M. Lang u.a. (Hrsg.): Demokratie, Partizipation, Sozialismus

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Title
Demokratie, Partizipation, Sozialismus. Lateinamerikanische Wege der Transformation


Editor(s)
Lang, Miriam; Moreano, Alejandro
Published
Extent
180 S.
Price
€ 12,90
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Thomas Plötze, Universität Leipzig

Der bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung erschienene Sammelband „Demokratie, Partizipation, Sozialismus. Lateinamerikanische Wege der Transformation“ unter der Herausgeberschaft von Miriam Lang nimmt die gegenwärtigen Transformationspotentiale lateinamerikanischer Regierungen in den Blick. Die Analysen der Autoren knüpfen an die Machterlangung „neuer linker Regierungen“ in Venezuela, Bolivien sowie Ecuador zu Beginn des 21. Jahrhunderts an und fragen gezielt nach dem Ausmaß an Veränderung, welches nach der jeweiligen Machtübernahme bisher wirklich erreicht worden ist (S. 13). Sind also durch die Machtübernahme mehr politische Partizipationsmöglichkeiten für breite Bevölkerungsschichten entstanden oder wurden diese Zugänge zugunsten des Machterhalts wieder geschlossen? Wie geht die neue politische Elite mit Kritik um und, viel wichtiger, finden in den jeweiligen Ländern Lernprozesse der Eliten unter Einbezug der Mehrheit der Bevölkerung statt (S. 13)? Dieser in der Einleitung aufgeworfene Fragenkomplex (kritische Bestandsaufnahme und Möglichkeiten einer zukünftigen Veränderung) bildet den argumentativen Rahmen dieses Sammelbandes. Gleichzeitig, so die These der Herausgeberin, scheinen die bisherigen Transformationsprozesse in den drei Ländern an Dynamik verloren zu haben und in ihren politischen und wirtschaftlichen Transformationsprozessen auf halbem Wege stehen geblieben zu sein (S. 15).

Die beiden ersten inhaltlichen Beiträge des Sammelbandes sind als konzeptionelle Vertiefung zweier zentraler Ideen von lateinamerikanischer Transformation gedacht: Der Beitrag von Boaventura de Sousa Santos („Plurinationalität – ein entscheidender Beitrag zur Demokratie“) schätzt eine plurinationale Ausrichtung einer Gesellschaft als eine der zentralen Erfolgsbedingungen für Demokratie ein, besonders in Gesellschaften, in denen viele verschiedene „Nationalitäten“ oder kulturelle Gemeinschaften nebeneinander existieren. Plurinationalität kann verwaltungspolitisch mit Föderalismus übersetzt werden, wobei weniger der Fokus auf der technischen und politischen Teilung der Zuständigkeiten und Kompetenzen als vielmehr auf einer politischen Aufwertung, Stärkung und Respektierung der verschiedenen ethnischen, nationalen und kulturellen Gemeinschaften durch Bereitstellung eigener Verwaltung, Sprache und der Pflege kultureller Muster liegt (S. 17). Dieses Konzept betont die Differenz und Heterogenität innerhalb eines politischen Geflechts (Staat), ohne sezessionistisch zu wirken und staatlichen Homogenitätsbestrebungen stattzugeben (S. 20). Während also das Konzept der Plurinationalität das politische Verhältnis zum Staat regeln soll, repräsentiert das Konzept des buen vivir die (polit-)ökonomische Seite der in diesem Buch vorgestellten Konzepte, welches von Eduardo Gudynas in seinem Beitrag „Buen Vivir. Das gute Leben jenseits von Entwicklung und Wachstum“ diskutiert wird.

Zumeist als „gutes“ (oder besser „erfülltes“) Leben übersetzt, wird das Konzept Gudynas als explizit außereuropäische und anti-modernistische Idee charakterisiert. Die herkömmlichen Ideen ökonomischen Wirtschaftens wie beispielsweise Fortschritt, Innovation, Profit, Wachstum, Produktivität oder Entwicklung werden hierin in Frage gestellt (S. 29). Die ideologische Grundlage der Konzept(e) zum „guten Leben“ ist die Einheit zwischen Mensch, Tier und Pflanzen, sodass sich der Mensch nicht der natürlichen Ressourcen zur eigenen Nutzung bemächtigen sollte, weil er sonst das ökologische Gleichgewicht zerstören würde (S. 31). Eingebettet ist diese Wirtschaftsform in den Raum der andinen Dorfgemeinschaften (ayllu), die einer Form der Moral Economy1 entspricht, in der reziproke Austausch- und Organisationsformen vorherrschend sind.

Die beiden konzeptionellen Beiträge sollen in den folgenden sieben Artikeln in den jeweiligen Ländern untersucht werden. Dazu gibt es drei Beiträge zu Bolivien, in denen die Entwicklungen seit der Machtübernahme durch Evo Morales (2005) beleuchtet werden. Sie bildet den Ausgangspunkt in dem Beitrag von Raul Prada, von dem aus die weiteren Wege (Ziele) einer bolivianischen Transformation wie die Errichtung einer kommunitären und egalitären Ökonomie sowie radikaler Staatsumbau erläutert werden. Demgegenüber beleuchtet Dunia Mokrani in ihrem Beitrag weniger die Ziele als die bisherigen innergesellschaftlichen Konflikte in der bolivianischen Transformation. Der Artikel von Patricia Chavez reflektiert kritisch die von Prada aufgeworfenen Ziele einer Veränderung des bolivianischen Staats- und Wirtschaftsmodells. Sie zeigt dabei auf, dass gerade im Ziel der Entbürokratisierung (Staatsumbau) tendenziell weniger Veränderungs- als Aneignungspotential besteht, wenn die Autorin beschreibt, wie neu ins Parlament gewählte indigene Abgeordnete „kolonialisiert“ werden (S. 89). Die drei Autor/innen resümieren trotz zum Teil erfolgter Transformationsprozesse (Verfassungsänderung zur plurinationalen Republik), dass der Wandel besonders in der Wirtschaftsform hinter den Erwartungen zurückblieb. Als Beispiele werden die Diskussionen und öffentliche Aufruhr um den Anstieg der Benzinpreise 2010 und dem geplanten Straßenbau durch den Nationalpark Isiboro Sécure (S. 66, 70) genannt.

Neben Bolivien zeigen auch die beiden Beiträge zu Ecuador, wie schwierig die Umsetzung der in diesem Sammelband vorgestellten Ideen nach einem neuen Wirtschaftsmodell („neuen Sozialismus“) und der demokratischen Partizipation breiter Bevölkerungsschichten ist, wenn Pablo Ospina schreibt: „Wie soll man nun diese so widersprüchliche Regierungspolitik verstehen? Einerseits führt sie wirtschaftlich einige wichtige Reformen durch, andererseits isoliert sie sich und schwächt oder schließt die aus, die sie bei ihren Bemühungen um einen Wechsel unterstützen könnten. Das Ergebnis ist ein wirtschaftlich begrenzt umverteilendes, politisch gesehen ein rein personenbezogenes Projekt.“ (S. 114). Diese ernüchternden Ergebnisse der empirischen Beiträge von Ospina und Simbaña zeigen, dass die ecuadorianische Regierung durch ihre begrenzten wirtschaftlichen und politischen Reformen eher zu einer Schwächung statt Stärkung ihrer indigenen Basis beigetragen hat.

Die Befunde zu Bolivien und Ecuador decken sich zum Teil mit den zwei Analyseergebnissen zu Venezuela. Edgardo Lander betrachtet die politischen Verhältnisse – insbesondere die partizipativen Elemente – und kommt zu dem Schluss, dass seit 1999 durch die Verfassungsänderung das Parlament sukzessive zu einem dekorativen Element im politischen System degradiert wurde und Chavez vor allem anhand von Dekreten regierte (S. 142). Andrés Antillano konstatiert in seinem Beitrag, dass „[…]die alten privilegierten Gruppen durch eine neue aufsteigende Elite ersetzt wurden.“ (S. 133). Der hauptsächliche Unterschied zum alten oligarchischen System Venezuelas sei die Stärkung und Mobilisierung der breiten venezolanischen Masse durch einen erheblichen Ausbau der Sozialprogramme, die durch die ausschließliche Nutzung der Erdölressourcen (und damit der Abhängigkeit vom Rohölpreis) gestützt sei (S. 132, 152). Venezuela stelle somit gerade ein (traditionelles) ökonomisches Paradigma (Extraktivismus) der neuen Linken in Lateinamerika dar, dem anscheinend die Regierungen in Quito und La Paz teilweise folgen.

Obwohl Venezuela sich als empirisches Beispiel gut in den Sammelband einfügt, muss kritisch angemerkt werden, dass der Sammelband mit diesem Land seine theoretischen Rahmenlinien verlässt, weil sich die Konzepte der Plurinationalität und des buen vivir für Venezuela nicht untersuchen lassen. Das Land stellt gerade in seiner ökonomischen Idee kein außerordentlich neues Projekt dar, sondern konserviert allein ein auf „Petrodollar“ gestütztes wirtschaftliches und politisches Ordnungsmodell unter Einbezug einer Mobilisierung breiter Bevölkerungsschichten. Abgesehen von der empirischen Relevanz der venezolanischen Diskussion wäre es interessanter gewesen, die Konzepte der Plurinationalität und des buen vivir, die für den Sammelband schon in den ersten Beiträgen als die zentralen Formen möglicher neuer (lateinamerikanischer) Transformationswege aufgezeigt werden (S. 17ff., 28ff.), auf ihre Anwendungen in den beiden andinen Ländern hin näher zu untersuchen und deren Vor- sowie Nachteile zu diskutieren. Wünschenswert wäre auch eine tiefergehende Diskussion vor allem hinsichtlich der Übertragbarkeit auf andere sozioökonomische, kulturelle und politische Kontexte (beispielsweise buen vivir in urbanen Gebieten) oder ein Vergleichsbeitrag zwischen bolivianischen und ecuadorianischen Formen des buen vivir gewesen.

Die beiden letzten Kapitel des Sammelbandes beleuchten in einer Art Schlussakkord die derzeitigen kubanischen Entwicklungen und deren Vorbildcharakter für die lateinamerikanische Linke. Der Artikel von Aurelio Alonso reflektiert die kubanischen Entwicklungen seit der Revolution und geht davon aus, dass sich Kuba mittlerweile durch eine Reihe von Reformen seit 1990 in einem Zustand der „Übergangsdemokratie“ auf dem Weg zu einem „nachhaltigen Sozialismus“ befindet. Der Beitrag Boaventura de Sousa Santos’ versucht der Frage nachzugehen, inwiefern von Kuba und aus dessen Entwicklung gelernt werden kann. Somit sollen die kubanischen Erfahrungen aus 50 Jahren Sozialismus Ansporn für weitere Diskussionen bieten und gleichzeitig den Rahmen des Sammelbandes beschließen. Jedoch gelingt dies nur begrenzt. Die Ergebnisse der vorangegangen Länderanalysen werden nicht erneut aufgegriffen, in einen Rahmen gebettet und mit den kubanischen Erfahrungen kontrastiert. Gleichzeitig wird allein Kuba als Referenzpunkt für mögliche Lernprozesse genommen, ohne diese Lernprozesse aus den jeweiligen Fallbeispielen – wie in der Einleitung angekündigt – kritisch zu reflektieren. Somit fehlt leider ein abschließendes Resümee des Sammelbandes.

Trotzdem ist der Sammelband durchaus für ein breiteres Lesepublikum zu empfehlen, da er durch detaillierte und anschauliche Analysen überzeugen kann. Besonders die empirischen Beiträge deuten darauf hin, dass die Entwicklungen eines „neuen Sozialismus“ in Lateinamerika zumindest für die drei Länder bisher in Frage gestellt werden sollten. Somit müsste das Ende des Titels eigentlich mit einem Fragezeichen versehen werden. Denn wirklich neue Transformationswege werden scheinbar auch in Lateinamerika und hier insbesondere in den drei Ländern Bolivien, Venezuela und Ecuador bisher nur ansatzweise beschritten.

Anmerkung:
1 Edward P. Thompson, The Moral Economy of the English Crowd in the Eighteenth Century, in: Past & Present 50 (1971), S. 76–136.; James C. Scott, The Moral Economy of the Peasant. Rebellion and Subsistence in Southeast Asia, New Haven 1976.

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22.02.2013
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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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