C. Auroi u.a. (Hrsg.): Latin America 1810-2010

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Title
Latin America 1810-2010. Dreams and Legacies


Editor(s)
Auroi, Claude; Helg, Aline
Published
Extent
538 S.
Price
€ 96,59
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Tim Wätzold, KU Eichstätt-Ingolstadt

Der umfassende Sammelband zu 200 Jahren lateinamerikanischer Geschichte behandelt anlässlich des Unabhängigkeitsjubiläums ein breites Spektrum an Perspektiven. Ansatz- und Ausgangspunkt bildet das heutige Lateinamerika, und Ziel war die unterschiedlichen Entwicklungsprozesse und Widersprüche zu analysieren, auch hinsichtlich der nach wie vor bestehenden Gegensätze. Um die vielen unterschiedlichen Entwicklungen strukturell analytisch und nicht chronologisch zu erschließen wurden die 19 interdisziplinären Beiträge in vier Kapitel gegliedert.

Das erste Kapitel: „Latin America in World Geopolitics and International Relations“ beginnt mit dem Artikel des französische Politologe Alain Rouquié und thematisiert die Entwicklung des internationalen Status Lateinamerikas seit 1900. Im Rahmen seiner Darstellungen werden die verschiedenen politischen Entwicklungen mit ökonomischen Aspekten kombiniert. Ausgehend von allgemeinen Prozessen wie Demokratisierung oder der Entwicklung politischer Stabilität untersucht der Beitrag auch die Einflussnahme der USA und die politischen Wandlungen. Besondere Aufmerksamkeit erfahren die Veränderungen und Auswirkungen des Kalten Krieges, beispielsweise bei den Konflikten in Zentralamerika. Rouquié bezieht sich auf aktuelle Entwicklungen, insbesondere den wirtschaftlichen und diplomatischen Aufstieg Brasiliens als regionale Führungsmacht. Schlussendlich resümiert er das Lateinamerika sich zunehmend auf den internationalen Markt konzentriert, vor allem mit Asien als neuer Absatzmarkt für Rohstoffe. Der zweite Beitrag von Marcelo G.Kohen und Katherine Del Mar untersucht die Dekolonisierungsprozesse in Lateinamerika als Vorgänger im Vergleich zu anderen Teilen der Welt. Die beiden Autoren setzen hierbei einen juristischen Schwerpunkt und analysieren den Einfluss der Dekolonisierung auf die Entwicklung des internationalen Rechtsystems über den Terminus uti possidetis.

Yannik Wehrli thematisiert in seiner anschließenden Darstellung die Beteiligung Lateinamerikas im Völkerbund in den 1920er Jahren. Insbesondere bezieht sich der Artikel auf den historischen Hintergrund des Ansatzes zur lateinamerikanischen Einigkeit im Sinne Bolivars. Im Gegensatz dazu skizziert der Autor die internen Spannungen der Länder, die teilweise zu kriegerischen Konflikten führten. Gleichzeitig werden die Bestrebungen zu einem geeinten Handeln in Relation zu den USA im Sinne eines esprit de corps beschrieben, dessen Scheitern schlussendlich festgehalten wird.

Im Folgenden behandelt die Darstellung von Corinne A. Pernet die Initiativen Lateinamerikas in den Anfangsjahren der Vereinten Nationen als Beginn einer Identifizierung als Global South. Besonders die allgemeine Erklärung der Menschenrechte wurde durch die lateinamerikanischen Staaten mitgeprägt. Zudem konnte eine Zusammenarbeit mit dekolonisierten Ländern erfolgreich realisiert werden. Diese Kollaboration wirkte sich dann auch später positiv aus und führte insgesamt zu einer Zusammenarbeit der Länder des Südens. Den Abschluss des ersten Teils bildet der Beitrag von Yvette Sánchez, die sich auf die Migration von Lateinamerikanern in die USA bezieht. Hierzu erarbeitet sie einen holistischen Ansatz, der verschiedene Aspekte erfasst, sowohl anhand eines räumlichen Bezugs am Beispiel Miamis, als auch hinsichtlich der Sprache, Kunst und Alltagsleben. Schlussendlich zeigt die Autorin die Hybridität des kulturellen Kontakts auf und entwirft somit ein Bild gelebter panamerikanischer Realität der größten Minderheitsgruppe in den USA.

Das zweite Kapitel: „The Nation-State, Politics, Citizenship, and Governance” bezieht sich auf verschiedene Aspekte der Entstehung der Nationalstaaten Lateinamerikas. Den Anfang bildet der gelungene Artikel von Alan Knight, der innerhalb der 200 Jahre Zeitspanne auf die Zusammenhänge von sozialen Protesten und Revolutionen in Lateinamerika eingeht. Ausgehend von den Unabhängigkeitskämpfen bis zu den Revolutionen des 20. Jahrhunderts erarbeitet der Autor ein analytisches Schema zum Revolutionsbegriff. Knight bezieht die Vielzahl an Aufständen und Verschwörungen mit ein, um abschließend zu den sozialen Revolutionen zu gelangen, zu denen er Mexico, Cuba und Bolivien zählt.

Der anschließende Beitrag von Oscar Corvalán Vásquez untersucht vor allem anhand des chilenischen Beispiels die Bedeutung von Bildung für die Entwicklung von Staatsbürgerschaft und Demokratie in Lateinamerika. Er zeigt die Entwicklung seit der Kolonialzeit bis zum Beginn des 19.Jahrhunderts auf. Den Staaten wurde bewusst, dass Bildung ein Bestandteil der Staatsbürgerschaft sei, jedoch auch vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Entwicklung. Abschließend resümiert Vásquez die unterschiedlichen Entwicklungen in den jeweiligen Ländern inklusive der kritischen Analyse der heutigen Situation bezüglich eines nach wie vor akuten Problems. Zudem entwirft er Handlungsperspektiven, die unter anderem auf eine Dezentralisierung des Bildungswesens setzen.

Anhand des Beispiels Perus untersucht José Marín Gonzáles das Verhältnis von Nationalstaat und multikultureller Gesellschaft. In seinem Beitrag skizziert der Autor das Paradigma des Nationalstaats, unter Berücksichtigung der Entwicklung anderer multiethnischer Ländern Lateinamerikas als Vergleichsansatz. Dann bezieht er sich auf die konkrete Entwicklung in Peru durch Darstellung der Aspekte Evangelisierung, Alphabetisierung und Assimilierung der vielen indigenen Ethnien des Landes. Die Bevölkerungsgruppen des Amazonastiefland und des andinen Hochlands sind sehr unterschiedlich ausgeprägt. Ausgehend von dieser soliden Kontextskizzierung behandelt er die politische Entwicklung der letzten zehn Jahre und entwirft eine Vision auf die Zukunft einer multikulturellen Gesellschaft und demokratischer Integration.

Einen Bezug zur Thematik der indigenen Bevölkerung weist auch der nächste, etwas kürzere Beitrag von Leonardo Rodríguez Pérez zu juristischen Aspekten indigener Selbstbestimmung auf. Seine Untersuchung bezieht sich auf den konkreten Fall der Ratifizierung einer Konvention der internationalen Arbeitsorganisation in Kolumbien zum Selbstbestimmungsrecht indigener Völker aus dem Jahr 1991. In seiner kritischen Darstellung weist der Autor nach, dass diese in den dargestellten Beispielen jedoch keine Umsetzung erfuhr.

Einen konstruktiven Abschluss findet das Kapitel in dem Beitrag von Marc Hufty über die Entwicklung der Wälder Lateinamerikas. Der Artikel untersucht die vielseitigen Ursachen der massiven ökologischen Problematik, weist jedoch auf Schutzmaßnahmen und die Rolle der indigenen Bevölkerungen in diesem Kontext hin.

Der dritte Teil: „Rurality, Economy, and Models of Development” bezieht sich auf die Entwicklungsprozesse des Stadt – Land Verhältnis und des sozialen Ungleichgewicht. Den Schwerpunkt bilden wirtschaftpolitische Untersuchungen zur Entwicklung Lateinamerikas in der Weltwirtschaft. Den Auftakt leistet der Beitrag von Claude Auroi mit der komparativen Untersuchung von ländlichem Raum und Städten in der lateinamerikanischen Geschichte. Ausgehend von der Aussage, dass Lateinamerika heute ein urbanisierter Kontinent sei, fokussiert er vor allem auf die Wandlungs- und Entwicklungsprozesse. Der Beitrag skizziert die ökonomischen Voraussetzungen der Kolonialzeit und die Kontinuitäten seit der Unabhängigkeitsphase. So betont er die fortgesetzte Bedeutung und Einflüsse der Landwirtschaft für die Entwicklung Lateinamerikas. Er vergleicht die Besitzverhältnisse zu Beginn des 20. mit denen am Beginn des 21. Jahrhunderts. Abschließend hält Auroi die Bedeutung der Agrarwirtschaft für die Entwicklung Lateinamerikas ebenso fest, wie die seit Jahrzehnten bestehende Notwendigkeit Kleinbetriebe an diesen Prozessen teilhaben zulassen.

Der Wirtschaftswissenschaftler Pierre Salama untersucht die Frage, ob wirtschaftliches Wachstum durch externe Nachfrage eine Lösung der Finanzkrise wäre und stellt die Wirtschaftkrisen von 1930 und 2008 gegenüber. Im Mittelpunkt seiner Überlegungen zur aktuellen und zukünftigen Situation steht die Entwicklung der wichtigsten Ökonomien Lateinamerikas: Brasilien, Argentinien und Mexiko. Für die Stärkung der heimischen Märkte betont Salama abschließend die Notwendigkeit zur Etablierung eines Wohlfahrtsstaats als einzige Möglichkeit, der Wiederholung der historischen Erfahrung von 1930 zu entkommen.

Im anschließenden Beitrag behandeln Jorge E. Viñuales und Magnus Jesko Langer die Bedeutung von ausländischen Investitionen für Lateinamerika. Ihre Untersuchung unterteilen sie in vier Phasen. Die erste Phase von 1810-1907 ist charakterisiert durch den Übergang von der militärischen Intervention europäischer Mächte in Lateinamerika zum diplomatischen Schutz internationaler Konventionen. Die zweite Phase von 1907-1948 ist durch die Entwicklung des internationalen Rechtssystems geprägt und in ihrer Untersuchung beziehen sie sich häufig auf das Beispiel Mexikos und die Einflussnahme durch die USA. Der dritte Abschnitt von 1948-1990 steht im Zeichen der internationalen Dekolonisierung und der steigenden Bedeutung internationaler Finanzinstitutionen wie der Weltbank. Abschließend untersuchen sie die Prozesse von 1990 bis heute, die sie im Sinne der sogenannten Globalisierung und des Schutzes ausländischer Investitionen sehen. Hierbei betonen sie eine Zäsur durch die Modernisierung der Wirtschaft und Reform öffentlicher Dienste in Lateinamerika um ausländische Investitionen anzuziehen. Schlussendlich betonen sie aber auch die Notwendigkeit einer differenzierten Betrachtung der jeweiligen nationalen Entwicklungen.

Aus wirtschaftspolitischer Perspektive ergänzt der folgende Beitrag von Edgard Moncayo, Philippe de Lombaerde und Oscar Guinea Ibáñez dann konstruktiv die Gesamtbetrachtung. Die Autoren untersuchen den lateinamerikanischen Regionalismus und in diesem Zusammenhang die Rolle der UN Wirtschaftskommission Lateinamerika und Karibik von 1948 bis 2010. Im Mittelpunkt der in drei Phasen unterteilten Untersuchung stehen die Entwicklung von Handelsabkommen wie der NAFTA und die Versuche zum Aufbau eines gemeinsamen Marktes, des Mercosur. In der Darstellung der aktuellen Entwicklung werden dann neue Anläufe zu einem gemeinsamen Handeln, beispielsweise UNASUR vor dem Hintergrund einer Süd-Süd Allianz, im internationalen Kontext analysiert.

Christian Deblocks Untersuchung zur Bedeutung und Rolle der NAFTA ist der letzte Beitrag zu diesem ökonomisch geprägten Teil. Das Nordamerikanische Freihandelsabkommen, das Kanada und Mexiko mit den USA verknüpfte, wird detailliert dargestellt. Zudem wird es in Bezug zu Lateinamerika und zur chinesischen Konkurrenz gesetzt, um abschließend zu erörtern, inwieweit es als Modell dienen kann und wie sich die Relationen zwischen den drei Ländern entwickelt haben.

Der vierte Abschnitt: „Religion, Cultures, and Ethnic Identities” beginnt mit dem Beitrag des renommierten Anthropologen und Soziologen David Lehmann über grundlegende und übergreifende Aspekte der Religion in Lateinamerika. Innerhalb dieses sehr umfassenden thematischen Bereichs fokussiert er die Entwicklungen der katholischen Kirche und säkulare Tendenzen in den Gesellschaften. Lehmann betont Distinktionsaspekte wie die ausgeprägte Volksgläubigkeit und die institutionalisierte Kirche. Als spezifischer Entwicklungsprozess werden die soziale Doktrin der katholischen Kirche und ihre Entwicklung im 20. Jahrhundert herausgestellt, wobei die Befreiungstheologie einen besonderen Platz einnimmt. Die Überblicksdarstellung thematisiert heutige religiöse Bewegungen und Strömungen, Bezüge zu Politik und Grundlinien der Entwicklung der katholischen Kirche in Lateinamerika.

Sabine Kradolfer bezieht sich auf die Wahrnehmungen der indigenen Bevölkerungen Lateinamerikas. Hierbei konzentriert sie sich auf das Beispiel der Mapuche in Argentinien und orientiert sich anhand der Leitfrage, ob sich im Laufe der Zeit eine hybride Kultur bildete oder vielmehr die Autonomie der Kulturen im Vordergrund steht. In ihrem Beitrag werden vorerst die allgemeinen historischen Grundentwicklungen aufgezeigt und dann im spezielleren die Zwangsmaßnahmen gegenüber den Mapuche bis in die Gegenwart erörtert.

Der Beitrag von Aline Helg bezieht sich auf die Gruppe der Afro-Lateinamerikaner und die Grenzen gleicher Rechte. Sie analysiert drei Entscheidungsmomente: die Unabhängigkeitsphase unter Beibehaltung der Sklaverei und zweitens die endgültige Abschaffung der Sklaverei und die anschließenden Jahre, geprägt durch europäische Massenimmigration und rassistischen Ideologie. Die dritte Zäsur bildet in ihrer Darstellung der Zeitraum von 1990 bis 2010, als Afro-Lateinamerikaner zwar gewisse Minderheitsrechte eingeräumt bekamen, andererseits ihre Rechte wirtschaftlichen Interessen weichen mussten und sie in politische Konflikte gerieten, dargestellt am Beispiel des Bürgerkriegs in Kolumbien.

Der letzte Artikel von Dennis Rodgers behandelt mit der Untersuchung zentralamerikanischer Bandenkriminalität einen aktuellen gesellschaftlichen Aspekt Lateinamerikas. Rodgers skizziert die Entstehungshintergründe dieses Gewaltphänomens. Er verweist dabei sowohl auf die bis in die 90er Jahre hin brutal ausgetragenen Konflikte in der Region, als auch auf die Rolle der US-Einwanderungspolitik. Im Anschluss wird die symbolische Konstruktion der Gangs untersucht, gleichzeitig die Maßnahmen der zentralamerikanischen Länder aufgezeigt und somit die allegorischen Paradigmen Zivilisation und Barbarei in den Diskursen dekonstruiert.

Insgesamt zeichnet sich der sehr interdisziplinär geprägte Sammelband durch die gelungene Darstellung verschiedener relevanter Aspekte zur 200 jährigen Geschichte des Kontinents aus, insbesondere durch den häufigen konstruktiven Bezug auf gegenwärtige Problemlagen.

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08.06.2013
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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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