G. Incesu: Ankara – Bonn – Brüssel

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Title
Ankara – Bonn – Brüssel. Die deutsch-türkischen Beziehungen und die Beitrittsbemühungen der Türkei in die Europäische Gemeinschaft 1959–1987


Author(s)
Incesu, Günal
Series
Histoire 47
Extent
316 S.
Price
€ 32,99
Reviewed for Connections. A Journal for Historians and Area Specialists by
Wiebke Hohberger, Historisches Seminar, Universität Hamburg

Durch die etwa drei Millionen in Deutschland lebenden Türkeistämmigen besteht eine besondere Beziehung der beiden Länder zueinander. So ist auch die deutsche Sonderrolle in den türkischen Beitrittsbemühungen zur Europäischen Union heute nicht mehr von der Hand zu weisen. Günal Incesu beleuchtet in seiner an der Universität Bielefeld angenommenen Dissertation das Beziehungsdreieck Bundesrepublik Deutschland – Türkei – Europäische Gemeinschaften in zeitgeschichtlicher Perspektive. Damit schließt er ein relevantes Forschungsdesiderat im Bereich der türkeibezogenen Forschung, denn die historische Verflechtung der deutsch-türkischen Beziehungen mit dem Verhältnis der Türkei zu Europa wurde für die hier behandelte Phase bisher nicht ausreichend analysiert.1

Der Untersuchungszeitraum reicht vom türkischen Antrag auf Assoziierung an die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft 1959 bis zum Antrag auf eine Vollmitgliedschaft in den Europäischen Gemeinschaften 1987 (S. 50). Incesu zufolge prägten vor allem zwei parallel verlaufende Prozesse das Beziehungsgeflecht zwischen der Bundesrepublik Deutschland, der Türkei und den Europäischen Gemeinschaften (EG): einerseits die Einwanderung türkischer Arbeitskräfte im Zuge des Anwerbeabkommens von 1961, andererseits die institutionellen Beziehungen zwischen der Türkei und Europa auf Grundlage des Assoziierungsabkommens mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft von 1963 (S. 11f.). Das zentrale Erkenntnisinteresse des Autors richtet sich auf die Frage, ob und inwieweit sich diese beiden Prozesse gegenseitig beeinflussten (S. 12). Forschungsleitend ist dabei die Hypothese, „dass die deutsch-türkischen Beziehungen und insbesondere die massenmediale Öffentlichkeit beider Länder sowie ihre diplomatischen Beziehungen einen exponierten Stellenwert im Rahmen der türkischen Beitrittsbemühungen in die Europäischen Gemeinschaften einnahmen“ (S. 12).

Incesus Fokus liegt dabei, wie im Verlauf der Arbeit deutlich wird, insbesondere auf der Analyse der printmedialen Berichterstattung. Indem er punktuell auch Archivdokumente des Auswärtigen Amtes hinzuzieht (vergleichbare Dokumente des türkischen Außenministeriums hat er nicht verwendet), stellt er sich allerdings bewusst gegen die Behauptung, die ‚Neue Politikgeschichte’ ignoriere die klassischen politikhistorischen Quellen (S. 46). Die Auswahl der Printmedien begründet sich in erster Linie mit der Abdeckung der nationalen politischen Spektren. Sie umfasst den „Spiegel“ und die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ auf deutscher Seite sowie die Tageszeitungen „Cumhuriyet“, „Milliyet“, „Hürriyet“ und „Tercüman“ (von kemalistisch-säkular bis konservativ-islamisch) auf türkischer Seite (S. 47ff.). Die Einbeziehung der türkischen Berichterstattung ist hier von besonderem Wert und ermöglicht es überhaupt erst, grenzüberschreitende deutsch-türkische Kommunikationsflüsse zu untersuchen.

Noch innerhalb der ausführlichen Einleitung erläutert Incesu zunächst den theoretischen Bezugsrahmen der Medienanalyse und beleuchtet die aktuelle Forschungsdiskussion zu verschiedenen Öffentlichkeitstheorien (S. 17ff.). Hier stellt er die Rolle der Massenmedien als politische Akteure heraus (S. 27) und führt die Termini „Synchronizität“, „Interdiskursivität“ und „diskursive Interaktion“ als Kriterien des Entstehens von transnationaler Öffentlichkeit ein (S. 32). Konkret soll beobachtet werden, inwiefern es zwischen den westdeutschen und türkischen Printmedien zu diskursiven Interaktionen kam: Wann und aus welchen Gründen gab es synchrone Berichterstattungen zu europapolitischen Themen? In diesem Fall geht Incesu von der punktuellen Emergenz einer transnationalen europäischen Öffentlichkeit aus (S. 34f.).

Der historischen Kontextualisierung des ambivalenten Verhältnisses der Türkei zu Europa (Kapitel II) folgt als Kern der Arbeit die empirische Analyse (Kapitel III), die in vier Themenbereiche unterteilt ist: 1) die Rolle des Militärs in der türkischen Republik, 2) die türkische Zuwanderung in die Bundesrepublik, 3) die EG-Türkei-Beziehungen sowie 4) Appelle türkischer Intellektueller an ‚die europäische Öffentlichkeit’. Die Untersuchungsbereiche 2) und 3) sind dabei von zentraler Bedeutung, entsprechen sie doch in besonderem Maße dem Erkenntnisinteresse der Arbeit – der möglichen diskursiven Verflechtung vor dem Hintergrund der Zuwanderungs- und (angestrebten) Beitrittsprozesse.

Im ersten Themenbereich werden insbesondere die massenmedialen Reaktionen auf die Militärputsche von 1960, 1971 und 1980 beleuchtet. Die Auswertung verdeutlicht, dass die türkische Presse die bundesdeutsche Berichterstattung intensiv beobachtete, wobei negative Schlagzeilen über die türkische Andersartigkeit im Vergleich zum imaginativen Europa verschwiegen wurden (S. 126). Anfänge von transnationaler Kommunikation zeichneten sich hier bereits ab. Die Medienanalyse im Untersuchungsfeld der Migration in die Bundesrepublik (als zweites Themenfeld) zeigt schließlich ausdrücklich, dass die deutsch-türkischen Beziehungen das türkische Verhältnis zu den Europäischen Gemeinschaften erheblich beeinflussten. Einschneidende ausländerpolitische Beschlüsse wie der Anwerbestopp von 1973 und die Einführung der Visumspflicht 1980 seitens der Bundesrepublik wurden auf eine gesamteuropäische Ebene gehoben: Sie lösten in der türkischen Presse eine teilweise emotional geführte Grundsatzdebatte über die türkische Positionierung zwischen Ost und West aus. ‚Europa‘ wurde dabei vermehrt als gemeinsames Feindbild geschaffen und die eingeschlagene Westorientierung grundsätzlich in Frage gestellt (S. 159f., S. 171f.). Die Verflechtung der bilateralen Beziehungen mit den Türkei-EG-Beziehungen wird im dritten Untersuchungsbereich noch offensichtlicher. Hier veranschaulicht vor allem die Berichterstattung zur Freizügigkeitsfrage türkischer Arbeitnehmer, wie sehr sich die türkische Einwanderung in die Bundesrepublik mit europapolitischen Themen verschränkte (S. 232). Im vierten Themenbereich kommt dies in neuer Form zum Vorschein: Gegenüber der eigenen Regierung kritische türkische Intellektuelle nutzten westdeutsche Printmedien als Kommunikationsplattform, um an eine fiktive einheitliche europäische Öffentlichkeit zu appellieren (S. 233ff.).

Im Ergebnis kann Incesu die eingangs aufgestellte Hypothese bestätigen und die Relevanz der massenmedialen Kommunikationsprozesse für die exponierte Rolle der Bundesrepublik in den türkischen Beitrittsbemühungen zu den Europäischen Gemeinschaften herausstellen. Besonders gelungen ist dem Autor insgesamt die Verbindung von Empirie und Theorie. Innerhalb der historisch-empirischen Analyse der Printmedien geht Incesu regelmäßig auf die zuvor erläuterten theoretischen Ansätze ein: Er belegt Synchronizitäten und Asymmetrien der westdeutschen und türkischen massenmedialen Öffentlichkeiten, beleuchtet diskursive Interaktionen und unterscheidet deutlich zwischen einem normativen Öffentlichkeitsbegriff als fiktiver Konstruktion und der ‚realen’ Existenz transnationaler Öffentlichkeit. Wiederkehrend kann Incesu die Rolle der Printmedien als Akteure demonstrieren, die politische Entscheidungsprozesse beeinflussten und prägten. Entgegen der anfangs zurückhaltenden Haltung der politischen Entscheidungsträger in der Freizügigkeitsfrage publizierte die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ 1983 etwa einen ausführlichen Kommentar gegen die „türkische Einwanderungswelle“ und die bedrohliche „Völkerwanderung aus Asien“ (S. 211ff.). Damit stellte sie sich gegen die offizielle politische Linie und forderte eine Absage an die Freizügigkeit türkischer Arbeitnehmer – schließlich mit Erfolg. Gleichzeitig tangierten ablehnende Äußerungen wie diese auch die türkische Öffentlichkeit, indem sie in den Medien zitiert wurden und Anlass für eine Generalabrechnung mit Europa gaben (S. 232).

Ebenfalls positiv hervorzuheben sind die Zwischenbilanzen, die der Autor in regelmäßigem Abstand liefert. Ohne Redundanz fasst er zuvor Analysiertes zusammen und geht dann jeweils noch einen Schritt weiter, indem er die Bedeutung der Ergebnisse im Hinblick auf die zentralen analytischen Leitfragen verdeutlicht und bewertet. Hilfreich ist außerdem, dass Incesu innerhalb der Medienanalyse die Ereignisse ständig historisch kontextualisiert, so dass sich dem Leser die Ursprünge und Gründe der nationalen und transnationalen Kommunikationsflüsse jeweils erschließen.

Weniger gelungen sind hingegen einige Überschriften innerhalb der empirischen Analyse. Der konkrete Zusammenhang zum folgenden Inhalt bleibt teilweise unklar. Vor allem eindeutige Ankündigungen über die analysierten Quellen hätten hier zu einer besseren Orientierung des Lesers beigetragen. Zu hinterfragen ist zudem Incesus Definition von transnationaler europäischer Öffentlichkeit. Ist es tatsächlich haltbar, auch dann von transnationaler europäischer Öffentlichkeit zu sprechen, wenn lediglich von diskursiven Interaktionen zweier Länder-Öffentlichkeiten zu einem europapolitischen Thema die Rede ist? Wäre es nicht ausreichend, diese miteinander verwobenen medialen Prozesse schlicht als grenzüberschreitende Kommunikation zu europapolitischen Themen zu benennen?

Bis auf diese wenigen Kritikpunkte liegt mit Günal Incesus Monographie eine innovative, erkenntnisreiche sowie analytisch scharfe Arbeit vor, die auch sprachlich pointiert ist. Empfehlenswert ist das Buch besonders für Geschichts- und Politikwissenschaftler, aufgrund der theoretisch-medienanalytischen Stärke darüber hinaus aber auch für Kommunikationswissenschaftler. Erkenntnisse liefert die Dissertation zudem speziell in der Frage, wie die Türkei in der eigenen als auch in der bundesdeutschen Öffentlichkeit bezüglich ihrer (kulturellen) Zugehörigkeit zu Europa seit den 1960er-Jahren wahrgenommen wurde: einerseits als ein am „Westen“ orientierter säkularer Staat, andererseits als ein islamisch geprägtes Land und damit dem „christlichen Europa“ nicht zugehörig. Nicht zuletzt ist die Arbeit für ein breiteres Publikum empfehlenswert, das sich für die Rolle der Bundesrepublik in den türkischen Beitrittsbemühungen zur Europäischen Union aus historischer Perspektive interessiert.

Anmerkung:
1 Ansatzweise etwa bei Jochen Walter, Die Türkei – „Das Ding auf der Schwelle“. (De-)Konstruktionen der Grenzen Europas, Wiesbaden 2008. Walter hat deutsche und britische Printmedien seit 1960 fragmentarisch daraufhin untersucht, inwieweit die Türkei als zu Europa zugehörig wahrgenommen wurde. Für ausführliche Hinweise zum Forschungsstand vgl. Incesu, Ankara – Bonn – Brüssel, S. 36ff.

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11.07.2014
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