E. Kramer: Europäisches oder atlantisches Europa?

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Title
Europäisches oder atlantisches Europa?. Kontinuität und Wandel in den Verhandlungen über eine politische Union 1958-1970


Author(s)
Kramer, Esther
Published
Baden-Baden 2003: Nomos Verlag
Extent
331 S.
Price
€ 64,00
Reviewed for Connections. A Journal for Historians and Area Specialists by
Henning Türk, Historisches Institut, Universität Duisburg-Essen

Die Verhandlungen und Diskussionen über eine europäische politische Union in den 1960er-Jahren sind bisher noch nicht systematisch aufgearbeitet worden. Lediglich die Arbeit der Fouchet-Kommission, die sich mit Entwürfen über eine europäische politische Union befasste, war bisher Gegenstand der Forschung.1 Esther Kramer gebührt daher das Verdienst, diese Forschungslücke geschlossen zu haben. Dies gelingt der Verfasserin in souveräner Weise. Hervorzuheben ist dabei, dass sie deutsche und französische Archivalien, ergänzt um einschlägige Quellen aus dem belgischen Außenministerium und den europäischen Institutionen auswertet und damit ein breites Spektrum an Materialien für ihre Arbeit zur Verfügung hat.

Zunächst schildert Kramer die internationalen Rahmenbedingungen in den 1950er und Anfang der 1960er-Jahre. Darauf aufbauend erläutert die Verfasserin die Konzepte für eine europäische politische Union in den sechs EWG-Staaten, wobei das Konzept des französischen Staatspräsidenten Charles de Gaulle erwartungsgemäß im Vordergrund steht. Nach der Schilderung der ersten Gespräche unter den sechs EWG-Ländern über eine politische Union kommt Kramer auf die Verhandlungen des Fouchet-Ausschusses über eine europäische politische Union in den Jahren 1961/62 zu sprechen. Im Mittelpunkt ihrer Ausführungen stehen in diesem Zusammenhang zwei bisher noch nicht veröffentlichte inoffizielle Versionen des Fouchet-Plans, die im Anhang des Buches abgedruckt sind. Laut Kramer scheiterten die Fouchet-Pläne an ungelösten Grundsatzfragen der europäischen Einigung. Insbesondere divergierende Ansichten über das Verhältnis Europa-USA und die Furcht der kleineren EWG-Staaten vor einer deutsch-französischen Dominanz verhinderten eine Einigung. Anschließend geht die Autorin auf weitere Initiativen der EWG-Staaten zur politischen Einigung in den Jahren 1963/64 ein und macht deutlich, dass die nach dem Fehlschlag der Fouchet-Pläne gewandelten außenpolitischen Prioritäten de Gaulles die Ansätze für eine politische Zusammenarbeit scheitern lassen. Im folgenden Kapitel behandelt die Autorin die Krise des „leeren Stuhls“ in der EWG, deren Wurzeln sie in der ungelösten Frage nach der Rolle der Nationalstaaten in der europäischen Einigung sieht. Nach dem Luxemburger Kompromiss vom Januar 1966 und dem Rückzug der französischen Truppen aus der integrierten NATO-Verteidigung, brachte erst die Gipfelkonferenz in Rom zum 10jährigen Jubiläum der Römischen Verträge im Mai 1967 einen neuen zaghaften Versuch, zu einer politischen Zusammenarbeit zu gelangen. Hier verhinderten jedoch die Auseinandersetzungen um einen britischen EWG-Beitritt jeglichen Fortschritt. Auch der Versuch, über die WEU eine politische Zusammenarbeit zu beginnen, scheiterte, da Frankreich befürchtete, dass die anderen Fünf Großbritannien über die Hintertür WEU in die europäische Einigung einbeziehen wollten. Erst die Haager Gipfelkonferenz im Dezember 1969 machte durch die Einigung in der Beitrittsfrage den Weg für den Beginn einer politischen Zusammenarbeit frei. Abschließend zeigt Kramer, wie sich aus der Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ), die ausgehend von den Beschlüssen der Haager Gipfelkonferenz 1970 ins Leben gerufen wurde, die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) der EU entwickelte.

In der Arbeit von Kramer wird sehr deutlich, warum alle Initiativen für eine politische Union in den 1960er-Jahren scheiterten. Hauptstreitpunkt war vor allem das ungeklärte Verhältnis zwischen Europa und den USA. Dieses Problem stand auch hinter den Auseinandersetzungen um das britische Beitrittsgesuch und dem potenziellen Einbezug der Verteidigung in die europäische Einigung. Nach den intensiven Auseinandersetzungen um diese Fragen in den 1960er-Jahren war den Protagonisten der europäischen Einigung klar, dass nur ein relativ bescheidener Ansatz für die politische Zusammenarbeit erfolgreich sein konnte. Der vorsichtige Beginn der EPZ 1970 erscheint somit nur folgerichtig.

Die Arbeit ist insgesamt sehr konsistent. Trotzdem muss auf einige Schwierigkeiten hingewiesen werden. So besteht die Gefahr, durch die Fokussierung auf die politische Einigung die Entwicklungen auf europäischer Ebene insgesamt diesem Aspekt zu sehr unterzuordnen. Das wird im Kapitel zur Haager Gipfelkonferenz deutlich. Kramer schreibt, der französische Staatspräsident Pompidou habe „[f]ür seine Zustimmung zur EG-Erweiterung [...] faktisch die dem gaullistischen Konzept entsprechende EPZ“ (S. 266) erhalten. De facto hat Pompidou für seine Zustimmung zur Erweiterung nicht die EPZ sondern die Zustimmung der anderen Fünf zum Eintritt der EWG in ihre Endphase und die Zusicherung einer weiterhin für Frankreich vorteilhaften Agrarfinanzierung ausgehandelt.2 Die politische Zusammenarbeit war nur ein Randthema der Konferenz und spielte für Pompidou sicherlich keine zentrale Rolle. Ein weiteres Manko ist die teilweise Überhöhung der de Gaullschen Rolle. De Gaulles Position war sicherlich zentral, darf aber nicht über Initiativen der anderen Protagonisten hinwegtäuschen. So behauptet Kramer Bundeskanzler Kiesinger habe auf der Gipfelkonferenz in Rom im Mai 1967 de Gaulle dabei unterstützt, eine politische Kooperation zu organisieren (S. 230). Schaut man sich die Konferenzvorbereitung an, wird deutlich, dass die Initiative zur politischen Zusammenarbeit jedoch von Kiesinger ausging, der von de Gaulle unterstützt wurde.3

Abschließend bleibt festzuhalten, dass man das Buch von Kramer mit großem Gewinn lesen kann und eine Fülle neuer Einsichten erhält. Auch zur Beurteilung der heutigen Debatten über die gemeinsame europäische Außen- und Verteidigungspolitik ist ein Blick in die Auseinandersetzungen der 1960er-Jahre hilfreich, wie Esther Kramer mit vielen Verweisen immer wieder deutlich macht. Dabei sollte man aber vor Augen haben, dass die europäische Einigung in den 1960er-Jahren nicht nur auf den Bereich der politischen Zusammenarbeit beschränkt war.

Anmerkungen:
1 Siehe hierzu unter anderem die Beiträge in dem Sammelband von Deighton, Anne; Milward, Alan S. (Hgg.), Widening, Deepening and Acceleration. The European Economic Community 1957-1963, Baden-Baden 1993.
2 Siehe hierzu den Themenband des Journal of European Integration History 2(2003), das sich nur mit der Haager Gipfelkonferenz beschäftigt sowie Bitsch, Marie-Thérèse, Le sommet de la Haye. La mise en route de la relance de 1969, in: Loth, Wilfried (Ed.), Crises and Compromises. The European Project 1963-1969, Baden-Baden 2001, S. 539-565.
3 So sprach sich Kiesinger auf der Gipfelkonferenz nicht nur für regelmäßige Treffen der Staats- und Regierungschefs aus, sondern auch für deren Vorbereitung durch ein Expertengremium. Siehe Staatssekretär Lahr, z.Zt. Rom, an das Auswärtige Amt, Akten zur auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland (AAPD) 1967, Dok. 197, S. 842-848, hier S. 843. Zur Konferenzvorbereitung siehe die Aufzeichnungen im Nachlass des Parlamentarischen Staatssekretärs im Bundeskanzleramt Guttenberg, Bundesarchiv Koblenz, N1397, Bd. 90; vgl. Gassert, Philipp, „Wir müssen bewahren, was wir geschaffen haben, auch über eine kritische Zeit hinweg“ - Kurt Georg Kiesinger, Frankreich und das europäische Projekt, in: König, Mareike; Schultz, Matthias (Hgg.), Die Bundesrepublik Deutschland und die europäische Einigung 1949-2000. Politische Akteure, gesellschaftliche Kräfte und internationale Erfahrungen. Festschrift für Wolf D. Gruner zum 60. Geburtstag, Wiesbaden 2004, S. 147-166, hier S. 158f.

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03.01.2005
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