C. A. Lemke Duque: Europabild – Kulturwissenschaften – Staatsbegriff

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Title
Europabild – Kulturwissenschaften – Staatsbegriff. Die Revista de Occidente (1923–1936) und der deutsch-spanische Kulturtransfer der Zwischenkriegszeit


Author(s)
Lemke Duque, Carl Antonius
Published
Frankfurt am Main 2014: Vervuert/Iberoamericana
Extent
858 S.
Price
€ 120,00
Reviewed for Connections. A Journal for Historians and Area Specialists by
Albrecht von Kalnein, Werner Reimers Stiftung, Bad Homburg

Versuche, gesellschaftliche Fragen und politische Probleme unserer Zeit zu beschreiben, erfordern fast unausweichlich den Blick auf Medien und Kommunikationsformen. Der Siegeszug der „Neuen Medien“; die Medialisierung von Politik; Aufstieg, Krise, Wandlungen der gedruckten Medien und die Auswirkungen auf die jeweilige politische Kultur eines Landes – selten waren sich Schriftsteller und Wissenschaftler, aber auch (Medien-)Unternehmer und Politiker der fast konstitutiven Bedeutung von Zeitungen. Zeitschriften und Rundfunk (sowie nun entsprechender Internet-Formen) für Gesellschaft und Politik so bewusst wie heute. Die Geschichtswissenschaften verfügen seit Jahrzehnten über beispielhafte Studien über das Wechselverhältnis zwischen Medien und Gesellschaft und mittlerweile auch über entsprechend ausgewogene Handbücher.1

Carl Antonius Lemke Duque, Universität Deusto/Bilbao, legt mit „Europabild – Kulturwissenschaften – Staatsbegriff“ eine Untersuchung über eine führende Stimme aus Spanien vor, die vor diesem Hintergrund besonderes Interesse verdient. Im Spiegel der bedeutendsten Zeitschrift der „Zwischenkriegszeit“, der Revista de Occidente (RdO) bietet das Buch eine geistesgeschichtliche Studie über Spanien zwischen 1923 und 1936, der Jahre also zwischen dem Putsch M. Primo de Riveras und dem Entfachen des Bürgerkriegs durch F. Franco. Das Thema gewinnt an Spannung dadurch, dass die ebenfalls 1923 gegründete Zeitschrift hohen intellektuellen Anspruch mit europäischem Selbstverständnis und Sendungsbewusstsein verband, also ein Gegengewicht zur intellektuellenfeindlichen Politik der Generäle verkörperte.

Die RdO verstand sich aber auch als wissenschaftlicher Brückenschlag nach Deutschland und zu dessen Universitäten. Denn ihr Gründer und Herausgeber, José Ortega y Gasset (1883–1955), war und blieb aufs engste mit dem deutschen Horizont verbunden, hatte doch der Verlegersohn, Stipendiat der legendären „Junta de Ampliación de Estudios“ und Madrider Großbürger nach seinen Worten „die Hälfte seiner Hoffnungen und fast seine gesamte geistige Disziplin“ um 1908 an deutschen Lehrstühlen und insbesondere an der Universität Marburg erworben. Gegründet von einem der führenden Intellektuellen der Reformbewegung in Spanien nach 1898, wollte die Zeitschrift sowohl eine geistige Öffnung der Gesellschaft nach Deutschland und Europa als auch einen Modernisierungsimpuls in Wissenschaft und Bildung für sein Land bewirken.

Lemke Duque möchte mit der Untersuchung – die auf seiner 2011 an der Ludwig-Maximilians-Universität München verteidigten Dissertation beruht – „die […] etablierte These von der Rolle der Revista de Occidente und ihres Direktors Ortega y Gasset als wichtigste Impulsgeber der kulturellen, wissenschaftlichen und sozialpolitischen Modernisierung Spaniens während der 1920er- und 1930er-Jahre prüfen“ (S. 629). Äußeres Ergebnis: ein mehr als stattliches Buch von 633 Textseiten, etlichen Grafiken und mehreren Anhängen.

In drei (recht unterschiedlich dimensionierten) Längsschnitten – „Das Europa- und das Spanienbild“, „Kultur- und Naturwissenschaften“, „Staat – Wirtschaft – Gesellschaft“ – analysiert Lemke Duque mit teils weit ausholenden Exkursen die Beiträge und die Autorschaft der legendären Zeitschrift und deren Ort in den wissenschaftlichen Debatten ihrer Zeit (vor allem Philosophie, Jura und Geschichtswissenschaften). Dies wird umsichtig ergänzt durch den Einbezug anderer Publikationsreihen Ortegas bzw. des Verlags der Revista wie dessen „Bibliothek der Ideen des 20. Jahrhunderts“ (Verlag Espasa Calpe). Ferner zieht er Ergebnisse deutscher Kulturpolitik in Spanien hinzu, die gerade in der Weimarer Republik mit Zentren akademischen Austauschs in Barcelona und in Madrid, unter anderem der Görres-Gesellschaft, besonders aktiv war.

Der im Titel benannte Ansatz der Kulturtransfer-Forschung bleibt dabei eher proklamiert als systematisch angewandt. Weder gilt diesem (oder auch der deutsch-spanischen Kulturpolitik der 1920er-Jahre) ein eigenes Kapitel noch hat sich der Verfasser ausweislich der Bibliographie mit der aktuellen Forschungsliteratur auseinandergesetzt. Manche Ausführungen dazu wirken insofern eher verschraubt als erhellend („die phänomenologisch-komparative These einer Autogeneration ursprünglichen Sinns“, S. 19).

Eher veranschaulichend als schon bereichernd bleibt, andererseits, der Wert der zahlreichen computergestützten Grafiken und Diagramme – auch zu „Aufsatz- und Rezensionsproduktivität der Revista“ oder der „Gesamtproduktivität der Unterbibliotheken des Verlages“2. Lemke Duque lässt auch hierzu systematische Ausführungen vermissen über Erkenntnisinteresse, Methodik und Ertragspotential dieser zusätzlichen Auswertungstechnik. Als Ausblick auf die potentiell eigenständige Aussagekraft bei (noch ausgereifterem) Einbezug von Methoden der Digital Humanities kann diese Komponente freilich dienen.

Insgesamt, so ist zunächst festzuhalten, bearbeitet die dementsprechend lang geratene Promotionsschrift ein wohl zu weit abgestecktes Feld, zumal ihre steiflederne Diktion es dem Leser nicht gerade leicht macht.

Das Buch Lemke Duques, das durch wissenschaftlichen Ansatz und bisweilen theoretisierenden Stil fast statisch daherkommt, gilt wie angedeutet einer der bewegtesten Epochen der spanischen Zeitgeschichte. In den Jahren nach 1923 rang die spanische Gesellschaft um Grundfragen der gesellschaftlichen und politischen Ordnung. Gewiss, sie brachten 1931 das (friedliche) Ende der Monarchie mit sich und den instabilen Übergang in eine bald überforderte parlamentarische Demokratie, deren ungelöste Fragen und Projekte 1936 in einen mörderischen Putsch und Bürgerkrieg mündeten. In jenen „Happy Twenties“ (J. Moreno Luzón) entstanden freilich auch eine außerordentliche kulturelle Blüte („Generation von 1927“) und eine neue, von Intellektuellen wie Ortega mitgeprägte Verfassung. Dank ihrer meist herausragenden Autoren (fast durchweg männliche) und der durchdachten Verlagsführung durch Ortega, wohl die erste Verlegerpersönlichkeit modernen Typs in Spanien, wirkte die RdO dabei entscheidend mit. Nach dem Ende des Franquismus sollte diese Phase im Lichte der Verfassungsdebatte von 1978 für Spanien neue Bedeutung erhalten.

In ihren drei Kernkapiteln über das Europabild, das Wissenschaftsverständnis und den Staatsbegriff der RdO vermag die Arbeit die intellektuellen Auseinandersetzungen sehr überzeugend zu schildern. Professoren und Schriftsteller aus Deutschland fanden dabei, wie Lemke Duque nachweist, überproportional häufig Platz. Mit besonderem Interesse verfolgt der Leser, wie die Debatten sich im Gefolge der Weltwirtschaftskrise um 1930 und des Niedergangs der Monarchie von König Alfons XIII. zuspitzten. Die Analyse verweist mit Recht auf den folgenreichen Beitrag konservativer, elitär ansetzender Denker aus Deutschland wie Carl Schmitt oder Hermann Keyserling.

Das Resümee der Studie, zu dem sich der Leser geduldig vorarbeitet, weist schließlich einen so untersetzten wie stringent vorgetragenen Dekalog an wissenschaftlichen Ergebnissen auf, welcher das „Image“ der renommierten Zeitschrift Ortega y Gassets, des spanischen Vorzeige-Intellektuellen jener Jahre (etwa für E. R. Curtius) empfindlich berührt. Was als weltoffenes, kultiviertes Forum für geisteswissenschaftliche Themen und Debatten auch im Sinne universitärer Modernisierung für Spanien begann, hatte sich zu einer Zeitschrift konservativer, demokratieskeptischer Intellektueller und selbsternannter Bewahrer einer Spielart vom „heimlichen Europa“ entwickelt. Nach Lemke Duques Arbeit muss die Frage, inwieweit die RdO in ihrer ersten Phase die wissenschaftliche Öffnung, die „Europäisierung“ Spaniens und die politische Modernisierung in Madrid tatsächlich beförderte, neu gestellt werden. Die vom Verlag sorgfältig edierte Monographie über die Entstehung der Revista, die (mit zeitgeschichtlich bedingten Unterbrechungen) bis heute zu den Impulsgebern des spanischen Geisteslebens zählt, kann insofern Referenzcharakter beanspruchen. Sie gilt der symptomatischen Geschichte von Aufstieg und Gefährdung eines Medien- und Modernisierungsprojektes eines führenden Schriftstellers im Europa zwischen den Kriegen.

Anmerkungen:
1 Frank Bösch, Mediengeschichte. Vom asiatischen Buchdruck zum Fernsehen, Frankfurt am Main 2011.
2 Sie sollten eher nachdenklich machen, was den tatsächlichen Erkenntniswert von aufgesetzt wirkenden betriebswissenschaftlichen Kategorien und Methoden für die Geschichtswissenschaften anbelangt.

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23.04.2015
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