R. Cvetkovski u.a. (Hrsg.): An Empire of Others

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Title
An Empire of Others. Creating Ethnographic Knowledge in Imperial Russia and the USSR


Editor(s)
Cvetkovski, Roland; Hofmeister, Alexis
Extent
407 S.
Price
€ 71,76
Reviewed for Connections. A Journal for Historians and Area Specialists by
Laura Elias, Universität Basel

Die Faszination europäischer Wissenschaftler am kulturell Anderen führte im Verlauf des 19. Jahrhunderts auch im russländischen Vielvölkerimperium zur Formierung einer neuen akademischen Disziplin: der Ethnographie. Der von Roland Cvetkovski und Alexis Hofmeister herausgegebene Sammelband reiht sich in aktuelle Forschungen zur Imperien- und Wissensgeschichte ein und verfolgt mit seinen zwölf Beiträgen das Ziel, die Herstellung und Zirkulation ethnographischen Wissens im Zarenreich und der Sowjetunion zu untersuchen sowie die daran beteiligten Wissensakteure zu identifizieren. Die konzeptionelle Gestaltung des Bandes basiert laut Cvetkovski auf vier Grundannahmen: Erstens sei Wissen veränderbar und an historische Kontexte gebunden, zweitens abhängig von Verbreitung und Akzeptanz, drittens konstruiert und viertens geprägt von der Pluralität verschiedener miteinander konkurrierender Wissenskulturen (S. 7f.).

Im ersten Abschnitt mit dem Titel „Paradigms“ wird deutlich, dass die russische Ethnographie alles andere als eine homogene Disziplin mit klar definiertem Forschungsprogramm war. Alexei Elfimov zeigt anschaulich, wie die russischen Ethnographen in Auseinandersetzung mit westeuropäischen Paradigmen und Konzepten versuchten, einen eigenen Weg einzuschlagen, der von konzeptuellen Kontroversen und akademischen Richtungskämpfen geprägt war. Interessant erscheint Elfimovs Feststellung, dass der Unterschied zwischen „Naturvölkern“ und „Kulturvölkern“ in Russland als Kluft zwischen Bauern und Eliten wahrgenommen worden sei. Daraus ergibt sich für Elfimov folgender Schluss: Die rassisch hierarchisierenden Konzepte der französischen und britischen Sozialanthropologie hätten im russischen Kontext deshalb so schwer Fuß fassen können, weil nach deren Kriterien Eliten und Bauern auf einer Stufe anzusiedeln waren.

Im Gegensatz zu Elfimov wendet sich Marina Mogilner ausdrücklich und überzeugend gegen die unter Historikern lange Zeit vorherrschende Annahme, dass die russische Ethnographie mit ihrer starken Fokussierung auf das Konzept der narodnost’ immun gegenüber westeuropäischen Rassetheorien gewesen sei. Darüber hinaus weist sie nach, wie eng die russische Ethnographie und physische Anthropologie – aller ideologischen und epistemischen Grabenkämpfe zum Trotz – personell und institutionell miteinander verwoben waren.

Auch für die frühe Sowjetzeit gilt: Die Ethnographie war eine Wissenschaft im Entstehen, deren Wissensinhalte und -praktiken noch lange nicht kanonisiert und abschließend ausgehandelt waren, wie Sergey Abashin verdeutlicht. In seinem Beitrag beschreibt er die Geschichte der sowjetischen Ethnographie als einen Prozess der fortwährenden institutionellen und diskursiven Redefinition und lenkt den Blick auf die Aushandlungsprozesse, in denen ethnographisches Wissen hergestellt und mit Evidenz versehen wurde.

Im zweiten Abschnitt „Representations“ richtet sich der Fokus auf die Repräsentationen ethnographischen Wissens. Maike Sach liefert in ihrem sehr gelungenen Aufsatz ein anschauliches Beispiel für Strategien zur Visualisierung ethnographischen Wissens im 18. Jahrhundert. Dabei macht sie die faszinierende Beobachtung, dass in der Textgattung des Reiseberichts in Bezug auf die Darstellung der Völker Sibiriens zwei sehr verschiedene Visualisierungsstrategien vorzufinden sind: einerseits eine Exotisierung des Anderen in der Tradition der europäischen-antiken Malerei und andererseits der Versuch, neue dokumentierende, das heißt wissenschaftliche Bilder anzufertigen, die ihrem Ideal nach „kunstlos“ zu sein hatten (S. 210).

Eine Frage, die sich bei der Lektüre nahezu aller Beiträge aufdrängt, ist jene nach dem Zusammenhang von ethnographischer Forschung und imperialer Herrschaft. Einerseits erscheint die enge Verknüpfung von Wissenschaft und Staat evident. Die Imperiale Russische Geographische Gesellschaft, die der ethnographischen Forschung Mitte des 19. Jahrhunderts ein Programm verschaffte, wurde mit staatlichen Mitteln finanziert und war rechtlich dem Innenministerium untergeordnet. Auch die von Sach und Sergey Glebov beschriebenen Sibirienexpeditionen des 18. Jahrhunderts wurden im Auftrag des Staates organisiert, der für die Verwaltung und Besteuerung seiner Peripherie auf Wissen über deren Bewohner angewiesen war. Andererseits wurden die Forschungsexpeditionen zwar in staatlichem Auftrag durchgeführt, doch inwiefern die gesammelten Daten imperialen Interessen dienlich sein würden und nutzbar gemacht werden konnten, ist eine andere Frage. Mogilner weist darauf hin, dass paradoxerweise ausgerechnet die Moskauer Anthropologen mit besonders umfangreichen finanziellen Mitteln ausgestattet wurden, obwohl mithilfe ihres Paradigmas vom „gemischten Rassetyp“ die vertikale imperiale Ordnung hätte infrage gestellt werden können.

Die Frage, wie eng sich die Liaison von Ethnographie und imperialer Herrschaft tatsächlich gestaltete und inwiefern ethnographisches Wissen politische Entscheidungen zu beeinflussen vermochte, bleibt bis hierhin weitgehend offen.

Im letzten Abschnitt mit dem Titel „Peoples“ analysieren die Autoren die Herstellung ethnographischen Wissens an konkreten lokalen Fallbeispielen. Hier gewinnt der Zusammenhang von Ethnographie und imperialer Herrschaft zum Teil deutlichere Konturen. Ein besonders interessantes Beispiel für die Zusammenarbeit von Ethnographen mit imperialen Funktionsträgern liefert Christian Dettmering. In seinem Beitrag analysiert er die russische Politik gegenüber den Tschetschenen und Inguschen während der Kaukasuskriege in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Von Anfang an habe die russische Militärführung Ethnographen mit der Erforschung ihrer Kontrahenten beauftragt. Sie sollten beispielsweise das lokale Gewohnheitsrecht erforschen, das die russischen Eroberer fördern wollten, um es der zunehmend an Einfluss gewinnenden Scharia entgegenzusetzen. Darüber hinaus seien Linguisten mit der Aufgabe betraut worden, für das Tschetschenische eine Schriftsprache in kyrillischen Buchstaben zu entwickeln. Die Weitergabe ethnographischen Wissens an die Militärführung hatte mitunter dramatische Auswirkungen auf deren Vorgehensweise gegenüber dem Gegner. Die – vermutlich fälschliche – Annahme der Ethnographen, dass vor allem die ausgeprägten Clanstrukturen für den starken Widerstand der Tschetschenen verantwortlich wären, habe, so Dettmering, zu Deportationen und dem gewaltsamen Auseinanderreißen ganzer Familienverbände geführt.

Einen faszinierenden Fall der politischen Instrumentalisierung ethnographischen Wissens durch Angehörige einer ethnischen Minorität schildert Mikhail Kizilov. Im Jahr 1839 seien die Karaiten vom Generalgouverneur von Novorossija aufgefordert worden, die Geschichte ihres Volkes zu erforschen. Die Karaiten waren eine unabhängige religiöse Bewegung innerhalb des Judentums, die sich stark vom rabbinischen Judentum unterschied und im Zarenreich gegenüber den rabbinischen Juden zahlreiche Privilegien hatte durchsetzen können. Diese Privilegien habe der karaitische Expeditionsleiter in Gefahr gesehen, der sich 1839 zur Erforschung der karaitischen Geschichte auf die Krim begab. Um die jahrhundertealte Geschichte seines Volkes nachzuweisen und damit das Recht auf Privilegien zu begründen, scheute der Schriftsteller nicht davor zurück, Quellen und sogar Grabinschriften zu fälschen. Während die Fachwelt sogleich Zweifel an seinen Forschungsergebnissen geäußert habe, schien der imperiale Staat befriedigt: Die Karaiten erhielten schließlich die gleichen Rechte wie orthodoxe Christen.

Mit dem vorliegenden Sammelband ist den beiden Herausgebern ein überaus lesenswerter Einblick in die Geschichte der ethnographischen Wissensproduktion in Russland gelungen. Der wissensgeschichtliche Ansatz liefert neue Einsichten in die Geschichte Russlands als Vielvölkerstaat und lenkt den Blick vor allem auf die Konstruiertheit von Wissen und die Bedeutung der Akteure in Bezug auf die Auswahl ihrer epistemischen Objekte und die Akzeptanz von Forschungshypothesen.

Während sich die Autoren auf die Kategorie des Wissens ausnahmslos einlassen, bleibt das Konzept des Anderen und dessen Bedeutung für den russischen Kontext weitgehend unterbelichtet. Lediglich Catriona Kelly spricht an, dass das russländische Imperium nicht nur eine äußere Peripherie besaß. Kulturell fremd waren den europäisierten Eliten nämlich nicht nur die indigenen Völker der imperialen Randgebiete, sondern auch die russischen Bauern – Russlands innere Peripherie. Aufgrund der großen Bedeutung der Volkskunde innerhalb der russischen ethnographischen Forschung wäre es wünschenswert gewesen, wenn sich einzelne Beiträge auch diesem Aspekt der ethnographischen Wissensproduktion gewidmet hätten. Problematisch erscheint auch, dass in einigen Beiträgen entscheidende Begriffe wie „imperial“, „imperial center“ (S. 37f.), „representation“ und „presentation“ (S. 216) oder „imperial objects“ (S. 241) nicht näher bestimmt werden und somit schwammig bleiben. Als besondere Herausforderung für den Sammelband erwies sich die Frage, wie Wissen zwischen unterschiedlichen Akteuren zirkulierte, vor allem zwischen Staat und Experten, und wie das Wissen nutzbar gemacht wurde. Die Autoren kommen hier zu durchaus unterschiedlichen Bewertungen. Während Cvetkovski behauptet, die ethnographischen Forschungen der ins sibirische Exil verbannten Regimekritiker hätten den imperialen Staat gestärkt (S. 222), betont Glebov in diesem Zusammenhang die große Distanz zwischen Wissensakteuren und politischem Machtzentrum (S. 310). Dass die Autoren zu derart unterschiedlichen Einschätzungen gelangen, ist angesichts des Formats des Sammelbandes allerdings kaum überraschend. Die bestehenden Uneindeutigkeiten und offenen Fragen erscheinen daher als Anreiz und Inspiration zu weiteren Arbeiten in diesem überaus spannungsvollen, aber noch wenig untersuchten Forschungsfeld.

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16.09.2015
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