Review-Symposium Piketty „Das Kapital im 21. Jahrhundert“

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Title
Das Kapital im 21. Jahrhundert.


Author(s)
Piketty, Thomas
Published
München 2014: C.H. Beck Verlag
Extent
816 S.
Price
€ 29,95
Reviewed for Connections. A Journal for Historians and Area Specialists by
Jochen Streb, Abteilung Volkswirtschaftslehre, Lehrstuhl für Wirtschaftsgeschichte, Universität Mannheim

Knapp ein Jahr nach Erscheinen der englischen Übersetzung der bereits im August 2013 publizierten französischen Originalausgabe „Le capital au XXIe siécle“ erscheint es mir angesichts der Flut von bereits veröffentlichten Besprechungen und Stellungnahmen wenig sinnvoll, in einer Rezension anlässlich der verspäteten deutschen Ausgabe das Rad ganz neu erfinden zu wollen. Stattdessen möchte ich mich mit den Kernaussagen Pikettys eher indirekt auseinandersetzen, indem ich in einer Art Metaanalyse untersuche, wie die internationalen Fachvertreter der Volkswirtschaftslehre auf die in inhaltlicher und formaler Hinsicht durchaus ungewöhnliche Publikation ihres Fachkollegen reagierten.

Üblicherweise wird der große kommerzielle Erfolg von Thomas Pikettys Werk darauf zurückgeführt, dass es mit der gesellschaftlichen Ungleichheit von Einkommen und Vermögen ein Thema aufgreift, das spätestens seit dem Entstehen der Occupy Wall Street Bewegung wieder im Fokus des öffentlichen Interesses steht, vom Mainstream der Volkswirtschaftslehre aber trotzdem weiterhin vernachlässigt wurde. Unter den Ökonomen selbst sorgt das Buch von Thomas Piketty allerdings nicht nur aus inhaltlichen Gründen für Aufsehen. Die umfangreiche Monographie erregt auch deshalb Verwunderung, weil sie völlig konträr zur derzeit gängigen Veröffentlichungskultur der Fachdisziplin steht. Heute tut ein um Reputation und Karriere bemühter Ökonom nämlich eigentlich gut daran, auf die langwierige Erstellung eines ausführlichen Buches ganz zu verzichten und all seine Energie und Kreativität stattdessen dafür einzusetzen, prägnante Forschungsaufsätze in möglichst hochrangigen internationalen Fachzeitschriften zu platzieren. Dieser Trend weg vom Buch beginnt immer öfter bereits mit der sogenannten „kumulierten“ Promotion, die keine intensive Auseinandersetzung mit einer einzigen Fragestellung mehr verlangt, sondern sich aus drei bis vier voneinander unabhängigen Fachartikeln zusammensetzen kann.

Mit der wachsenden Dominanz dieser Publikationskultur einhergehend entwickelten Referees, die vor Annahme und Veröffentlichung der Fachartikel herangezogen werden, ein ziemlich standardisiertes Begutachtungsschema für wirtschaftswissenschaftliche Forschungsleistungen. Ein allen methodischen Ansprüchen genügender Fachartikel hat diesem zufolge eine fast schon klassische Dreiteilung aufzuweisen: Der erste Abschnitt entwickelt theoretische Hypothesen auf Grundlage eines adäquaten wirtschaftswissenschaftlichen Modells, der zweite Abschnitt erläutert die Quellen, die Erhebungsmethoden und die Eigenschaften der verwendeten Daten, und im dritten Abschnitt werden die theoretischen Hypothesen mit Hilfe der empirischen Daten durch statistische Verfahren getestet, gegebenenfalls falsifiziert oder vorläufig akzeptiert. Es verwundert daher nicht, dass die Rezensenten aus der Volkswirtschaftslehre auch „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ einer entsprechend strengen Prüfung unterzogen und Theorie, Datengrundlage und statistische Analyse kritisierten.

Ausgangspunkt von Pikettys Argumentationskette ist die Beobachtung, dass in „normalen“ Zeiten die reale Kapitalrendite (vor Steuern) größer ist als die Wachstumsrate des Volkseinkommens, es gilt die nunmehr berühmte Formel r>g. Hieraus folgt in Pikettys Denkmodell zunächst, dass (ererbte) Vermögen und die daraus jeweils generierten Erträge zwangsläufig schneller wachsen als die Einkommen der Arbeiter und Angestellten. Da die Vermögen ungleich über die Bevölkerung verteilt beziehungsweise in den Händen des oberen Zehntels konzentriert sind, führt r>g zudem im Zeitverlauf zu immer größerer ökonomischer Ungleichheit. Dieser langfristige Trend wurde nur durch die Verwerfungen der beiden Weltkriege und die damit einhergehende rigide Steuerpolitik unterbrochen. Seit den 1970er-Jahren befinden sich die hochentwickelten Volkswirtschaften aber wieder auf einem Pfad weg von einer meritokratischen Leistungsgesellschaft und hin zu einem neo-patrimonialen Kapitalismus, in dem wie noch im 19. Jahrhundert wenige Familiendynastien Wirtschaft und Politik beherrschen.

Aus theoretischer Perspektive teilen die meisten Ökonomen, wie etwa Paul Krugmann1 in seiner frühen, wohlwollenden und einflussreichen Besprechung der englischen Ausgabe, Pikettys Einschätzung, dass „meistens“ die Kapitalrendite höher als das Wirtschaftswachstum ist. Allerdings weisen sie auch darauf hin, dass r>g nicht etwa ganz automatisch, sondern nur dann zu einem überproportionalen Wachstum der Vermögen führt, wenn die Vermögenden den Großteil ihrer Kapitaleinkünfte reinvestieren und nicht etwa für Luxuskonsum, wohltätige Zwecke oder eben Steuerzahlungen aufwenden. Ob also r>g im konkreten Fall tatsächlich zu mehr Ungleichheit führt, hängt ab von den jeweils vorzufindenden Präferenzen und Institutionen und ist somit im Kern eine empirische Frage. Wir kommen hierauf zurück.

Der erste wirklich ernsthafte Angriff auf Pikettys Werk betraf die Qualität der von ihm verwendeten Daten und wurde im Mai 2014 von Chris Giles2, einem Herausgeber der Financial Times, geführt. Da Piketty die seinem Buch zugrundeliegenden Tabellenkalkulationen auf vorbildliche Weise der Öffentlichkeit online verfügbar gemacht hat3, eröffnete sich Giles die Möglichkeit, Pikettys historische Zeitreihen im Detail zu überprüfen. Giles fand Übertragungsfehler, unerklärte Manipulationen der Rohdaten und weitreichende Interpolationen vor. Beispielsweise gibt es für den Zeitraum 1910 bis 1950 keine statistischen Informationen darüber, welchen Anteil am Vermögen das obere Zehntel der amerikanischen Bevölkerung besaß. Piketty füllte diese Lücke, in dem er zu den vorhandenen Werten des obersten Perzentils jeweils pauschal 36 Prozentpunkte addierte. Giles' wichtigster Kritikpunkt ist die Feststellung, dass bei Verwendung anderer, ebenfalls verfügbarer Zeitreihen der Wiederanstieg der ökonomischen Ungleichheit seit den 1970er-Jahren vor allem in Großbritannien viel schwächer ausfällt als von Piketty behauptet. Vielleicht hat dieser insgesamt zu leichtsinnige Umgang mit historischen Daten auch Methode; immerhin trafen Daron Acemoglu und Koautoren4 sowie Carmen Reinhart und Kenneth Rogoff5 in letzter Zeit ganz ähnliche Vorwürfe. Im Curriculum der Volkswirtschaftslehre spielt die sorgfältige und quellenkritische Verarbeitung von quantitativen Quellen auf alle Fälle keine (große) Rolle.

Auch wenn es Piketty bisher nicht gelungen ist, die Vorwürfe Giles' umfassend zu entkräften, herrscht zurzeit die Einschätzung vor, dass ihm zwar durchaus Schlampigkeit in der Datenverarbeitung vorgeworfen werden kann, keineswegs aber das Rosinen-Picken solcher Statistiken, die seine eigenen Thesen untermauern. Die großen Trends der von Piketty aufgeführten Zeitreihen bleiben daher unbestritten. Zu Pikettys Verteidigung ist auch anzuführen, dass er ja keinen Hehl daraus macht, dass die von ihm verwendeten historischen Statistiken zur Vermögensverteilung lückenhaft und ungenau sind. Ein wichtiges Ziel seines Buches besteht ja gerade darin, politischen Entscheidungsträgern die Notwendigkeit vor Augen zu führen, die Datenerhebung auf diesem Gebiet deutlich zu verbessern. So verspricht sich Piketty von der (vielleicht utopischen) Einführung einer globalen Kapitalsteuer vor allem erstmalig „verlässliche Informationen über Vermögensverteilung und -entwicklung“ (S. 702); ganz zu schweigen davon, dass er selbst wesentlich dazu beigetragen hat, Steuerunterlagen als Quelle für die Erforschung der historischen Vermögensverteilung zu erschließen.

Aus Perspektive der Ökonomen betrifft der zweite wesentliche Kritikpunkt die Qualität der statistischen Analyse im „Kapital im 21. Jahrhundert“. Piketty beschränkt sich auf die deskriptive Darstellung von historischen Zeitreihen, unternimmt aber keinerlei Versuch, den behaupteten positiven Zusammenhang zwischen der Differenz zwischen Kapitalrendite und Wirtschaftswachstum (r-g) und der sozialen Ungleichheit mit Hilfe fortgeschrittener Regressionsanalysen nachzuweisen. Dieser Mangel wird insbesondere von Daron Acemoglu und James A. Robinson in einem aktuellen Arbeitspapier beklagt.6 Sie unternehmen deshalb einen eigenen Versuch. Ihr Ergebnis ist ernüchternd: Auf Basis der jeweiligen Entwicklung in 27 Ländern zwischen 1870 und 2012 findet sich keine statistisch signifikante positive Korrelation zwischen dem Vermögensanteil des obersten Perzentils und dem Ausmaß von r-g. Auch mit diesem Resultat sei nicht ausgeschlossen, so Acemoglu und Robinson, dass die Höhe der Kapitalrendite einen positiven Einfluss auf die Ungleichheit habe, andere länderspezifische Faktoren wie zum Beispiel die Ausgestaltung der politischen und wirtschaftlichen Institutionen hätten aber wahrscheinlich eine weitaus größere Bedeutung als Pikettys „ehernes Gesetz“. In diesem Zusammenhang bezichtigt Karl-Heinz Paqué, Volkswirt und ehemaliger Finanzminister der FDP in Sachsen-Anhalt, Piketty des Historizismus.7 Die reine Fortschreibung eines historischen Trends, wie sie Piketty letztendlich betreibe, führe ihn und seine Leser in die Irre, weil er hierdurch, wie vor ihm schon Malthus oder Marx, die durch technologischen und demographischen Wandel herbeigeführten Anpassungsprozesse sträflich unterschätze. Diese Kritikpunkte sind berechtigt. In einer Zeit, in der sich Ökonomen angestrengt darum bemühen, mittels ausgefeilter statistischer Techniken kausale Beziehungen zwischen zwei empirisch beobachtbaren Größen zu identifizieren, erscheinen Pikettys Interpretationen deskriptiver Statistiken fast schon antiquiert.

Insgesamt fällt auf, dass deutsche Ökonomen ganz besonders hart mit Piketty ins Gericht gehen. Stellvertretend sei hier ausführlich aus Stefan Homburgs Rezension in der Welt zitiert: „Zusammengefasst hat dieses Werk das Zeug zu einem Klassiker, der das Schicksal vieler Klassiker teilen wird, nämlich oft zitiert und wenig gelesen zu werden. Dem Fachmann fällt auf, wie der Autor seine steilen Thesen ständig selbst widerlegt, während der Laie nach einigen Dutzend Seiten die Waffen streckt. Wirtschaftspolitisch wird das Buch wenig Widerhall finden, denn Frankreich hat einige Ideen Pikettys, der Mitglied und Vordenker der sozialistischen Partei ist, bereits umgesetzt. Das Scheitern der Politik extremer Steuern und Staatsausgaben ist nur zu offensichtlich.“8 Es wäre interessant der Frage vertiefend nachzugehen, warum es gerade den deutschen Ökonomen anders als etwa den Amerikanern so schwer fällt, die durchaus vorhandenen Leistungen ihres französischen Kollegen anzuerkennen.

Auch verwundert es, dass gerade die dem Liberalismus verpflichteten Rezensenten die von Piketty aufgezeigte Gefahr nicht wahrnehmen wollen, dass die „Superreichen“ auf Grundlage ihrer riesigen Vermögen dazu in der Lage sein könnten, auch erhebliche politische Macht auszuüben, indem sie beispielsweise die öffentliche Meinung manipulieren und die Mehrheit der Wähler davon überzeugen, dass niedrige Grenzsteuersätze bei der Einkommen- und Erbschaftsteuer oder die Abschaffung der Vermögensteuer auch in ihrem Interesse sind. Und warum provoziert in diesem Zusammenhang die von Piketty aufgeführte Tatsache, dass im Jahr 2012 das Durchschnittsvermögen eines amerikanischen Kongressabgeordneten 15 Millionen Dollar betrug (S. 695, Anm. 1), keine Reaktion der (deutschen) Ökonomen? Ist man tatsächlich schon dann ein Jakobiner, so Paqué über Piketty, wenn man unter solchen Umständen ein Abdriften in die politische Oligarchie für möglich hält?

Ein wesentliches Verdienst Pikettys besteht meiner Meinung nach darin, es mit einer trotz aller Kritik beeindruckenden Monografie für (junge) Ökonomen wieder attraktiv gemacht zu haben, sich mit Fragen der Verteilung von Einkommen und Vermögen zu beschäftigen. Als Langzeitwirkung erhoffe ich mir daher viele neue wissenschaftliche Studien, die einerseits auf dem „Kapital im 21. Jahrhundert“ aufbauen und andererseits dessen Schwächen überwinden.

Anmerkungen:
1 Paul Krugmann, Why we‘re in a New Gilded Age, in: The New York Review of Books, 08.05.2014, <http://www.nybooks.com/articles/archives/2014/may/08/thomas-piketty-new-gilded-age/?insrc=toc> (08.01.2015).
2 Chris Giles, Data problems with Capital in the 21st Century, Financial Times Blogs, 23.05.2014, <http://w3.rcnuwc.no/public/economics/Istvan/Eco1415Share/PikettyFT23052014c.pdf> (08.01.2015).
3 Der technische Anhang einschließlich der Kalkulationstabellen findet sich unter der Webadresse: <http://piketty.pse.ens.fr/en/capital21c2> (08.01.2015).
4 David Y. Albouy, The Colonial Origins of Comparative Development and Investigation of the Settler Mortality Data, NBER Working Paper 14130, 2008.
5 Thomas Herndon / Michael Ash / Robert Pollin, Does High Public Debt Consistently Stifle Economic Growth? A Critique of Reinhart and Rogoff, PERI Working Paper 322, Amherst 2013.
6 Daron Acemoglu / James A. Robinson, The Rise and Decline of General Laws of Capitalism, Working Paper, Dezember 2014, <http://economics.mit.edu/files/10302> (08.01.2015)
7 Karl-Heinz Paqué, Der Historizismus des Jakobiners. Anmerkungen zu dem Buch „Capital in the Twenty-First Century“ von Thomas Piketty, in: Perspektiven der Wirtschaftspolitik 15 (2014), S. 271–287.
8 Stefan Homburg, Die schwachen Argumente des Kapitalismuskritikers, in: Die Welt, 22.05.2014, <http://www.welt.de/wirtschaft/article128312866/Die-schwachen-Argumente-des-Kapitalismuskritikers.html> (09.01.2015). Vgl. auch Hans-Werner Sinn, Thomas Pikettys Weltformel, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.08.2014, <http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/wirtschaftspolitik/hans-werner-sinn-ungleichheit-ist-nicht-so-einfach-wie-thomas-piketty-denkt-12933579.html> (09.01.2015).

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03.03.2015
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