P. den Boer u.a. (Hrsg.): Europäische Erinnerungsorte

den Boer, Pim; Duchhardt, Heinz; Kreis, Georg; Schmale, Wolfgang (Hrsg.): Europäische Erinnerungsorte 1. Mythen und Grundbegriffe des europäischen Selbstverständnisses. München 2012 : Oldenbourg Verlag, ISBN 978-3-486-70418-1 333 S. € 39,80

den Boer, Pim; Duchhardt, Heinz; Kreis, Georg; Schmale, Wolfgang (Hrsg.): Europäische Erinnerungsorte 3. Europa und die Welt. München 2012 : Oldenbourg Verlag, ISBN 978-3-486-70822-6 290 S. € 39,80

den Boer, Pim; Duchhardt, Heinz; Kreis, Georg; Schmale, Wolfgang (Hrsg.): Europäische Erinnerungsorte 2. Das Haus Europa. München 2012 : Oldenbourg Verlag, ISBN 978-3-486-70419-8 626 S. € 49,80

Reviewed for Connections. A Journal for Historians and Area Specialists by
Stefan Troebst, Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO), Universität Leipzig

Das Ende des Memory-Booms, das Gavriel Rosenfeld bereits 2009 eingeläutet hat1, verzögert sich offensichtlich: Nach zahlreichen Publikationen zu französischen, deutschen, italienischen, dänischen und anderen Erinnerungsorten, -räumen und -tagen sowie bilateralen lieux de mémoire, zuvörderst deutsch-polnischen, liegen nun auch drei Bände zu europäischen Erinnerungsorten vor. In der Einleitung wird klargestellt, dass es in dem Werk nicht darum geht, „dem Europäisierungsprozess eine ex-post-historische Legitimität zu verleihen“ oder die „unzureichende Identifizierung der Bürger mit der EU zu beheben“ bzw. „das Zusammengehörigkeitsgefühl der Europäer zu befördern“ (I, S. 7f.). Wenn die vier Herausgeber dennoch „Gedächtnisorte mit einer europäischen Relevanz“ als „etwas Gemeinsam-Verbindendes […], das für das Konstrukt einer europäischen Identität als wesentlich angesehen“ werden kann (I, S. 8), identifizieren, dann unter Verweis auf Relevanz, Resonanz und vor allem Rezeption: Dort, wo sich diese in Gestalt von „Transfer oder der kulturellen Interferenz“ nachweisen lässt haben wir es nach Den Boer et al. mit einem europäischen Erinnerungsort zu tun (ebd.).

Den aus 12 Ländern stammenden Autoren ist die Identifizierung von Erinnerungsorten gemäß diesen Vorgaben nicht nur im westlichen und zentralen Europa, sondern auch in dessen östlicher Hälfte naheliegenderweise in unterschiedlichem Masse gelungen. Paradebeispiel für eine erfolgreiche Umsetzung ist etwa Anne Cornelia Kennewegs Artikel „Antemurale Christianitatis (II, S. 73–81), in dem sie die Wirkungsmächtigkeit dieser Denkfigur im zurückliegenden Jahrtausend für ganz Europa belegt – von Karl dem Großen über Jan III. Sobieski bis Johannes Paul II. und Franjo Tudjman. Zu einem ganz ähnlichen Ergebnis kommt überraschenderweise Gunther Hirschfelder in seinem profunden Beitrag „Pizza und Pizzeria“ (II, S. 319–326), und dies deswegen, weil er über die Nobilitierung dieses napolitanischen Armengerichts am Ende des 19. Jahrhunderts hinaus weit zurückgreift – und zwar gleichfalls eintausend Jahre, auf die hebräische Bezeichnung für Fladenbrot. Seinen gesamteuropäischen Siegeszug von der Mitte des 20. Jahrhunderts an trat das mediterrane Hefeteiggericht dann allerdings über den Umweg via Nordamerika an. „Wenn sich im gemeinsamen Haus Europa alle an einen Tisch setzen“, so der Autor, „dann kann es nur ein Gericht geben, das alle kennen, das von allen akzeptiert wird und das allen schmeckt: Pizza.“ (II, S. 325) Dies deshalb, weil der belegte Backfladen zeigt, „dass die vielfältigen europäischen Kulturen in der Lage sind, sich kulturelle Phänomene anzueignen und sie dabei behutsam zu modifizieren“ (II, S. 326).

Die Konzeption des dreibändigen Werkes erschließt sich ungeachtet der in den Bänden 1 und 2 textgleich wiederholten „Einleitung“ der Herausgeber nicht leicht. Während der Titel von Band 3 – „Europa und die Welt“ – einigermaßen informativ ist und auch derjenige von Band 1 – „Mythen und Grundbegriffe des europäischen Selbstverständnisses“ – eine Vorstellung des Inhalts gibt, nimmt sich derjenige des umfangreichen Bandes 2 – „Das Haus Europa“ – kryptisch aus. Dass „Katyń“, „Drittes Rom“ und „Das Kaffeehaus“ lieux de mémoire mit hohem Europäizitätsgehalt sind, leuchtet ein, aber sind es auch „Das Chanson“, „U-Bahn“ und „Das Rathaus“, gar „Die Alpen“? Und wo bleiben der Hitler-Stalin-Pakt, der 8. Mai 1945 und das Epochenjahr 1989?

Dass Erinnerungskultur partiell das Produkt von Geschichtspolitik ist, ist ein Gemeinplatz. Dennoch hätte man in einer Reihe einschlägiger Beiträge dazu eher kritische Analyse denn Weiheton erwartet. So ist Georg Paul Heftys Essay „Der Internationale Karlspreis“ (II, S. 83–88) zu einer wahren Eloge auf die „Strahlkraft“ und „hochgeschätzte Glaubwürdigkeit“ dieser Auszeichnung geraten. Ähnlich euphorisch ist der Grundton von Albrecht Riedmüllers Beitrag über „Die Hymne der Europäischen Union“ (II, S. 89–96). Immerhin ist ihm aufgefallen, das Beethovens „Ode an die Freude“ zwar „ein allbekannter Megahit, aber als Hymne der Europäischen Union dem allgemeinen Bewusstsein nach wie vor weit weniger vertraut“ ist.

Wie stark selbst ein europäischer Erinnerungsort national konnotiert sein kann, belegt unfreiwillig Antoine Fleurys Artikel „Die Pariser Vorortverträge“ (II, S. 505–515): Der Abschnitt über den Vertrag von Neuilly mit Bulgarien 1919 gibt das larmoyante bulgarische Narrativ der eigenen Nationsgeschichte nahezu ungefiltert wieder: „Das Unglück Bulgariens“ in Form der Niederlage von 1918 habe dazu geführt, dass das Land in Paris „besonders erniedrigende Bedingungen akzeptieren“ musste: „Anstelle eines Großbulgarien, vom dem seit Jahrzehnten geträumt wurde, mussten sich die Bulgaren mit einem Kleinbulgarien […] zufrieden geben […].“ (II, S. 511) Der Erwähnung wert gewesen wäre vielleicht noch der Umstand, dass sich das Territorium des balkanischen Königreiches zwischen 1912 und 1919 dennoch um zehn Prozent vergrößerte.

Zwei prinzipielle Kritikpunkte seien abschließend genannt: Zum einen sind die drei Bände überaus spärlich mit zumeist kleinformatigen Schwarz-Weiß-Abbildungen versehen. Étienne François und Thomas Serrier haben in der großformatigen sowie reichhaltig farbig illustrierten Broschüre „Lieux de mémoire européens“ unlängst augenfällig demonstriert, welche Rolle der visuellen Komponente europäischen Erinnerungsorten zukommt – darunter auch und gerade solchen, die in den drei anzuzeigenden Bänden vertreten sind („L’humanisme“, „Les Lumières“, „Les Droits de l’homme“, „Homère“, „Rome“, „Islam“ und andere).2 Zum anderen ist die Tauglichkeit des Kompendiums im Forschungsalltag dadurch stark eingeschränkt, dass es keinerlei Register, keine Verweise, ja nicht einmal eine Liste der 123 Lemmata enthält. Und während die Bände 1 und 2 parallele Untergliederungen in die Themen „Mythen“, „Gemeinsames Erbe“, „Grundfreiheiten“, „Raum Europa“, „Kriegserfahrungen und Friedenssehnsucht“ sowie „Wirtschafts[- und Verkehrs]raum Europa“ (plus „Metaphern, Zitate, Schlagworte“ in Band 2) aufweisen, folgt Band 3 einer separaten sowie wenig originellen Gliederung in „Grundbegriffe“, „Konzepte“ und „Fallstudien“. Mit anderen Worten: Das informationsträchtige Labyrinth der 1249 Seiten muss sich der interessierte Leser selbst erschließen. Der gezielt rasche Information suchende Benutzer hingegen dürfte die Bände ratlos zuklappen.

Anmerkungen:
1 Gavriel D. Rosenfeld, A Looming Crash or a Soft Landing? Forecasting the Future of the Memory „Industry“, in: Journal of Modern History 81 (2009), 1, S. 122–158.
2 Étienne François / Thomas Serrier (Hrsg.), Lieux de mémoire européens, Paris 2012 (= documentation photographique).

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04.09.2014
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