P. Mishra: Aus den Ruinen des Empires

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Title
Aus den Ruinen des Empires. Die Revolte gegen den Westen und der Wiederaufstieg Asiens


Author(s)
Mishra, Pankaj
Published
Frankfurt am Main 2013: S. Fischer
Extent
441 S.
Price
€ 26,99
Reviewed for Connections. A Journal for Historians and Area Specialists by
Gerhard Altmann, Korb

Der Besuch des japanischen Ministerpräsidenten Abe am Yasukuni-Schrein Ende 2013 provozierte vorhersehbare Reaktionen. Vertreter der Volksrepublik China und Südkoreas geißelten diese Verbeugung vor den Ahnen als Ausfluss japanischer Geschichtsvergessenheit und neu entfachter Großmannssucht, denn an jenem sakralen Ort wird auch diverser Kriegsverbrecher gedacht, die im Namen des Tenno weite Teile Ost- und Südostasiens nach 1937 unter die Knute Tokios gezwungen hatten. Selbst wenn man im Verhalten des japanischen Premiers lediglich eine geschichtspolitische Entgleisung pro domo erblicken wollte, reiht sie sich doch in eine Serie von Konflikten ein, die den unaufhaltsamen Aufstieg Asiens zum Angelpunkt der Weltpolitik im 21. Jahrhundert in Zweifel ziehen. Der Disput um Inseln und Sperrzonen im Ost- und Südchinesischen Meer, der Umgang mit der ökonomischen Wucht der Volksrepublik und die Versuche Japans, das friedenspolitische Korsett der Nachkriegszeit abzustreifen, lassen die Region nicht zur Ruhe kommen. Dabei markiert ein militärischer Triumph Japans den Beginn der Hoffnung vieler Asiaten auf eine Umkehr der weltgeschichtlichen Dynamik: Die Versenkung der zaristischen Flotte durch Japan im Jahr 1905 habe den Prozess der Dekolonisation unumkehrbar gemacht, so Pankaj Mishra in seiner leidenschaftlichen Abrechnung mit dem westlichen Imperialismus.

Dass erstmals eine europäische Macht von einem asiatischen Staat in die Knie gezwungen wurde, wirkte wie ein Fanal für einen gedemütigten Kontinent. Mishra rückt in seiner wortgewaltigen tour de force jene Intellektuellen in den Mittelpunkt, die die Renaissance Asiens förmlich herbeischreiben wollten. Jamal al-Din al-Afghani, Liang Qichao und Rabindranath Tagore hinterließen ein bis heute einflussreiches Œuvre, das ihr Ringen um die richtige Antwort auf die Zumutungen des Westens widerspiegelt. Die Liste der Gravamina war lang: Napoleon spannte nach der Eroberung Ägyptens islamische Theologen vor den Karren seiner imperialen Mission, Großbritannien reduzierte sein Handelsbilanzdefizit mit dem Reich der Mitte durch die „massenhafte Vergiftung von Chinesen“ (S. 37) im Gefolge des Opiumkriegs, ein europäisches Expeditionskorps machte 1860 den Sommerpalast in Peking dem Erdboden gleich und brachte damit seine Verachtung für eine alte Hochkultur mit erschreckender Brutalität zum Ausdruck. Immer wieder wurden die Gesellschaften Asiens mit der bitteren Einsicht konfrontiert, dass selbst kleine europäische Nationalstaaten ein ungeheures, technologisch abgestütztes und administrativ versiert gelenktes Gewaltpotential zu entfalten vermochten, das den Opfern des westlichen Imperialismus zu allem Überfluss auch noch dessen way of life aufzuzwingen verstand und sich nicht etwa mit der ökonomischen Ausbeutung der Unterworfenen begnügte. Selbst die Medizin offenbarte Mishra zufolge ein „düsteres Doppelgesicht“ (S. 57): Sie bescherte den Kolonisierten eine wachsende Bevölkerung, ohne diese an der wirtschaftlichen Dynamik und mithin der Wohlstandsmehrung des Westens teilhaben zu lassen.

Drei Strategien zur Wiedergewinnung der Würde und Souveränität drängten sich den freilich in ganz unterschiedlichen Traditionen wurzelnden Gesellschaften Asiens auf. Sie konnten sich entweder auf ihre ureigenen, religiös verbürgten Werte zurückziehen und sich demonstrativ vom Westen abwenden oder aber sich zumindest jene technischen Praktiken der industrialisierten Welt anverwandeln, die deren Ausgreifen nach Übersee erst möglich machten. Die dritte Option war das radikal-säkulare Modell einer konsequenten Verwestlichung als Synonym einer erfolgreichen Modernisierung, wie sie von Atatürk und Mao Zedong angestrebt wurde. Am Beispiel al-Afghanis veranschaulicht Mishra, dass die Wortführer eines asiatischen Comebacks zuweilen alle drei Strategien durchdeklinierten, nicht zuletzt als Reflex der eigenen Lebenslage, die von häufig wechselnden Gönnern, Wohnorten und politischen Kontexten geprägt waren. Nach seiner Ausweisung aus Ägypten, das sich im Bannkreis der britischen Imperiums befand, wandte sich der aus Persien stammende al-Afghani schließlich einem religiös gewirkten Nationalismus zu, der sein Heil in einer panislamischen Allianz suchte, welche die Abhängigkeit vom gleichermaßen bewunderten wie verhassten Westen abzuschütteln trachtete, ohne jedoch umstandslos in die Fänge einer intoleranten Orthodoxie zu geraten. Denn anders als Osama bin Laden, „einem anderen wandernden Beobachter der muslimischen Schwäche“ (S. 152), lehnte al-Afghani die Verzweiflungsstrategie des Terrorismus ab.

In Ostasien formierten sich unterdessen jene Gruppierungen, die sich von einem machtgestützten Panasianismus die Befreiung von den westlichen Zwingherren versprachen. Viele Chinesen, die sich darüber empörten, wie ihre Heimat immer mehr „einem hilflosen Riesen“ (S. 198) glich, pilgerten nach Tokio, wo sich nach 1905 ein Netzwerk asiatischer Nationalisten gebildet hatte. Der Publizist Lang Qichao geriet in den Sog von Strömungen, die den ehrwürdigen Normen der chinesischen Zivilisation die Durchschlagkraft absprachen, die vonnöten war, um das westliche Joch abzuschütteln. Etatistisch-autoritäre Ansätze sollten an die Stelle einer tendenziell quietistischen konfuzianischen Moral treten, die nicht zur Gemeinschaftsbildung im nationalen Maßstab fähig war. Ein „neues Vokabular des Selbstbewusstseins und der Selbstanalyse“ (S. 205) verlangte nach innovativen Wegen der Implementierung. Allerdings erteilten die Pariser Vorortkonferenzen nach dem europäischen Gemetzel den Nationen Asiens „die bis dahin härteste Lektion in westlicher Realpolitik“ (S. 236). Anstatt die Vision Präsident Wilsons vom Selbstbestimmungsrecht der Völker beim Wort zu nehmen, schnitt die Entente lediglich ihre Einflusssphären neu zu und zementierte so ihre „rassistische Arroganz“ (S. 321).

In diesem Klima der Verdrossenheit, das durch die zusehends aggressivere Außenpolitik Japans in den zwanziger Jahren verschärft wurde, stimmte Tagore das Hohelied vorindustrieller, nicht utilitaristisch vereinnahmter Kulturen an. Und Mahatma Gandhi warnte vor dem Danaergeschenk des Nationalismus, der die Europäer gerade in einen monströsen Krieg gestürzt hatte. In Nippon hielt man sich indes nicht länger mit Fragen der spirituellen Regeneration auf. Im Zweiten Weltkrieg ermächtigten die japanischen Okkupanten geschickt lokale Eliten und entfachten nach dem Fall Singapurs 1942 neue Hoffnungen auf eine endgültige Befreiung von westlicher Herrschaft. Dass die alten Imperialisten nach der Niederlage Japans abermals, wenn auch im Windschatten amerikanischer Hegemonie auf den Plan traten, konnte nur mehr „ein blutiges Hinauszögern des Unvermeidlichen“ (S. 307), nämlich einer beschleunigten Dekolonisation bedeuten.

Die postkolonialen Gesellschaften – insbesondere die des Nahen und Mittleren Ostens – ernteten indes oft nur kümmerliche Früchte der Unabhängigkeit. Experimente mit westlichen Vorbildern auf politischem und wirtschaftlichem Terrain missbrauchten die neuen Herrscher nicht selten als Freibrief zur Plünderung ihre Untertanen. Liberalismus und Marktwirtschaft wurden so desavouiert, was islamistischen Gruppierungen wie Jamaat-e-Islami und der Muslimbruderschaft den Weg in die Mitte der Gesellschaften ebnete. Die sogenannte Dritte Welt entpuppte sich als „triste konsumorientierte Dystopie des Westens“ (S. 332). Selbst für Indien erwiesen sich die Ambitionen, dem Lebensstandard der industrialisierten Nationen nachzueifern, als bloße Blütenträume. Zugleich beobachtet Mishra jedoch gerade in Ostasien greifbare Resultate im Kampf gegen westliche Bevormundung. Der Wiederaufstieg Chinas wirkt dabei wie ein Menetekel für die vormaligen Imperialisten, die spätestens mit der Irakinvasion vollends aus dem Tritt geraten sind.

Mishras flammender Appell an das asiatische Selbstbewusstsein reiht sich nahtlos in die von ihm skizzierte Tradition des Nachdenkens über die Gründe für die Dominanz des Westens ein. Mit Verve und schriftstellerischer Brillanz arbeitet Mishra die intellektuelle Genealogie der asiatischen Unabhängigkeitserklärung heraus. Für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg fällt diese Analyse freilich eher diffus aus. Die Konturen der unter den Folgen jahrzehntelanger imperialistischer Kuratel leidenden Gesellschaften verschwimmen im Nebel vielfältiger Modernisierungsstrategien und regionaler Sonderwege, denen die Imperative des Ost-West-Konflikts auch nicht zu mehr Klarheit verhalfen. Wenn Mishra mit seinem Buch einen Beitrag dazu leistet, dass die Verheerungen des Imperialismus Eingang in die europäische Erinnerungskultur finden, ist ihm ein großer Wurf geglückt.

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04.04.2014
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