: Seafaring, Sailors and Trade, 1450-1750. Studies in British and European Maritime and Imperial History. Hampshire 2003 : Ashgate, ISBN 0-860-78897-0 300 S.

Klein, Bernhard; Mackenthun, Gesa (Hrsg.): Sea Changes. Historicizing the Ocean. London 2004 : Taylor & Francis, ISBN 0-415-94651-4 219 S.

Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Wolfgang Reinhard, Universität Freiburg

Dass der Wandel der Wissenschaft auch vor einem so exklusiven Gebiet wie der Seegeschichte nicht Halt macht und durch Zusammenwirken verschiedener Fächer beschleunigt wird, ist eine Einsicht, die sich bei vergleichender Lektüre dieser beiden Sammelbände regelrecht aufdrängt.

Im ersten hat der englische Historiker Scammell, bekannt durch zwei Gesamtdarstellungen der europäischen Überseeexpansion 800-1650 (1981) und 1400-1715 (1989), einer ersten Sammlung seiner Aufsätze (1995) eine zweite nachgeschoben, abermals zu einem stolzen Preis, deren zwölf Bestandteile zwischen 1960 und 2001 entstanden sind. Die ersten fünf befassen sich mit Englands Seefahrt, beginnend mit einer minutiösen Darstellung der Beiträge der Stadt Newcastle zum Seekrieg unter den frühen Tudors, die u. a. für dessen halbprivate Struktur sehr aufschlussreich ist (1960/61), fortgesetzt mit Studien über Schiffsbesitz (1962) und Handelsschiffsschiffsbau (1999), über den Kapitän (Master) englischer Handelsschiffe (2001) und Meutereien auf britischen Kriegs- und Handelsschiffen (2000), alles während der frühen Neuzeit.

Die übrigen befassen sich Fragen der europäischen Expansion, nämlich dem britischen Schmuggel in Brasilien und Spanisch-Amerika (2000), den britischen Übersee-Chartergesellschaften (1983), den konkreten Alltagsscheusslichkeiten europäischer Seefahrt nach Asien (1996), den überwiegend feindlichen englisch-portugiesischen Beziehungen in Vorderindien vor 1635 (1982) und der Seefahrt in Portugiesisch-Indien allgemein (1995). Dazu kommen zwei Überblicksessays, knapp über das Zeitalter der Entdeckungen 1400-1650 (1982), ausführlich und ausnahmsweise bis in die Gegenwart ausgreifend über Europa und Asien seit 1498 (2000).

Zwar nimmt der Verfasser außer etlichen portugiesischen Veröffentlichungen fast nur solche in englischer Sprache zur Kenntnis – kein untypischer Sachverhalt für britische Historiker der europäischen Expansion -, aber seine Studien sind bis auf die zuletzt genannten weitgehend und bisweilen vollständig aus englischen Archivalien geschöpft. Sie enthalten daher einen Reichtum an sorgfältig aufgearbeiteter Detailinformation, der seinesgleichen sucht, egal ob der Verfasser sich chronologisch von Fall zu Fall voranhangelt wie in der Schmuggelgeschichte oder nacheinander verschiedene Gruppen von Seefahrern und verschiedene Aspekte ihres Lebens an Bord untersucht wie im Aufsatz über die Seefahrt nach Indien. Sorgfalt dokumentieren auch die ergänzenden Nachträge zu den Aufsätzen und das Register.

Dabei hat sich in aller Stille, ohne dass Scammell sich darüber äußern würde, in den letzten Jahren sein Erkenntnisinteresse deutlich von der traditionellen Ereignis-, Wirtschafts- und Marinegeschichte zu sozialgeschichtlichen oder anthropologischen Fragestellungen verschoben, wenn die Lebenswirklichkeit von Kapitänen und Meuterern oder an Bord eines Indienschiffes im Mittelpunkt steht, freilich ohne dass sich seine traditionelle methodische Vorgehensweise geändert hätte.

Ganz anders der von den LiteraturwissenschaftlernInnen Klein (Anglistik) und Mackenthun (Amerikanistik) herausgegebene Band, der aus einer Greifswalder Tagung im Jahr 2000 hervorgegangen und außerdem, teilweise identisch, 2003 auf Deutsch und preiswerter (€ 34,00 / SF 56,00) im Konstanzer Universitätsverlag unter einem weniger anspruchsvollen Titel erschienen ist: „Das Meer als kulturelle Kontaktzone. Räume, Reisende, Repräsentationen“.

Fünf LiteraturwissenschaftlerInnen, drei Historiker, ein Ethnohistoriker und ein freier Autor haben sich hier zusammengefunden, um die Seegeschichte zu revolutionieren: weg von der traditionellen nationalen oder eurozentrischen Perspektive, wie sie bei Scammell noch deutlich zu erkennen ist, hin zur dezentrierten Frage nach gleichberechtigten transkontinentalen Kulturkontakten; weg von der Vorstellung geschichtsloser Ozeane, hin zur Geschichtlichkeit der Schiffe und ihrer Besatzungen, die manchmal fast zu einer „Waterworld“ stilisiert wird, für die kein Land mehr existiert; weg von der Verherrlichung der Seehelden, hin zur Geschichte des Proletariats der Meere, d. h. nicht nur der Sklaven, sondern auch der Matrosen, wie sie sich bei Scammell schon ankündigt; weg von der realhistorischen Begrenzung, hin zur transdisziplinären Öffnung für imaginierte Geschichte, sprich Literatur, einheimische Tradition, performative Aktion.

Im Sinne seiner früheren Bücher beginnt der Ethnohistoriker Greg Dening mit Hinweisen zur sprachlichen Besitzergreifung des Pazifik und einer Untersuchung der nicht nur historischen Bedeutung performativer Aktionen beider Seiten, vor allem dem Nachvollzug polynesischer Fernfahrten mit dem nachgebauten Doppelkanu „Hokule’a“ 1975f. und der Reise James Cooks mit der nachgebauten „Endeavour“ 1993 f.. Die Anglistin Vanessa Smith befasst sich mit einem der gar nicht so seltenen Fälle einer als Mann verkleideten Seefahrerin und ihrer Entdeckung durch tahitischen Scharfblick. Der Historiker James Francis Warren berichtet nach seinen beiden einschlägigen Büchern wie Südwest-Mindanao und der Sulu-Archipel im Gefolge des britischen Chinahandels im 18./19. Jahrhundert eine spezifische Wirtschaftsform entwickelten, die auf Produktion mit Sklaven beruhte, die ihrerseits durch Piraterie beschafft wurden. Der Historiker David A. Chappell behandelt vier wichtige Gruppen nicht-europäischer Seeleute auf europäischen Schiffen, die „Lascars“, die „Manila Men“, die „Kanaken“ und die westafrikanischen „Kru“, von denen die drei ersten sich als ziemlich unscharfe, mehr oder weniger rassistische Sammelkategorien entpuppen. Mit dem Anglisten Bernhard Klein wird zum Atlantik gewechselt. Er stellt vier literarische Schilderungen von Erfahrungen an Bord von Schiffen als besonders ausgeprägte imaginative Gegenwelten vor: Shakespeares „Antony and Cleopatra“, Behns „Oroonoko“, Defoes „Robinson“ und eine Stelle aus den Erinnerungen des Ex-Sklaven Equiano. Der Historiker Marcus Rediker interpretiert William Blakes „America, a prophecy“ als Vision eines „roten Atlantik“, der mit den verschiedenen Formen ausbeuterischer Gewalt auf See gewaltsam Schluss macht. Die Amerikanistin Gesa Mackenthun zeigt an Werken Melvilles und anderer, dass die fiktiven Schiffe und oft ebenso fiktiven Meere der amerikanischen Literatur vor dem Bürgerkrieg mit einem Repertoire kolonialer Erinnerungen und Konflikte diskursive Selbstverständlichkeiten suspendieren und mittels komplexer Konstruktionen mediterrane und afro-atlantische Vergangenheiten mit pazifischen Zukunftsperspektiven verbinden. Der unabhängige Historiker Alasdair Pettinger stellt die Diskriminierung freier Afrikaner auf Atlantikschiffen des 19. Jahrhunderts als Eigentümlichkeit der besonderen Welt an Bord dar. Der Anglist Tim Armstrong verknüpft mit Hilfe exakter rechtsgeschichtlicher Kenntnisse die Zong-Affäre, als 134 Sklaven zwecks Erhalt der Versicherung über Bord geworfen wurden, mit den bekannten Fällen von Kannibalismus Schiffbrüchiger, bei denen das Los in der Regel „zufällig“ den Schwächsten traf, und konstruiert eine durchhaltende Tradition des Menschenopfers bis zum Holocaust. Der Anglist Peter Hulme schließt den Band mit einem gemischt literarisch-historisch-soziologischen Überblick über die Figur des Schiffbrüchigen in einer Welt, die in ungleich bewertete Zonen gegliedert ist, von Shakespeares „Tempest“ bis zu den ertrinkenden Bootsflüchtlingen und den touristischen Pseudoschiffbrüchigen an tropischen Stränden unserer Tage.

Der Band ist extrem uneinheitlich; er schwankt zwischen geistreicher Oberflächlichkeit im letzten Beitrag, gewagten Konstruktionen bei Armstrong, Klein und Smith, gelungenen Deutungsversuchen bei Dening, Mackenthun und Rediker, solider historischer Darstellung bei Chappell, Pettinger und Warren. Dennoch löst er seinen Anspruch wenigstens insofern ein, als sich sämtliche angekündigte neue Perspektiven im einen oder anderen Beitrag finden lassen. Doch kann man mehr erwarten, wenn eine so uneinheitliche Gruppe mit so weit reichenden Absichten in die weithin unbekannte See wissenschaftlichen Wandels aufbricht? Dening sagt es uns (S. 33): vieles beginnt uns erst zu dämmern – wie auf See.

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12.11.2004
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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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