J. Große u.a. (Hrsg.): Kampagnen gegen Alkohol, Drogen und Prostitution

Cover
Title
Biopolitik und Sittlichkeitsreform. Kampagnen gegen Alkohol, Drogen und Prostitution 1880–1950


Editor(s)
Große, Judith; Spöring, Francesco; Tschurenev, Jana
Series
Globalgeschichte 18
Published
Frankfurt am Main 2014: Campus Verlag
Extent
384 S.
Price
€ 45,00
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Andrea De Vincenti, Pädagogische Hochschule Zürich

Vor dem Hintergrund verschiedener Dekadenznarrative und verbreiteter Ängste vor Zerrüttung, Untergang, mangelndem Sinn für Sittlichkeit und Recht, vor Selbstsucht, Kraft- und Mutlosigkeit oder Willensschwäche1 entfalteten sich um 1900 an unterschiedlichen gesellschaftlichen Orten wissenschaftlich grundierte Reformdiskurse, die auf perfektionierte Gemeinschaften zielten und dabei etwa den Konsum von Alkohol oder Opiaten genauso kritisierten wie normabweichende sexuelle Praktiken, Prostitution oder Armut und Kriminalität. Ein solcher, sowohl den Konsum von bewusstseinserweiternden Substanzen, als auch angeblich deviante Sexualpraktiken und Prostitution einschließender „anti-vice-activism“ (S. 8) ist – in einer globalen Perspektive – Gegenstand des hier zu rezensierenden Sammelbandes. Die Auswahl des untersuchten Zeitraumes ist von der Annahme geleitet, Sittlichkeitsbewegungen habe es bereits im 18. Jahrhundert gegeben, doch erst im späten 19. Jahrhundert hätten sich diese zu einem „Phänomen globaler Reichweite“ entwickelt (S. 8) und Züge der „Verwissenschaftlichung“, „Medikalisierung“ und „Biologisierung“ angenommen (S. 19). Untersucht werden „Schnittmengen“ und „Gemeinsamkeiten“ der Kampagnen gegen die „Unsittlichkeit“ (S. 8).

Der Band will zeigen, dass sich „Tendenzen einer globalen Durchsetzung des modernen biopolitischen Ansatzes in der Regulierung des Sozialen“ ausmachen lassen (S. 9). Dazu werden die meist ansprechend und kenntnisreich geschriebenen Einzelbeiträge zu vier Buchteilen gruppiert, wobei die Zuordnung der einzelnen Aufsätze gerade zwischen dem zweiten und dritten Teil nicht zwingend erscheint. Dies mag daran liegen, dass der Band gleichzeitig mehrere, auf unterschiedlichen theoretischen Ebenen liegende Achsen der Erkenntnis verfolgt, die sich in den einzelnen Buchteilen abbilden. Diese Achsen werden zudem in der Einleitung mit je einem Unterkapitel eingeführt – zumindest suggerieren dies die ähnlichen Titel der Unterkapitel und der Buchteile. Zwischen der eher thematisch gelagerten Achse „Psychiatrie, Sozialhygiene und die ‚wissenschaftliche Kodierung‘ des Moralischen“ (Buchteil) / „Sittlichkeitsreform, Sozialhygiene und Biopolitik“ (Kapitel in der Einleitung), und der eher forschungspraktisch motivierten „Regulierungen und Effekte“ (Buchteil) / „Regulierungsversuche zwischen internationalen Ansprüchen und lokalen Realitäten“ (Kapitel in der Einleitung) steht die Achse „Transnationale Diskurse und nationale Mobilisierungsprozesse“ (Buchteil) / „Globale Sittlichkeitsreform zwischen Universalismus und exklusiver Vergemeinschaftung“ (Kapitel in der Einleitung). Vorangestellt ist die Achse „Protestantische Mission und der frühe transnationale Sittlichkeitsaktivismus“ (Buchteil) / “Do Everything! Globales Engagement gegen das ‚Laster‘“ (Kapitel in der Einleitung). Dass die Buchteile und Kapitel in der Einleitung ähnliche, aber nicht identische Titel tragen und nicht weiter erläutert werden, erschwert die Annäherung an den Band mit seinem ambitionierten und relevanten Forschungsvorhaben zunächst genauso wie die vielen kleinen sprachlichen Unstimmigkeiten. Die Einzelbeiträge bedienen oft mehrere Erkenntnisachsen zugleich, was auch die Möglichkeit einer Diskussion der Verhältnisse dieser Achsen beinhaltet hätte. So beleuchten etwa die im Teil II zu Sozialhygiene und Verwissenschaftlichung eingeordneten Beiträge von Martin Lengwiler und Francesco Spöring über die Abstinenzbewegungen neben den sprachregionalen oder nationalen Besonderheiten und Akzentuierungen beide auch Aspekte einer im Teil III angesiedelten transnationalen Wissensrezeption und -zirkulation. Lengwiler zeigt, dass der Antialkoholdiskurs in Deutschland und Frankreich stärker von der Psychiatrie beeinflusst war als etwa derjenige in den USA oder in Skandinavien. Spöring sieht im Unterschied zum angelsächsischen im deutschen Sprachraum ein stärker akzentuiertes sozialhygienisches Denken und eine biopolitische Argumentation bei expliziter Ablehnung religiöser Dogmen. An diese Befunde könnte – die Erkenntnisachsen des Bandes kombinierend – die Frage angeschlossen werden, in welchem Verhältnis „Universalismus“ und „exklusive Vergemeinschaftung“ respektive das Nationale (S. 25) oder „internationale Ansprüche“ und „lokale Realitäten“ in diesen Beispielen der Sittlichkeitsreform stehen.

Solche Ambivalenzen zwischen den einleitend vorgeschlagenen Interpretamenten und den eigenen Quellenbefunden aufgreifend stellt Annika Hoffmann in ihrem Beitrag dar, wie der Konsum psychoaktiver Substanzen zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Deutschland „von einem kaum beachteten Phänomen zu einem sozialen Problem“ umgedeutet wurde (S. 145). Ihre Untersuchung der Rollen von Akteurskollektiven aus unterschiedlichen Feldern (Wissenschaft, Tagespresse, Staat) zeigt, dass etwa die Mediziner zwar als wissenschaftlich qualifizierte Experten auftraten, den außermedizinischen Konsum von Opiaten und Kokain allerdings auch nach 1900 in der moralischen Kategorie des Lasters und gerade nicht der Krankheit problematisierten. Einer vorschnellen Etikettierung des beschriebenen Wandels mit Begriffen wie „Medikalisierung“ und „Verwissenschaftlichung“ oder auch einer eindeutigen Zuordnung zum theoretischen Konzept der Biopolitik entzieht sich Hoffmann so. Vielmehr arbeitet sie heraus, wie sich die neue Wahrnehmung von Opium- und Kokakonsum etablierte und verweist dabei auf ein intensives gegenseitiges Zitieren und statistisches Argumentieren der kollektiven Akteure zu Legitimationszwecken, welches die neue Wahrnehmung des „Drogenkonsum[s] als soziales Problem“ teilweise ungewollt verfestigte (S. 149f.). Auch Judith Grosse betont in ihrem Beitrag über den Kampf gegen die Prostitution das vielschichtige, komplexe Verhältnis von zivilgesellschaftlichem Abolitionsdiskurs und sozialhygienisch-medizinischen Expertendiskursen und widersetzt sich damit explizit einer „schematischen Gegenüberstellung von zivilgesellschaftlicher Öffentlichkeit und medizinischer Wissenschaft“ (S. 209). Björn Felder arbeitet in seinem Beitrag zur Temperenzbewegung im späten Zarenreich und im Kontext der baltischen Nationalbewegungen zugleich biologistisch-eugenische und nationalistische Argumentationsstränge heraus, die er mit sozialreformerischen lokalen Wissensbeständen kontrastiert. Deutschbaltische Feudalherren wurden über ihr Alkoholmonopol und ihr Recht zum Ausschank von Alkohol zudem als Unterdrücker der Landbevölkerung gebrandmarkt und für die vermeintliche „Degeneration“ der Nation verantwortlich gemacht (S. 228). Solche selektive Rezeptionen und regionale sowie auch politisch motivierte Adaptionen von transnationalen Diskursen thematisieren weitere Beiträge.

Thomas Fischer arbeitet in seinem Beitrag zu den Auswirkungen des Koka(in)-Prohibitionsdiskurses in den Anden vielfache Ambivalenzen heraus. So etwa den identitätsstiftenden Konsum der Kokakauer oder die Paradoxie, dass die Eliten zur Exklusion der von ihnen pauschalisierend mit den Kokakauern gleichgesetzten Unterschichten den Prohibitionsdiskurs zwar teilweise rezipierten, gleichzeitig aber den effizienzsteigernden Kokakonsum bei Arbeitern oder die lukrative industrielle Produktion von Rohkokain keineswegs in Frage stellten. Ähnlich pauschale Zuschreibungen arbeitet Manju Ludwig heraus und zeigt, dass indischen Herrschern die Befähigung zur Herrschaft mit dem Verweis auf eine pathologisierte angebliche sexuelle Perversität abgesprochen und so die koloniale Herrschaft mit ihrer Zivilisierungsmission befestigt wurde. Ebenso verweist Gernot Klantschnig in seinem Beitrag zur Drogenpolitik in Nigeria auf den engen Zusammenhang von Wahrnehmungen und Regulierungen der Drogen und den sozio-politischen Transformationen des Staates und Robert Kramm-Masaoka zeigt, wie rassistisch-orientalisierende Japanbilder des US-Besatzungspersonals und die Angst, Sicherheit und Gesundheit zu verlieren, zu einem aufwändigen Sexualerziehungsprogramm der US-amerikanischen Soldaten in Japan führten, das auf Charaktererziehung und Selbstregulierung setzte und dabei die Werte Härte, Sanftmut und Mut zum Männlichkeitsideal erhob.

Den drei nun vorgestellten Bereichen des Sammelbandes ist ein Beitrag von Ian Tyrrell zur US-amerikanischen Missionsexpansion und zum Aufstieg des amerikanischen Empires vorangestellt, der gleichsam auch den ersten Buchteil konstituiert. Dies dürfte darin begründet sein, dass Grosse, Spöring und Tschurenev die darin beschriebenen evangelikalen Netzwerke als „transnationale […] Infrastruktur“ deuten, auf welche die US-amerikanischen Sittlichkeitsbewegungen zurückgreifen konnten (S. 31). Generell stellen die meist differenzierten Beiträge das vielschichtige Ineinandergreifen von Diskursen, das lokale und regionale Adaptieren und politisch-selektive Rezipieren des zirkulierenden Wissens dar und weichen so die großen Interpretamente Biopolitik, Sozialhygiene, Verwissenschaftlichung, Medikalisierung und Transnationalisierung an vielen Stellen auf, ohne sie jedoch ganz zu verwerfen. Gerade diese herausgearbeiteten Vielschichtigkeiten und Ambivalenzen hätten Stoff für einen Schlussteil geboten, der Erkenntnisse aus den Einzelbeiträgen zur Prüfung der Tragfähigkeit der vorangestellten theoretischen Konzepte hätte heranziehen und so anregende Fragen und Forschungsdesiderate an die scientific community zurückspielen können. Der Band versammelt aber viele sehr lesenswerte Beiträge und gibt in der Summe vielfältige Anregungen zur weiteren Beschäftigung mit dem schönen Thema der Sittlichkeitsreform.

Anmerkung:
1 Brigitta Bernet, Schizophrenie. Entstehung und Entwicklung eines psychiatrischen Krankheitsbilds um 1900, Zürich 2013; Caroline Pross, Dekadenz. Studien zu einer großen Erzählung der frühen Moderne, Göttingen 2013.

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Published on
07.07.2015
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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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