R. Healy u.a. (Hrsg.): Shadows of Colonialism

Title
The Shadow of Colonialism on Europe's Modern Past.


Editor(s)
Healy, Róisín; Enrico Dal Lago
Series
Cambridge Imperial and Post-Colonial Studies
Published
Extent
272 S.
Price
€ 88,21
Reviewed for Connections. A Journal for Historians and Area Specialists by
Gerhard Altmann, Korb

Den historisch Versierten unter ihren Kritikern erscheint die Europäische Union wie ein Wiedergänger früherer Imperien. Als „dezentrales, territorial differenziertes, von Eliten dominiertes transnationales Verhandlungssystem“1 oder „hegemoniales Herrschaftsgebilde mit imperialen Zügen eigener und vor allem neuer Art“2 suche das europäische Integrationsprojekt noch nach einem stabilen Gehäuse, in dem es seine Grundprinzipien der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts gegen die Fliehkräfte nationaler Interessen zu hüten versucht. Dass der imperial turn in den letzten beiden Jahrzehnten den Blick der Überseegeschichte zurück auf die europäischen Gesellschaften gelenkt hat, mag dem Zufall geschuldet sein. Dennoch spiegelt sich in jener Wendung das Unbehagen an den modernisierungstheoretischen Verheißungen wider, die lange auch zur harmonischen Begleitmusik der europäischen Integration gehörten. Wenn nun in dem von Róisín Healy und Enrico Dal Lago edierten Sammelband die Rückwirkungen des Kolonialismus auf Europa einer eingehenden Analyse unterzogen werden, kommen nicht nur Kontinuitätslinien „from Windhuk to Auschwitz“ (S. 6) aufs Tapet. Vielmehr präsentieren die Autorinnen und Autoren in ihren teils enzyklopädisch verknappten Beiträgen Indizien und Argumente für eine nicht-teleologische Betrachtung europäischer Herrschafts- und Verwaltungspraktiken in Frontier-Regionen des Alten Kontinents selbst.

Dal Lago zeigt am Beispiel des Mezzogiorno anschaulich, wie das Konzept des Kolonialismus für innereuropäische Analysen fruchtbar gemacht werden kann. Die italienische Einigungsbewegung des 19. Jahrhunderts identifizierte unter dem negativ konnotierten Rubrum Meridionalismo den Süden des Landes als Achillesferse des zu gründenden Nationalstaats. Nach dem Scheitern der 48er-Revolution im Königreich beider Sizilien bildete sich die wirkungsmächtige „black legend“ (S. 63) des rückständigen Südens, der das Risorgimento zu beeinträchtigen drohte. Das Massaker, das piemontesische Truppen 1861 an Bewohnern von Pontelandolfo verübten, und die Verhängung des Kriegsrechts in südlichen Landesteilen sprachen Bände über eine Haltung, die später auch diskursiv Einzug hielt in die liberale wie die marxistische Historiographie. Erst seit gut drei Jahrzehnten rückt eine revisionistische Geschichtsschreibung dieser Form des materiellen wie kulturellen Kolonialismus erfolgreich zu Leibe.

Die instruktiven Beiträge Nils Langers und Detmar Kleins streichen die Bedeutung der Sprache im Prozess nationalstaatlicher Uniformierung heraus. Langer untersucht die Sprachenpolitik Dänemarks und Preußens in Schleswig und Holstein. Seit den 1840er-Jahren verschärfte sich der nationalistische Druck auf das Land zwischen den Meeren, während sich umgekehrt die jeweiligen Sprachgemeinschaften nach größerer Nähe zu ihrer sprachlichen Heimat sehnten. So wie Dänemark ab 1850 zum eigenen Schaden die sprachliche Vereinheitlichung forcierte, verdrängte die preußische Administration nach 1867 dänische Einsprengsel zusehends aus den Schulen. Dennoch will Langer hier nicht von kolonialistischen Praktiken sprechen. Anders sieht Klein die Entwicklung in Elsass-Lothringen. In den 47 Jahren der Zugehörigkeit zum kaiserlichen Deutschland wurden die Bewohner des Reichslands nie den Eindruck los, lediglich eine „Prussian war trophy“ (S. 98) und mithin das Objekt permanenter Bevormundung zu sein. Auch wenn die westrheinischen Territorien in ökonomischer Hinsicht durchaus vom deutschen Binnenmarkt profitierten, hinterließ die ruppige preußisch-deutsche Verwaltungspraxis bis 1918 einen schalen Beigeschmack. Die Sprachpolitik, die beispielsweise – anders als im Rest des Reiches – den Taufnamen Louis in Ludwig zwangsgermanisierte, strotzte vor „arbitrariness, pettiness and ridiculousness“ (S. 103). Es nimmt daher nicht wunder, dass im Elsass die Reichsdeutschen meist isoliert neben den Alteingesessenen herlebten, was durchaus an die Situation in überseeischen Kolonien erinnerte.

Besonders eindringlich beschreiben Healy, Christoph Mick und Paul McNamara in ihren Beiträgen den innereuropäischen Kolonialismus in den „Bloodlands“ (Timothy Snyder) zwischen Polen und Russland. Healy widmet sich dem Schicksal Polens nach den drei Teilungen im 18. Jahrhundert, welche die Bewohner der betroffenen Territorien auf den Status kolonialisierter Untertanen herabgestuft hätten. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts erhöhten die preußischen Behörden dann den Germanisierungsdruck merklich, und bis in die Literatur hinein lasse sich eine Art „colour line“ (S. 117) zwischen Kolonisierern und Kolonisierten verfolgen. Dass polnische Arbeiter seit den 1890er-Jahren nur noch saisonal in Deutschland tätig werden durften, sei mit Praktiken in der Kapkolonie vergleichbar. Mick richtet sein Augenmerk auf den Umgang der Polen mit den Ukrainern nach 1919. Alle Versuche, über eine verstärkte Siedlungstätigkeit in den östlichen Grenzgebieten eine mission civilisatrice zu grundieren und die vermeintlich durch Berlin und Wien irregeführten Ukrainer zu assimilieren, schlugen fehl: Östlich der Curzon-Linie etablierte sich ein staatliches Gefüge mit kolonialem Charakter. McNamara zeichnet schließlich die Westverschiebung Polens und deren folgenschweren Auswirkungen auf die ethnische Zusammensetzung der kriegsverheerten Territorien nach. Was an anderer Stelle als „protean nature of colonialism“ (S. 161) charakterisiert wird, entpuppte sich unter kommunistischer Ägide als ein bisweilen bizarr anmutender Versuch, dem Nachkriegschaos eine spätkoloniale Struktur einzuziehen. Während die sowjetische Besatzungsmacht ihre Expansion nach Westen als Ausdruck polnischer Selbstbestimmung zu kaschieren trachtete, gingen die polnischen Behörden daran, die ehemaligen deutschen Gebiete zu polonisieren. Dabei fürchteten die Polen einen sowjetischen Ausverkauf auf Kosten der gerade erst den Polen zugewiesenen Territorien fast ebenso sehr wie eine gewaltsame Rückeroberung durch deutsch-amerikanische Formationen. Wie schwer es indes sein konnte, Siedler für die von Deutschen zu säubernden Gebiete zu finden, zeigte sich in Ostpreußen: Der polnische Gouverneur von Allenstein deklarierte Ende 1945 „at the stroke of a pen“ (S. 217) die Bewohner Masurens zu Polen, um das Gebiet nicht entvölkern zu müssen. Der Roten Armee ihrerseits fehlte – wie manchen Kolonisierern in Übersee auch – jegliches Fingerspitzengefühl für die „fledgling pioneer society“ (S. 223) und deren interne Verwerfungen. Erst mit dem Abbau sowjetischer Präsenz in den neuen Territorien, den McNamara als Dekolonisation apostrophiert, kehrte eine gewisse Ruhe und Stabilität ein.

Die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen – politischen, sozioökonomischen, ethnischen und kulturellen – Formen des innereuropäischen Kolonialismus ist eine logische Fortschreibung der florierenden Forschung zur Geschichte des europäischen Imperialismus in Übersee. Die Beiträge liefern zwar nur verstreut Hinweise auf eine direkte Beeinflussung der innereuropäischen Herrschaftspraxis durch Vorbilder aus den Kolonien. Und auch die These from Winduk to Auschwitz hat bald nach ihrer Formulierung Federn lassen müssen. Dennoch lohnt es sich, gerade mit Blick auf aktuelle Debatten über die Finalität der europäischen Integration das Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie aus einem anderen Blickwinkel zu beleuchten. Die Aufsätze des vorliegenden Sammelbands bieten dafür einen geeigneten Ausgangspunkt, obgleich einigen Beiträgen die konzeptionelle Engführung auf den kolonialen Kontext schwerfällt. Der imperial turn jedenfalls hat die transnationale Geschichtsschreibung um ertragreiche Arbeitsfelder erweitert.

Anmerkungen
1 Ulrich Beck / Edgar Grande, Das kosmopolitische Europa. Gesellschaft und Politik in der Zweiten Moderne, Frankfurt am Main 2007, S. 85.
2 Michael Gehler, Die Europäische Union – Ein Imperium?, CGS-Discussion Paper 2, November 2010, S. 3, <http://www.cgs-bonn.de/pdf/DP-2.pdf> (24.04.2015).

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26.06.2015
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