auch darin erinnert die Union an Kakanien, den untergegangenen österreichisch-ungarischen Vielvölkerstaat. Mit großem finanziellen Aufwand ist die EU darum bemüht, sich zumindest in den Medien in einem besseren Licht zu präsentieren. So stellte sie vor zwei Jahren ein Förderprogramm bereit, um Rundfunk- und Fernsehsendungen zu finanzieren, die der „Imageverbesserung“ der EU dienen sollten. Nachdem die Journalisten/innen zuvor eine Verpflichtungserklärung zu unterschreiben hatten, „das Image der Europäischen Union, ihrer Politik und Einrichtungen weder direkt noch indirekt zu schädigen“, wurde anschließend das Ergebnis der ohnehin unkritischen Sendungen, etwa über die Arbeitsweise von EU-Institutionen, kontrolliert und evaluiert. 3

Es ist nicht überraschend, dass die Sendungen beim Publikum keinen nennenswerten Anklang fanden, denn kaum jemand sieht sich gern bezahlte PR-Beiträge an. Mit einigem guten Willen könnte man sagen: die Europäische Union wollte sich mit solchen Maßnahmen selbst ins Gespräch bringen. So bilanziert Claudio Franzius in seinem Beitrag, dass insbesondere die Europäische Kommission darum bemüht ist, „die Aufmerksamkeit für europäische Themen durch eine intensivierte Öffentlichkeitsarbeit zu erhöhen“. Er weist allerdings auch auf den springenden Punkt hin: „Erst ein hinreichend transparentes politisches System schafft die Voraussetzungen dafür, dass europäische Themen in der Öffentlichkeit auch diskutiert werden können. Wesentliche Entscheidungen werden jedoch im Rat hinter verschlossenen Türen getroffen. [...] es drängt sich der Eindruck auf, dass das Grundprinzip des europäischen Regierens weniger Transparenz und Öffentlichkeit, sondern eher die Bewahrung des Arkanen ist“ (S. 15).

Wenn die EU nunmehr verstärkt auf PR setzt, entspricht dies ganz der Natur des europäischen „Projekts“. Das Zauberwort „Projekt“, das auch und gerade in der Europa-Literatur omnipräsent ist, lässt bereits viel vom Charakter der Union erkennen. Sie ist eine Willensanstrengung, ein geplantes Unternehmen, das zwar auf wenig Gegenliebe stößt, aber von seinen Protagonisten/innen um so beharrlicher vorangetrieben wird. Dabei sind PR-Maßnahmen keineswegs immer das geeignete politische Instrument. Denn es ist der Streit, der das politische Geschäft belebt und für Öffentlichkeit sorgt. In diesem Sinne macht Thomas Risse in seinem Beitrag deutlich, „dass Kontroversen und Polarisierung zu den Wesensmerkmalen demokratischer Öffentlichkeiten gehören“ und außerdem „die Aufmerksamkeit für politische Themen erhöhen. Daraus folgt, dass eine Politisierung von EU-Themen die Voraussetzung für die Herausbildung einer genuin europäischen Öffentlichkeit wäre“ (S. 146). Auch Hans-Jörg Trenz kommt zu dem Ergebnis, dass jede Krise ein Anlass „öffentlicher Kommunikationsprozesse“ sei; jede Klage über das Öffentlichkeits- und Demokratiedefizit leite „neue Kommunikation“ ein (S. 84). – Aus der Not kann man also unschwer auch eine Tugend machen. Das wiederum bedeutet für die Brüsseler PR-Strategie: im Grunde muss sie sich nur darauf richten, für möglichst viel Streit zu sorgen. Dies dürfte nicht allzu schwer sein.

Anmerkungen:
1 Vgl. nur: Nanz, Patrizia, Les voix multiples de l’Europe. Une idée interdiscursive de la sphère publique, in: Raisons Politiques 10 (2003), S. 69-85.
2 Musil, Robert, Der Mann ohne Eigenschaften. Roman, hg. von Adolf Frisé, Reinbek bei Hamburg 1983, Bd. 1, S. 35.
3 Lahme, Tilmann, Gekaufte Berichte. Die EU bezahlt Journalisten, um ihr Image zu pflegen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 111, 13. Mai 2006, S. 45.

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20.07.2006
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