J. Marriot: The Other Empire

Cover
Title
The Other Empire. Metropolis, India and Progress in the Colonial Imagination


Author(s)
Marriot, John
Published
Extent
241 S.
Price
£ 49.99
Reviewed for Connections. A Journal for Historians and Area Specialists by
Harald Fischer-Tiné, International University Bremen, School of Humanities and Social Sciences

‘Imperial History’ angelsächsischer Provenienz genoss lange Zeit den Ruf eines etwas altbackenen Forschungsfeldes, von dem zumindest für Kultur- und Sozialhistoriker keine großen theoretischen Impulse zu erwarten waren. Dies hat sich spätestens seit den 1980er Jahren geändert, als sich in dem bis dato hauptsächlich militär-, diplomatie- und wirtschaftsgeschichtlich ausgerichteten Gebiet immer stärker der Einfluss des ‚cultural turn’ bemerkbar machte. Beinahe zeitgleich reflektierten Pionierarbeiten amerikanischer Historiker wie Bernard Cohn1 und Frederick Cooper den wachsenden Einfluss der ‚postcolonial studies’ auf die Historiographie des britischen Empire. Sie entfachten Debatten, die vom Mainstream der Großbritannienhistoriker ebenso wahrgenommen wurden wie von Vertretern historisch ausgerichteter ‚area studies’. Eine intensive Auseinandersetzung mit Englands imperialer Vergangenheit, ist — diese Erkenntnis setzt sich mittlerweile immer stärker durch — nicht nur von Bedeutung, um die historische Entwicklung und aktuelle Befindlichkeit der ehemaligen Kolonien zu verstehen, sondern auch diejenigen des britischen Mutterlandes selbst.2

Das von Barney Cohn und Fred Cooper und Ann Stoler bereits Mitte der 1990er erhobene Postulat, europäische Zentren und koloniale Peripherien in einem gemeinsamen epistemologischen Feld zu analysieren3, fand selten eine so konsequente Umsetzung wie in dem hier besprochenen Buch von John Marriott. In The other Empire untersucht der an der University of East London lehrende Historiker in insgesamt sieben Kapiteln die Entwicklung und wechselseitige Beeinflussung britischer Elitendiskurse über die urbanen Unterschichten Londons einerseits und die kolonisierte Bevölkerung Indiens andererseits. Der Untersuchungszeitraum umfasst dabei das gesamte ‚lange’ 19. Jahrhundert. Das umfänglich ausgewertete Quellenmaterial konzentriert sich hauptsächlich auf „published popular accounts that reached a wider audience“ (S. 7), namentlich Reiseliteratur, Reportagen und Publikationen christlicher Missionare; aber auch Belletristik und Verwaltungsakten werden in gewissem Maße berücksichtigt. Der gleichfalls überaus reiche Korpus der benutzten Sekundärliteratur umfasst neueste Publikationen zur indischen Kolonialgeschichte ebenso wie eine Fülle von Beiträgen zur britischen Geistes-, Kultur- und Sozialgeschichte. Allein die Zusammenschau dieser ansonsten zumeist in Isolation voneinander betrachteten Forschungsliteratur stellt eine bemerkenswerte Leistung dar.

Marriott zufolge war das gemeinsame Wissensfeld, das sich zur Durchdringung und Erklärung geographisch so unterschiedlicher Räume wie Britisch-Indien und des Londoner East End (und ihrer jeweiligen Bevölkerung) konstituierte, maßgeblich durch ein zentrales Prinzip strukturiert, dasjenige des Fortschritts. Der Fokus seiner Darstellung liegt auf der Analyse der Wahrnehmung von Gruppen, die man in ‚Zentrum’ und ‚Peripherie’ als Bedrohung für die Entfaltung von progress und improvement ansah: den ‚unzivilisierten’ natives in Britisch-Indien und den ‚unzivilisierten’ Bewohnern der Elendsviertel in der englischen Metropole.

Die Spannungen zwischen dem Fortbestehen urbaner Armut in England und der moralisch fragwürdigen Praxis der Sklaverei einerseits sowie dem neuen liberalen Fortschrittsideal von Denkern wie Adam Smith andererseits steht im Mittelpunkt des treffend ‚Antinomies of Progress’ überschriebenen ersten Kapitels. Marriott ruft hier detail- und kenntnisreich insbesondere die Rolle evangelikaler Gruppen und Vordenker (wie etwa der Clapham Sekte) in so unterschiedlichen Projekten wie der Abolition des Sklavenhandels, der Missionierung der neuen Kolonialterritorien und der moralischen ‚Hebung’ der eigenen Unterschichten in Erinnerung (S. 29-35).

Das zweite Kapitel stellt die beiden Schauplätze zum ersten mal direkt gegenüber und kontrastiert frühe Reisebeschreibungen aus Indien mit dem aufkeimenden Genre der ‚Town-Trickster-Literatur’, welche Londons so genannte ‚Unterwelt’ zum ersten Mal zum Gegenstand literarischer ‚Fremdenführung’ machte. Trotz gelegentlich auftauchender Metaphern, in denen die Armenviertel der Themsemetropole mit den ‚desarts [sic!] of Africa and Arabia’ (S. 50) gleichgesetzt werden, kommt Marriott zu dem Schluss, es habe bis zum Ende des 18. Jahrhunderts keinen wirklichen Dialog zwischen beiden Genres gegeben. Ein effizientes gemeinsames ‚Wissensfeld’ musste also erst noch geschaffen werden.

Erste quasi-wissenschaftliche Versuche, die unbekannten Territorien intellektuell zu kartografieren, fanden erst um die Wende zum 19. Jahrhundert statt und sind Gegenstand des dritten Kapitels. Marriott zeigt hier, wie die Londoner Unterschichten immer mehr als „threat to commercial and imperial interests“ wahrgenommen wurden (S. 75). Ähnliche Verschiebungen lassen sich in der Repräsentation der Bevölkerung Indiens beobachten, wo die Übernahme territorialer Herrschaft und die allmähliche Herausbildung kolonialstaatlicher Strukturen seit den 1770er Jahren einen Bedarf nach verwertbarem Wissen über die neuen Untertanen generierten. Eine wichtige Rolle spielten auch hier wiederum Bestrebungen der ‚Evangelicals’, das Christentum in Indien zu verbreiten. Es waren nicht zufällig die Beschreibungen von religiösem Sendungsbewusstsein durchdrungener Angestellter der East India Company wie Charles Grant oder Claudius Buchanan, die das (meist negative) Bild der ‚Asiatic Subjects of Great Britain’ im Mutterland prägten (S. 84-94). Wie im Falle der ‚verrohten’ heimischen Unterschichten leitete man aus dieser Negativdiagnose eine Zivilisierungsmission gegenüber den Schutzbefohlenen ab.

Auf welche Art und Weise dieser Prozess des ‚otherings’ im weiteren Verlauf des 19 Jahrhunderts systematisiert wurde, wird im darauffolgenden Kapitel ausführlich am Beispiel der Bevölkerung des Londoner East End aufgezeigt. Einen entscheidenden Beitrag hierzu leisteten einmal mehr christliche Pamphlete. Mindestens ebenso bedeutend war jedoch das neue, eng mit dem Aufstieg des investigativen Journalismus verknüpfte Genre der Sozialreportage. Es war das ‚urban slum travel writing’, das in den 1850er und 1860er Jahren eine deutlich von den zeitgenössischen Rassentheorien geprägte Rhetorik zur Beschreibung der ‚metropolitan poor’ einführte und immer häufiger koloniale Referenzpunkte wählte. Trunksucht, Faulheit, kriminelle Neigung und Triebhaftigkeit wurden in beiden Fällen ebenso Konstituenten dieser Texte wie eine unkontrollierte Mobilität: Bettler und Stadtstreicher, die „wandering tribes of the city“ gerieten zur drastischsten Verkörperung eines zivilisationsfernen ‚inneren Orient’ (S. 114-9).

Neue Genres der Beschreibung und neue Methoden der Datenerhebung prägten derweil auch die fortschreitende epistemologische Durchdringung Britisch-Indiens. Bereits in den 1820er Jahren wurden von der Kolonialregierung erste geographische ‚Surveys’ und ethnographische Studien in Auftrag gegeben. Besondere Aufmerksamkeit schenkten die ‚scholar-administrators’ dabei von Anfang an den nomadisierenden Gruppen der indischen Gesellschaft. Wie der Autor u.a. am Beispiel der als Straßenräuber berüchtigten ‚Thugs’ exemplifiziert (S. 150-153), wurde ein nichtsesshafter Lebensstil als bedrohlich für die geplante Modernisierung und Zivilisierung der Kolonie empfunden.

Das sechste und fraglos gelungenste Kapitel wendet sich wieder der Metropole (Darkest England) zu und untersucht mit beeindruckender Akribie und einem feinen Gespür für sprachliche Nuancen journalistischer und literarischer Texte die weitere diskursive Ethnisierung (racialisation) der Klassenunterschiede in Großbritannien. Eine Übernahme der manichäischen Schwarz-Weiß-Allegorie, die auch dem Kolonialismus zu eigen war, wurde in der Metropole u. a. durch den Differenzmarker Schmutz erleichtert. Die Beziehung der englischen Eliten zu den ‚great unwashed’ war jedoch höchst komplex. Ähnlich wie diejenige zu den kolonialen Untertanen blieb sie von einer Ambivalenz zwischen Abstoßung und (häufig auch erotischer) Anziehung geprägt. Davon legt nicht zuletzt die viktorianische Faszination mit dem Sozialcharakter der Prostituierten beredtes Zeugnis ab (S. 170). Der Einzug der in den Kolonien erprobten Rassenrhetorik in die Debatte um die urbane Armut zeitigte indes auch extreme Folgen. So forderten einzelne Autoren wie etwa Arnold White auf der Grundlage sozialdarwinistischer Argumente eugenische Maßnahmen, um eine Schwächung der englischen ‚Rasse’ durch ein weiteres Anwachsen der ‚degenerierten’ Unterschichten zu stoppen (S. 176).

Weniger überzeugend als die Analsye des ‚Darkest England’-Mythos fällt Marriotts Diskussion der weiteren ‚Ethnisierung’ der indischen Bevölkerung durch koloniale Diskurse und Praktiken im abschließenden siebten Kapitel aus. Insbesondere die komplexe Debatte über den Zusammenhang zwischen ‚Rasse’ und Kaste wird äußerst holzschnittartig wiedergegeben. Einflussreiche Verfechter von Rassentheorien wie der hohe Verwaltungsbeamte und Ethnologe H. H. Risley beispielsweise werden in wenigen Zeilen abgehandelt, und ein Teil der neueren Forschungsliteratur bleibt unberücksichtigt (S. 213).

Insgesamt lässt sich festhalten, dass Marriott mit The other Empire ein faszinierendes und stimulierendes Buch gelungen ist — wenn sich durchaus auch einige Kritikpunkte finden lassen. So ist es mitunter etwas ermüdend, seiner jargongeladenen Prosa zu folgen. Ein schwerwiegenderes konzeptuelles Grundproblem von Marriotts Untersuchung lässt sich gleichfalls nicht leugnen: Ostlondon mit Ostindien zu vergleichen, bleibt angesichts der offensichtlichen Asymmetrien der beschriebenen Räume problematisch. Die ‚urban poor’ in der britischen Hauptstadt stellen fraglos eine weit geschlossenere Gruppe dar als die ‚colonial subjects’ auf dem geographisch, ethnisch, sozial und kulturell äußerst heterogenen indischen Subkontinent. Es überrascht daher kaum, dass die Kapitel und Abschnitte, in denen es um die Metropole geht, durchweg überzeugender ausfallen als diejenigen, die sich mit der indischen Seite befassen. Nichtsdestoweniger gelingt es Marriott immer wieder auf verblüffende Art, direkte Wirkungskanäle und diskursive Analogien offen zu legen, die beide Schauplätze miteinander verbinden. Man ist nach der Lektüre geneigt, sich seiner Grundthese anzuschließen: Der jahrzehntelange kontinuierlich Austausch von Akteuren und Waren aber auch von Wissenssystemen, Theorien und Begrifflichkeiten lässt es in der Tat sinnvoll erscheinen, Großbritannien und seine Kolonien in einem gemeinsamen Feld zu denken und zu analysieren. Es bleibt also zu hoffen, dass Marriott nicht nur viele Leser sondern auch viele Nachahmer in der historischen Zunft findet. Diese dürfen dann getrost auch überschaubarere Felder beackern.

Anmerkungen:
1 Cohn, Bernard S., Colonialism and its Forms of Knowledge. The British in India, Delhi 1997.
2 Eine solche Argumentation ist besonders explizit bei Wilson, Kathleen (Hg.), A New Imperial History. Culture, Identity and Modernity in Britain and the Empire, 1660-1840, Cambridge 2004, Sen, Sudipta, Distant Sovereignty. National Imperialism and the Origins of British India, New York 2002 und Hall, Catherine, Civilising Subjects: Metropole and Colony in the English Imagination, Oxford 2002.
3 Cohn, Colonialism and its Forms of Knowledge, Cooper, Frederick, Stoler, Ann Laura, Tensions of Empire: Colonial Cultures in a Bourgeois World, Berkeley 1997.

Editors Information
Published on
25.09.2006
Edited by
Classification
Temporal Classification
Regional Classification
Subject - Topic
Book Services
Contents and Reviews
Availability
Additional Informations
Language of publication
Language of review