C. Holtorf: Der erste Draht zur Neuen Welt

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Title
Der erste Draht zur neuen Welt. Die Verlegung des transatlantischen Telegrafenkabels


Author(s)
Holtorf, Christian
Published
Göttingen 2013: Wallstein Verlag
Extent
350 S.
Price
€ 39,90
Reviewed for Connections. A Journal for Historians and Area Specialists by
Robert Radu, Interdisziplinäre Fakultät / Department „Wissen – Kultur – Transformation“, Universität Rostock

Im Sommer 1858 trafen zwei Kriegsschiffe inmitten des atlantischen Ozeans aufeinander – allerdings nicht, um Krieg zu führen. Ihre Fracht bestand aus den zwei Hälften eines 4.000 Tonnen schweren und 2.500 Meilen langen Kupferkabels. Auf hoher See verknüpfte man beide Enden miteinander, dann trennten sich die Schiffe wieder und jedes steuerte, seinen Teil des Kabels auf den Meeresgrund herablassend, seinem Heimathafen entgegen. Das britische Flaggschiff HMS Agamemnon nahm Kurs auf die südirische Küste, die USS Niagara auf das nordamerikanische Neufundland. Wenige Wochen später, am 10. August 1858, rauschten zum ersten Mal in der Geschichte elektrische Signale durch den Atlantik; Europa und Amerika standen in telegrafischem Kontakt.

Das erste atlantische Telegrafenkabel hat Zeitgenossen wie spätere Generationen gleichermaßen fasziniert. Daran konnte auch der Umstand nichts ändern, dass das Kabel bereits wenige Wochen nach seiner Inbetriebnahme für immer verstummte. Seit dem Jahr seiner Verlegung ist es immer wieder Gegenstand populärer und wissenschaftlicher Darstellungen geworden, von denen ein Großteil mehr von technikhistorischem Wert ist. Die Kultur-, Medien- und Kommunikationsgeschichte hat das Atlantikkabel bisher nur im Rahmen überblicksartiger Darstellungen gewürdigt; eine quellennahe Untersuchung des Gegenstands blieb weitestgehend aus. Christian Holtorfs Studie zum „erste[n] Draht zur Neuen Welt“ – so der Titel – stößt in diese Lücke vor. Sie stellt die gekürzte und überarbeitete Version seiner 2009 von der Berliner Humboldt-Universität angenommenen Dissertation dar. Holtorf, der inzwischen als Professor für Wissenschaftsforschung und Wissenschaftskommunikation an der Hochschule Coburg lehrt, versteht seine Studie nicht als klassische Technikgeschichte, sondern als Sozial- und Kulturgeschichte, Wissenschafts- und Medizingeschichte des 19. Jahrhunderts. In ihrem Zentrum steht die Frage nach den „kulturellen Hintergründen der Entwicklung der elektrischen Telegrafie und der Probleme, zu deren Lösung sie beitragen sollte“ (S. 17). Ziel der Arbeit sei es, die „Verlegung des ersten Drahts über den Atlantik in die Wissensgeschichte von Zeit und Raum einzuordnen“ (S. 275).

Die Studie ist systematisch angelegt und in sechs Kapitel unterteilt, die sich dem Untersuchungsgegenstand unter je eigenen Gesichtspunkten anzunähern suchen. Zunächst wird eine ereignisgeschichtliche Rekonstruktion der Planung und Umsetzung des Großvorhabens geboten, die auch die dabei handlungsleitenden Utopien nicht unberücksichtigt lässt. Sie hebt sich wohltuend von älteren, weitgehend einem Fortschrittsnarrativ verpflichteten Darstellungen ab, indem immer wieder die Misserfolge und Irrtümer in den Blick gerückt werden, die das Unternehmen begleitet haben und die eine hagiografische Überhöhung seiner Protagonisten, wie sie in klassischen Darstellungen oftmals begegnet, weniger denn je als angeraten erscheinen lassen. Das Atlantikkabel erwies sich demnach vom ökonomischen Standpunkt als große Enttäuschung, keiner der Investoren hatte mit dem Kabel je Geld verdient. Der utopische Wunsch, Raum und Zeit zu überwinden, stieß in der Praxis auf unüberwindbare Widerstände. Für Holtorf kommt dem Atlantikkabel daher auch nicht so sehr eine unmittelbar praktische Bedeutung zu. Seine Verlegung hatte vielmehr „Experimentalcharakter für die Klärung offener Fragen“ (S. 13). Es erwies sich damit, wie Holtorf eindrucksvoll und detailliert zeigen kann, auch als wissensgeschichtlich relevant, insofern als es die Entstehung der Ozeanografie befördert und tradierte Vorstellungen über die Beschaffenheit elektrischer Ströme zunehmend in Zweifel gezogen hat.

So erwiesen sich kulturelle Zuschreibungen an die Unterwassertelegrafie, wie sie in Form von Körpermetaphern erfolgten, als mit ausschlaggebend für den Misserfolg der ersten Kabelverlegung durch den Atlantik. Denn die irrige Vorstellung eines „elektrischen Blutkreislaufs“ nahm Einfluss auf die technischen Konstruktionsprinzipien des Kabels. Erst nach dem raschen Scheitern des Unternehmens sollte sich allmählich die Erkenntnis durchsetzen, dass ein Vergleich mit Blutbahnen wenig taugte. Das Atlantikkabel verlangte aus elektrophysikalischen Gründen ein neues Erkenntnismodell, das schon bald in der Metapher des Nervensystems sein adäquates Pendant fand (Kapitel 6).

Das oftmals in der Medienhistoriografie zu lesende Pauschalurteil, wonach die telegrafische Verkabelung der Welt zwangsläufig auch zu einer Beschleunigung des sozialen Lebens geführt habe, kann Holtorf am Beispiel des Atlantikkabels stark relativieren. Denn dieses zeichnete sich von Anfang an durch lange Übermittlungszeiten und inkorrekte Wiedergaben aus, wie die Auswertung aller 400 zwischen dem 10. August und dem 1. September 1858 durch das Kabel übermittelten Telegramme zeigt. Die häufigsten Ausdrücke waren „send faster“ und „send slower“. Statt Zeit einzusparen, konstatiert Holtorf, forderten viele Telegramme zu Langsamkeit und Wiederholungen auf, um überhaupt etwas zu verstehen. „Die Zeit wurde nicht überwunden, sondern problematisiert“, lautet folglich ein Zwischenfazit der Studie (S. 145). Geradezu tragikomisch mutet es daher auch an, dass ein nur unvollständig übermitteltes Telegramm der britischen Queen an US-Präsident James Buchanan zu öffentlichen Protesten in Amerika führte und alte Vorurteile gegenüber den Briten reaktivierte. Das Kabel, das aus Sicht seiner Ingenieure und Initiatoren dem Frieden der Völker dienen sollte, beförderte ob seiner technischen Unzulänglichkeiten mitunter Missverständnisse und gegenseitige Aversionen.

Auch wenn das Atlantikkabel die Lebenswelt nicht beschleunigt hat, so hatte es gleichwohl, wie die Studie anschaulich vor Augen führt, Auswirkungen auf sie. Es erforderte eine Standardisierung der Weltzeit, eine Anpassung des Lebensrhythmus an den Betrieb des Kabels sowohl bei Tag als auch bei Nacht, nicht zuletzt aber auch eine Regulierung der Sprache. So bilanziert Holtorf zum Schluss seiner Studie, dass die Entwicklung der Unterwassertelegrafie keine Medienrevolution dargestellt habe, sondern eine Verlängerung von Kommunikationsverbindungen, die über Land und durch Schiffslinien bereits bestanden haben: „Sie zielte auf mehr Rationalisierung, Regulierung und Beherrschung des Unübersichtlichen.“ (S. 275)

Holtorf hat eine luzide, quellengesättigte und vorzüglich lesbare Studie vorgelegt, die den Leser streckenweise sogar fesselt. Die Anlage der Arbeit, die darauf zielt, eine kaleidoskopische Vielzahl unterschiedlicher, für sich genommen höchst spannender Einzelaspekte abzuarbeiten, führt in der Gesamtschau dazu, dass die einzelnen Kapitel argumentationslogisch nur lose miteinander verbunden sind. Streckenweise gerät der Gegenstand aus dem Blick, sodass die Darstellung sich in einer allgemeinen Geschichte der Telegrafie verliert, wie sie schon unzählige Male geschrieben wurde. Zu bedauern gilt schließlich, dass der Verlag auf dem Buchrücken effektheischend mit der sachlich falschen Behauptung von der „kurzzeitigen Überwindung von Raum und Zeit“ wirbt. Dabei macht die Studie doch überzeugend deutlich, dass dies de facto niemals der Fall gewesen war.

Diese Kritikpunkte bleiben allerdings Petitessen angesichts einer überaus gelungenen Forschungsarbeit. Es ist zu hoffen, dass die Studie Nachahmer finden wird, die auch dem zweiten, diesmal beständigeren Transatlantikkabel von 1865 eine ebenso quellennahe Untersuchung zuteilwerden lassen und seine Folgewirkungen für Diplomatie, Presse und Wirtschaft genauer in den Blick nehmen, als dies bisher geschehen ist.

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15.10.2013
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