R. Aldrich: Colonialism and Homosexuality

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Title
Colonialism and Homosexuality.


Author(s)
Aldrich, Robert
Published
London 2003: Routledge
Extent
320 S.
Price
$ 24.95
Reviewed for Connections. A Journal for Historians and Area Specialists by
Marc Schindler-Bondiguel, EHESS Paris

Studien zu Homosexualität sind in der Geschichtswissenschaft im letzten Jahrzehnt auch bei wachsendem Interesse an geschlechtergeschichtlichen Themen zu einer Mangelware geworden. Die Männerforschung (weibliche Homosexualität ist übrigens nicht das Thema des Buches von Robert Aldrich) leistet paradoxerweise selbst einen Beitrag zu diesem „Verschwinden“ der Homosexualität von der historiografischen Bühne: Mit der breiten Rezeption von Robert Connells Konzept der hegemonialen Männlichkeit(en) wird Homosexualität vielfach als unterdrückte Männlichkeit per se definiert. Bewertet wird sie dann mit Blick auf ihren Beitrag zur Konstruktion dominanter heterosexueller Männlichkeit, implizit wird Homosexualität damit folglich als marginale Form von Männlichkeit festgeschrieben.1

Die Studie von Aldrich kann indes an vielen Beispielen zeigen, dass die koloniale Sphäre scheinbar asexuellen, bisexuellen und homosexuellen Männern eine Teilhabe an der nun kolonial gebrochenen „patriarchalischen Dividende“ verschaffte und sie in den asymmetrischen Machtstrukturen der kolonialen Situation zu Komplizen hegemonialer Männlichkeit(en) machen konnte. Denn hier war hegemoniale Männlichkeit gleichbedeutend mit weißer Männlichkeit, die in einem mitunter ambivalenten Verhältnis zur indigenen Männlichkeit stand und zwischen Begehren und Herrschaft sowie zwischen Marginalisierung und Hegemonie oszillierte. Bedauernswert ist allerdings, dass solche und andere soziologischen Modelle zur Analyse mann-männlicher Beziehungen kaum Anwendung bei Aldrich finden. Seine Studie bleibt vielmehr der Ebene der Beweisführung und Sichtbarmachung von europäischer Homosexualität im kolonialen und imperialen Kontext verhaftet und privilegiert mikrohistorische Fallstudien vor soziohistorischen Analysen.

„Colonialism and Homosexuality“ ist eine postkoloniale Kulturgeschichte mann-männlicher (Macht-)Beziehungen vor dem Hintergrund der erst kolonialen und dann imperialen Expansion Europas im 19. und 20. Jahrhundert, die mit der Dekolonisation und „gay tourism“ endet. Sie führt durch das britische, französische und niederländische Empire, von Indien und Asien über Nordafrika und den „Orient“ bis nach Ozeanien, durch Bordelle, Parks, Badehäuser, Wüsten, in Gerichtssäle, Strafkolonien, Siedlergemeinschaften und Grenzposten etwa. Der Mannigfaltigkeit der Orte und der studierten Quellen – Hunderte von Briefen, Tagebüchern, unveröffentlichten autobiografischen Manuskripten, aber auch Gerichtsakten, Fotografien, Bildern, Gedichten und Romanen – entspricht die Vielfalt mann-männlicher Beziehungen unter kolonial-imperialen Vorzeichen: Aldrich, der primär Beziehungen zwischen europäischen und indigenen Männern in den Blick nimmt, wählt hier die gewinnbringende Unterscheidung zwischen Homosexualität, Homoerotik und Homosoziabilität als roten Faden seiner Analyse (S. 3, 406). Zeitgenössische Selbstzensur und Repression komplizieren diesen historiografischen Kniff, denn Heteronormativität war auch in den europäischen Kolonien des 19. und 20. Jahrhunderts allgegenwärtig. Koloniale Homosexualität und ihre kolonialpolitische Handhabung variierten jedoch in Zeit und Raum, die koloniale Sphäre war folglich weder ein homosexuelles Paradies noch eine homosexuelle Hölle. Mit einem akteurszentrierten Fokus, der die biografischen Aspekte europäischer Männlichkeit in den Kolonien einfängt, zeigt Aldrich erfolgreich auf, dass die Grenzen zwischen den vielfältigen Formen gleichgeschlechtlicher Beziehungen fließend und porös waren (S. 11, 96ff., 411). Diese Vielfalt reicht von der mit „rassischen“ Stereotypen aufgeladenen Ästhetisierung viriler männlicher Körper über intime Männerfreundschaften bis hin zu unterdrückter und situativer Homosexualität in der homosozialen kolonialen Welt. Sie umfasst ebenso bezahlten mann-männlichen Sex, Affären, Romanzen und dauerhafte Liebesbeziehungen im exotisierten Raum, die durch koloniale Machtbeziehungen und durch die in manchen indigenen Gesellschaften fehlende Trennschärfe zwischen Homo- und Heterosexualität erleichtert wurden, sowie von affirmierter homosexueller und politischer Identität. Aldrich gelingt es auf diese Weise eindrucksvoll, die Dichotomie zwischen Homo- und Heterosexualität zugunsten sexueller Ambivalenz und Unentschiedenheit aufzubrechen (S. 10f., 52).

Der erste Teil, „Colonials and homosexuality“, handelt von öffentlichen Skandalen, individuellen Tragödien und unterschiedlichen Gruppen europäischer Männer (und ihren meist indigenen Partnern): Entdecker, Offiziere, Beamte, Unternehmer, Fotografen, Schriftsteller und Künstler. Vertreten sind hier viele der „leading figures in the imperial pantheon“ (S. 99): Hubert Lyautey, Cecil Rhodes, Lord Kitchener, Lawrence of Arabia und Morton A. Stanley, deren politisches Handeln oftmals nicht von gleichgeschlechtlichem Begehren zu trennen war (S. 103). Daneben finden sich zahlreiche europäische Kunstschaffende: Poeten, Schriftsteller und orientalistische Maler (Arthur Rimbaud, Pierre Loti, Herman Melville, Walter Spies), die eine homoerotische Kultur des Kolonialismus und die Kolonien als „potential homosexual utopias“ (S. 145) entwarfen.

Der zweite Teil, der hier besonders hervorgehoben werden soll, diskutiert unter der Überschrift „Sites of colonial homosexuality“ anhand von Fallstudien die je nach Kolonie und Politik unterschiedliche Ausprägung und zwischen Duldung und Repression schwankende Handhabung homosexueller (Sub-)Kulturen in Australien, Ozeanien, Südostasien, Indien und Nordafrika. Er beinhaltet eine ausgezeichnete Analyse mann-männlicher Beziehungen in den Strafkolonien und kolonialen Siedlergesellschaften Australiens und Melanesiens. Anhand von Gerichtsakten rekonstruiert Aldrich hier die Vielfalt der Beziehungen, ihre Orte und ihre kolonialpolitischen Implikationen zwischen Fraternisierung, bürgerlicher Respektabilität und Aufrechterhaltung des europäischen Prestiges (S. 218ff., 235ff., 271f.). Auch die subalternen „kolonialen Untertanen“ kommen in diesem Teil erfreulicherweise und infolge überlieferter Briefwechsel ausgiebig zur Sprache: ein Kapitel handelt von der transkulturellen Freundschafts- und Liebesbeziehung zwischen dem britischen Homosexuellenaktivisten Edward Carpenter und dem der tamilischen Elite angehörenden P. Arunachalam (S. 290ff.), ein weiteres vom Verhältnis zwischen dem britischen Schriftsteller E.T. Forster und zwei indischen Männern, Masood und Mohammed. Diese Beziehungen enthüllen nach Aldrich ein „sexual paradox of imperialism“, in dem Freundschaft, Sex und Empire eng miteinander verbunden waren: Es beruhte auf kolonialer Macht und Kulturmission, unterlief jedoch gleichfalls die moralische Ordnung europäischer Gesellschaften (S. 324ff., 407). In einem Abschnitt zu Nordafrika wird eine Brücke zwischen kolonialer Homosexualität und Antikolonialismus im französischen Kolonialreich geschlagen. Für homosexuelle Schriftsteller und Künstler wie André Gide, François Augiéras und Jean Genet war die koloniale Sphäre ein Raum sexuellen Erwachens, sexueller Befreiung und politischer Bewusstwerdung zugleich, der ein „colonialist dilemma of attraction and repulsion to foreign places, a desire both to integrate and to dominate“ hervorbrachte (S. 351).

Aldrichs Darstellung ist für die historische Geschlechter- und Kolonialismusforschung insbesondere hinsichtlich des Quellenreichtums und der Hervorhebung sexueller Ambivalenzen ein großer Gewinn. Nicht nur die etwas überspitzt vorgebrachte Intention der Studie, die homosexuellen Männern zu einem gebührenden Platz in der Geschichte des europäischen Kolonialismus verhelfen möchte, soll jedoch kritisiert werden. Auch die Kontextualisierung und forschungsmethodische Ausrichtung lässt zu wünschen übrig: Die Darstellung liest sich vor allem als eine homosexuelle Männergeschichte, die der traditionellen regionalen Kolonialgeschichte unter vielen Gesichtspunkten verhaftet bleibt. Der Einfluss der kolonialen Erfahrung homosexueller Männer auf ihr Leben, ihren politischen Standpunkt und ihre Kreativität hat die europäischen Gesellschaften nach Aldrich zwar nachhaltig geprägt, so eine Hauptthese (S. 5, 180, 409f.). Es handelt sich hier jedoch weder um eine Geschlechtergeschichte, die koloniale Homosexualität(en) im Kontext vielfältig gebrochener Machtrelationen innerhalb der sich krisenhaft globalisierenden Geschlechterordnung seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert untersucht, noch um einen Beitrag zur Geschichte der Entstehung einer „imperial social formation“, die die Dichotomie von Metropole und Kolonien überwinden könnte.2

Die Flucht vor der strikten Reglementierung des Sexuallebens in europäischen Gesellschaften sowie Puritanismus und Heteronorm werden zwar beständig mit der in den Kolonien vorgefundenen Unabhängigkeit, Freiheit und grundsätzlichen (sexuellen) Verfügbarkeit „kolonialer Untertanen“ kontrastiert. „Colonialism and Homosexuality“ ist jedoch keine explizite Geschichte der asymmetrischen kolonialen Geschlechterverhältnisse und des Überschreitens von Geschlechter-, Klassen- und „Rassengrenzen“: Von Beziehungen also, die die binäre Kodierung der sich um 1900 herausbildenden, auf Heterosexualität und „Rassentrennung“ zielenden imperialen Geschlechterordnung unterliefen. Viele der von Robert Aldrich zum „Beweis“ für koloniale Homosexualität angeführten Indikatoren – Homosoziabilität in Form von Kameradschaft, Männerbünden und -freundschaft gepaart mit Werten wie physischer Kraft, Ausdauer, mentaler und charakterlicher Stärke, Mut und Loyalität; Homoerotik in Form der Ästhetisierung von Männerkörpern und sexueller Ambivalenz – könnten ebenso als Ausdruck einer Remaskulinisierung entstehender imperialer Gesellschaften und als Reaktion auf die destabilisierte Geschlechterordnung der Jahrhundertwende interpretiert werden. Das hieße, als eine Strategie der Rückeroberung geschlechtlicher Hegemonie in der und durch die koloniale Sphäre, an der europäische Männer unterschiedlicher sexueller Orientierung partizipierten.

Anmerkung:
1 Hier sei als Beispiel auf die dritte Tagung des Arbeitskreises für interdisziplinäre Männer- und Geschlechterforschung (AIM Gender) zum Thema der „hegemonialen Männlichkeit(en)“ 2004 hingewiesen, auf der ein einziger Beitrag zu männlicher Homosexualität (Martin Lücke) vertreten war. Vgl. den Tagungsbericht unter www.ruendal.de/aim/gender.html
2 Vgl. etwa Burton, Antoinette, Introduction. On the Inadequacy and the Indispensability of the Nation, in: Dies. (Hg.), After the Imperial Turn, Durham 2003, S. 1-23, hier S. 11.

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08.04.2005
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