T. Brinkmann (Hrsg.): Points of Passage

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Title
Points of Passage. Jewish Transmigrants from Eastern Europe in Scandinavia, Germany and Britain 1880–1914


Editor(s)
Brinkmann, Tobias
Published
New York 2013: Berghahn Books
Extent
186 S.
Price
€ 66,99
Reviewed for Connections. A Journal for Historians and Area Specialists by
Elisabeth Janik, Doktoratskolleg Galizien, Universität Wien

Die massenhafte Auswanderung aus Osteuropa am Ende des 19. Jahrhunderts zählt sicherlich zu den am besten erforschten Themen in der historischen Migrationsforschung. In den vergangenen Jahrzehnten konzentrierten sich zahlreiche Arbeiten insbesondere auf die jüdischen Wanderungsbewegungen.1 Während einige Forschungsgegenstände, wie die Ankunft und Akkulturation in den Zielländern, ausführlich bearbeitet wurden, blieben andere Aspekte, wie die Transitwanderung oder die Bedeutung der Grenz- und Hafenstädte und der Reiserouten, jedoch weitgehend unbeachtet. Der jüngst von Tobias Brinkmann (Penn State University) herausgegebene Band Points of Passage, der die Beiträge einer Tagung, die 2008 in Hamburg stattfand, versammelt, verspricht nun, zumindest einige dieser Lücken zu schließen. Den zeitlichen Rahmen der Beträge bilden das Einsetzen der osteuropäischen Massenauswanderung um etwa 1880 und der Beginn des Ersten Weltkriegs. Gegenstand des Sammelbandes ist die jüdische Amerikaauswanderung aus Osteuropa über die Transitländer Deutschland, Großbritannien und Skandinavien.

Die insgesamt sieben Aufsätze befassen sich mit verschiedenen Aspekten der Transmigration: Neben den Gesundheitskontrollen an den östlichen Grenzstationen, in den Häfen und in den Zielländer werden auch Reisebedingungen sowie der Einfluss der großen Dampfschiffgesellschaften auf die Migration untersucht. Darüber hinaus betonen mehrere Beiträge den Einfluss der stetig wachsenden Einwanderungsrestriktionen in Amerika auf die Migrationspolitik in den europäischen Transitländern. In der Einleitung gibt Brinkmann einen weiten Überblick über die gegenwärtige Forschungslandschaft zur jüdischen Transatlantikwanderung. Dabei wirft er zunächst die Frage nach der Bedeutung der Immigration und Migration in den Transitländern auf. Zudem geht er auf die staatlichen Regulierungen und Kontrollen der Migration ein. In diesem Zusammenhang thematisiert Brinkmann auch nicht-staatliche Akteure, die wichtige Bedeutung für die Auswanderung besaßen. Dazu zählt er einerseits die zahlreichen Hilfsvereine in den Transitstationen und andererseits die Schifffahrtsgesellschaften mit ihrem in Osteuropa weitgestreuten Agentennetzwerken. Seine Ausführungen werden durch zahlreiche Beispiele unterstützt.

Der erste Beitrag thematisiert die Medikalisierung der Grenz- und Hafenstädte: Barbara Lüthi (Basel) befasst sich mit der Thematisierung der jüdischen Migration in politischen Debatten sowie mit ihrer Darstellung in den zeitgenössischen Medien. Im Vordergrund des Beitrags stehen die hygienischen Kontrollen, die sie sowohl aus einer transnationalen als auch vergleichenden Perspektive analysiert. Den Hintergrund bilden die schärfer werdenden Restriktionen in den Transitländern gegen die Ein- bzw. Durchwanderung aus Osteuropa um 1900. Lüthi betont, dass die Medikalisierung der Migrant/innen zu einer Klassifizierung von Menschen in die Kategorien „erwünscht“ und „unerwünscht“ geführt habe, in denen sich wiederum die individuelle Gesundheit der Migrant/innen mit der kollektiven Gesundheit des „Volkskörpers“ verband. Carl Henrik Clarsson (Uppsala) schildert anhand treffend gewählter Bespiele und reich angeführtem statistischen Materials die Auswirkungen jüdischer Einwanderung aus Osteuropa nach Schweden zwischen 1860 und 1914. Im Zentrum steht die Frage, inwieweit es sich bei der jüdischen Osteuropawanderung nach Schweden um eine Einwanderung oder eine Transitwanderung gehandelt habe. Im Ergebnis sei die jüdische Einwanderung sehr bedeutend für die Herausbildung der jüdischen Gemeinde in Schweden gewesen, auch wenn viele von ihnen Schweden lediglich als eine Übergangsstation im Prozess der Wanderung gesehen haben.

Nicole Kvale Eilers (University of Wisconsin, Madison) untersucht die Bedeutung der Eisenbahn im Laufe der osteuropäischen Auswanderung über die preußischen Grenzstationen nach Amerika. Der Aufsatz verdeutlicht die enge Zusammenarbeit zwischen den preußischen Behörden und den privaten Dampfschifffahrtsgesellschaften Hamburger Aktien und Paketgesellschaft (HAPAG) und Norddeutscher Lloyd (NDL) in Hinblick auf die Regulierung der Transitmigrant/innen aus Osteuropa. Die Zusammenarbeit sei keineswegs reibungslos gewesen. Ähnlich wie Barbara Lüthi misst Eilers den Grenzstationen eine große Bedeutung als jene Orte zu, an denen die zahlreichen Migrant/innen vor ihrer Einreise nach Preußen durch das mehrstufige hygienische Kontrollsystem gefiltert wurden. Eilers zeigt auf, dass sowohl die HAPAG als auch der NDL sich stärker an den Einwanderungsbestimmungen der US-Behörden orientiert haben als an den preußischen. Klaus Weber (Europa-Universität Viadrina) untersucht die Aktivität und Strategien eines der wichtigsten jüdischen Hilfsvereine in England, des Jews’ Temporary Shelter (JTS) zwischen 1885 und 1930. Dabei geht er auch auf die wesentliche Bedeutung dieser Organisation für die jüdische Einwanderung und Transitmigration. Wie er anhand zahlreicher Beispiele zeigt, bestand eine der größten Herausforderung für die Organisation darin, sowohl staatliche Interesse als auch die der Auswanderer/innen zu berücksichtigen und durchzusetzen. Ferner diskutiert er die Rolle des JTS im Ersten Weltkrieg und nach 1933 und geht auf einzelne Aktivitäten ein.

Drew Keeling (Zürich) befasst sich mit den transatlantischen Reisebedingungen. Im Zentrum seiner mit sehr anschaulichem Material unterlegten Darstellung stehen neben den technischen Entwicklungen vor allem die Veränderungen bzw. Verbesserungen im Bereich der Passagierunterkunft auf den Schiffen. Keeling zeigt nicht nur auf, welche Gruppen von Migrant/innen von den Verbesserungen betroffen waren, sondern geht auch auf Ursachen und Bedingungen des Wandels ein. Zudem betont er, dass dabei marktwirtschaftliche Überlegungen wichtiger gewesen seien als der Druck oder Einfluss von staatlichen oder öffentlichen Institutionen. Auch Per Kristian Sebak (Bergen Maritim Museum Norwegen) geht auf die transatlantischen Schifffahrtsgesellschaften ein. Im Vordergrund seiner Analyse steht die skandinavische Schifffahrtsgesellschaft Det Forenede Dampskibs-Selskab. Sebak fragt nach den Beweggründen der russisch-jüdischen Transitmigrant/innen, die Auswanderungsroute über Skandinavien zu wählen. In diesem Zusammenhang diskutiert er die Auswirkungen der jüdischen Transitwanderung für die skandinavische Schifffahrtsgesellschaft und verortet diese vor dem Hintergrund des so genannten Atlantic Rate War 1904–1905. Sebak stellt deutlich heraus, das die Beförderung russischer Jüd/innen von großer Nützlichkeit für die DFDS war, insbesondere nach dem Untergang des dänischen Passagierschiffes Norge.

Während die vorherigen Beiträge den Fokus auf die Nordamerikaauswanderung gelegt haben, nimmt der letzte Beitrag in dieser Hinsicht eine andere Perspektive ein. Tony Kusher (University of Southampton) lenkt nicht nur den Blick auf eine weitere Auswanderergruppe aus Russland, den so genannten Wolgadeutschen, sondern wendet sich auch der Auswanderung nach Brasilien zu. Seine Schilderungen zeigen die Verzweiflung und Ohnmacht der Rückwanderer/innen gegenüber dem Verhalten örtlichen Behörden in Southampton und Hamburg. Gründe dafür sieht Kusher in den Generalsierungen und Pauschalisierung von Auswanderungsgründen, die nicht für alle Auswanderungsgruppen zutreffen. Dem Prozess der Transitmigration schreibt er einen wesentlichen Einfluss auf für die komplexen zeitgenössischen Debatten über ethnische und nationale „Zugehörigkeit“ und „Nicht-Zugehörigkeit“ zu.

Die Beiträge zeichnen ein vielschichtiges Bild der osteuropäischen Transitwanderung nach Nordamerika zwischen 1880–1914. Der von Brinkmann aufgestellte Anspruch neue unbeachtete Perspektiven auf den Forschungsgegenstand zu öffnen, wird sicherlich eingelöst. Hervorzuheben ist die Darstellung jener Wanderungsrouten über Schweden und Skandinavien, die bisher in der Forschung kaum thematisiert wurden. Ihre Analyse wirft jedoch die Frage nach der Bedeutung der Wahl der Route im gesamten Wanderungsprozess des 19. Jahrhunderts auf. Leider bleibt eine Antwort diesbezüglich aus. In diesem Zusammenhang wäre eine intensivere Darstellung der Transitstationen als komplexe soziale Gefechte wünschenswert. Besonders detailreich ist die Beschreibung der verschiedenen Akteure. Hier finden auch zeitgenössische Debatten über die Gesundheit des „Volkskörper“, Antisemitismus und Xenophobie Erwähnung.

In vereinzelten Beiträgen kommt es zu Wiederholungen, insbesondere dann, wenn es um die preußischen Grenzstationen und die Gesundheitskontrollen geht. Jedoch ist dies ein leicht zu verschmerzendes Manko. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass sich die Restriktionen in Amerika und Deutschland nach dem Ausbruch der Choleraepidemie in Hamburg in erster Linie gegen jüdische Migrant/innen aus Russland richteten. Sie bildeten die größte Auswanderergruppe im ausgehenden 19. Jahrhundert, jedoch wäre ein Blick auf weitere ethnische Auswanderergruppen wünschenswert gewesen. Zusammenfassend ist zu betonen, dass der Sammelband einen wesentlichen Beitrag zur osteuropäischen Auswanderung zwischen 1880 und 1914 leistet.

Anmerkung:
1 Vgl. hier unter anderem Klaus Hödel, Vom Shtetl an die Lower East Side Galizische Juden in New York, Wien 1991; Jeffrey Lesser, The Immgration and Integration of Polish Jews in Brazil, 1924–1934, in: The Americas 51 (1994), S. 173–191; Eli Lederhendler, Jewish Immigrants and American Capitalism 1880–1930, Cambridge 2009; Ewa Morawska, Polish-Jewish Relations in North America, 1880–1914: Old Elements, New Configurations, in: Mieczysław B. Biskupski / Antony Polonsky (Hrsg.), Polish-Jewish Relations in North Amerca, Oxford 2007, S. 71–86.

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12.08.2014
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