St. Gerbing: Afrodeutscher Aktivismus

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Title
Afrodeutscher Aktivismus. Interventionen von Kolonisierten am Wendepunkt der Dekolonisierung Deutschlands 1919


Author(s)
Gerbing, Stefan
Series
Zivilisationen & Geschichte 6
Published
Frankfurt am Main 2010: Peter Lang/Frankfurt am Main
Extent
141 S.
Price
€ 29,80
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Nathanael Kuck, Graduiertenkolleg „Bruchzonen der Globalisierung“, Universität Leipzig

Im Zuge der Rezeption postkolonialer Ansätze hat die koloniale Vergangenheit Deutschlands seit Mitte der 1990er-Jahre verstärkte Aufmerksamkeit in den Geschichtswissenschaften erfahren. Die Arbeit von Gerbing schließt sowohl in ihrer thematischen Ausrichtung wie auch dem akteurszentrierten Zugang an diesen Trend an. Hauptsächlich am Beispiel der eigentlich relativ gut erforschten Dibobe-Petition von 1919 untersucht er die politischen Handlungsspielräume von Migranten aus den ehemaligen deutschen Kolonien in der Metropole. Die Petition vom Juni 1919, eingereicht unmittelbar vor Unterzeichnung des Versailler Vertrags durch Deutschland, umfasste ein Schreiben an die Nationalversammlung und ein an das Reichskolonialamt gerichtetes Forderungspapier. Ersteres wurde von 17 afrodeutschen Männern unterzeichnet und beinhaltete eine Loyalitätsbekundung zur „sozialen Republik“. Letzteres enthielt hauptsächlich Forderungen zur Rechts- und Eigentumsordnung in den (ehemaligen) deutschen Kolonien in Afrika, deren Erfüllung Voraussetzung war für die anhaltende politische Loyalität. Anhand dieser Dokumente möchte Gerbing die angestrebten politischen Allianzen im metropolitanen Raum und die diskursive Verortung der Kolonialkritik untersuchen. Insgesamt geht es also weniger um langfristige Handlungsstrategien als vielmehr um Taktiken politischen Handelns (S. 19). Gerbing nutzt für seine Untersuchung vor allem die Bestände des Bundesarchivs und des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz, wobei der Quellenkorpus im Vergleich zu vorangegangenen Arbeiten erweitert wird.

Zum ersten Mal zeigt sich die Wichtigkeit der kritischen Aufarbeitung der Wissensproduktion in den Geschichts- und Kulturwissenschaften für die Herangehensweise des Autors in der Einleitung. Hier positioniert sich der Autor selbst und problematisiert dabei sowohl seine eigene Position als weißer Akademiker, der zu schwarzer Geschichte schreibt, als auch die Funktionalisierung von Kolonialgeschichtsschreibung im Rahmen neuer hegemonialer Projekte (S. 9f).

Das Buch gliedert sich in zwei Hauptteile. Der erste Teil, in dem der Autor die Verwendung von Begrifflichkeiten expliziert und den historischen Kontext näher erläutert, wird eröffnet durch eine Forschungsübersicht zu den_schwarzen_ Präsenzen in Deutschland. Dabei gelingt Gerbing eine kenntnisreiche und kritische Auseinandersetzung mit den bisherigen Arbeiten. Hilfreich hätte hierbei jedoch durchaus ein etwas erweiterter Blick auf die ungleich umfangreichere Literatur zu politischem Aktivismus schwarzer Migranten im Europa der Zwischenkriegszeit, insbesondere in Großbritannien und Frankreich, sein können. Auch der Einbezug der Literatur zu weiteren politisch aktiven Kolonialmigranten in der Weimarer Republik hätte sich angeboten, umso mehr als der Autor die bisher mangelnde Berücksichtigung transnationaler Verbindungen in der Forschung kritisiert (S. 19).

Ausgehend von einem poststrukturalistischen Verständnis von Sprache versucht Gerbing in einem kurzen darauf folgenden Kapitel die von ihm verwendeten Begrifflichkeiten zu begründen und damit für Kritik zugänglich zu machen. Zum einen geht es dabei um den Subjektbegriff, wobei sich Gerbing für die Verwendung der Bezeichnung „Afrodeutsche“ entscheidet. Angesichts der Heterogenität der Akteure, ihres juristisch unklaren Status sowie des Mangels an brauchbaren quellennahen Bezeichnungen scheint dies eine vertretbare Wahl, auch wenn beispielsweise die Kritik am Begriff der „schwarzen Diaspora“ – er impliziere einen nur temporären Aufenthalt –nicht zu überzeugen vermag (S. 22). Zum anderen verdeutlicht er sein Verständnis von „politischem Handeln“. In Anlehnung an Hanna Arendt und Michel Foucault wird es in der Arbeit als „kollektives Handeln, das auf Ermächtigung zielt“ (S. 26) verstanden – eine Erweiterung gegenüber dem traditionellen Politikverständnis, die aufgrund der subalternen Position der untersuchten Akteure Sinn macht.

Den Abschluss des ersten Teils bildet schließlich die historischen Kontextualisierung des afrodeutschen Aktivismus kurz nach dem Ersten Weltkrieg. Der Abriss zur schwarzen Präsenz im Kaiserreich und der Weimarer Republik ist kenntnisreich und prägnant, ebenso die Darstellung der Handlungsspielräume von Kolonisierten, die sowohl in ihrer rechtlichen, sozialen wie auch diskursiven Dimension abgehandelt werden. Weniger überzeugend gestaltet sich dagegen die Aufarbeitung des internationalen Kontexts, der sich auch auf verhältnismäßig wenig Literatur stützt. Auffallend ist hier vor allem die wohlwollende Sicht auf Wilsons 14-Punkteplan und das Fehlen der Russischen Revolution als politischem Referenzrahmen. Es waren jedoch gerade die konkurrierenden Weltordnungsvorstellungen von Liberalen und Kommunisten, welche die politische Landschaft der Kolonialismuskritik unmittelbar nach der Ersten Weltkrieg entscheidend prägten.1

Im zweiten Teil des Buches wendet sich Gerbing der Dibobe-Petition zu, wobei er mit einer kritische Aufarbeitung der bisherigen Sekundärliteratur beginnt. An ihr kritisiert er sowohl Positionen, die den Petenten eine zu große Nähe zu den staatlichen Behörden oder der radikalen Linken unterwerfen, ihnen also mithin die agency absprechen, als auch die politische Verortung der Petition als „antikolonial“ oder gar „protosozialisitisch“. Mit einer zweifachen Strategie versucht Gerbing eine alternative Sichtweise zu begründen. Erstens versucht er das politische Handeln der hauptsächlich kamerunischen Akteure als eine Ermächtigungsstrategie zu fassen, die auf die Sicherung der eigenen sozialen Stellung abzielt (S. 57). Zu diesem Zweck zieht er auch bisher wenig beachtete Quellen heran, die zwischen dem Frühjahr 1919 und Anfang 1920 entstanden. In diesen schlug Dibobe vor, in Kamerun zugunsten Deutschlands eine Propagandatätigkeit aufzunehmen. In diesem, nach Gerbing, taktischen Verhalten gegenüber den Kolonialbehörden sieht er eine Ausweitung des persönlichen und politischen Handlungsspielraums der migrantischen Akteure (S. 63). Damit betont er gegen die These von der angeblich revolutionär-antikolonialen Perspektive der Petitionssteller die pragmatische, auf den eigenen persönlichen und politischen Vorteil ausgerichtete Handlungsdimension. Obwohl als neue Perspektive sicher bedenkenswert lässt sich doch fragen, inwiefern sich eine solche Zweckrationalität des Handelns aus den Quellen wirklich herauslesen lässt. So scheint ein Eintreten für die Kolonialinteressen Deutschlands im Sommer 1919 nicht gerade erfolgsversprechend. Desgleichen ist zweifelhaft, ob ein taktisch motiviertes Verhalten gegenüber den Behörden gleichbedeutend war mit einer Ausweitung der eigenen Handlungsmacht (S. 62) –dies gerade angesichts der weitgehenden Erfolglosigkeit der Petenten gemessen an den eigenen Forderungen.

Zweitens begründet Gerbing seine alternative Sichtweise auf die Dibobe-Petition, indem er sie als Fortführung einer von Duala ausgehenden Petitionspolitik begreift. Überzeugend argumentiert der Autor hier, dass sich die Petition von 1919 einreihte in eine verhandlungsorientierte Politikform gegenüber den Kolonialbehörden, wie sie insbesondere verhältnismäßig privilegierte Gruppen innerhalb der kolonialen Ordnung praktizierten (S. 69f.). Zudem schloss sie an den zeitgenössischen, kolonialreformerischen Diskurs an, ein weiteres Argument gegen die Wichtigkeit von metropolitanen, linksradikalen Kräften für die Entstehung des Dokuments. Diese zweite zentrale Argumentationslinie wird noch vertieft durch den inhaltlichen Vergleich zwischen unterschiedlichen, an die deutschen Kolonialbehörden gerichteten Petitionen, dem stärksten Kapitel des Buches. Obwohl sich der Forderungsbereich im Laufe der Zeit tendenziell verbreiterte und auch sprachlich verallgemeinerte, zielte doch auch die Dibobe-Petition wie ihre Vorläufer auf eine gleichgestellte rechtliche Stellung, die Abschaffung von willkürlichen Strafen sowie die Sicherung ökonomischer Rechte (S. 86f.). Damit war sie noch nicht Teil der nach dem Ersten Weltkrieg immer lauter vernehmbaren Stimmen nach national gefasster Selbstbestimmung, da sie weder die Kolonialordnung per se in Frage stellte, noch mit einer ähnlich kohärenten politischen Subjektform wie der Nationalismus aufwarten konnte. Trotzdem ergab sich aus den Forderungen, die auf Gleichstellung abzielten und dabei mit Begriffen wie „Gleichberechtigung“ und „Selbständigkeit“ operierten, ein kritisches Potenzial, das in Spannung stand zu der von der Kolonialmacht angestrebten Dichotomie von Kolonisierenden und Kolonisierten (S. 82f.).

Während sich die Dibobe-Petition jedoch innerhalb der Grenzen des legitim Sagbaren bewegte, erlebte ein ostafrikanischer Mitarbeiter des Seminars für Orientalische Sprachen, wie begrenzt der politische Spielraum afrodeutscher Aktivisten war. In einem letzten Kapitel beschreibt Gerbing die repressive Reaktion der Behörden auf seine Vortragsreihe im Sommer 1919, in der dieser die deutsche Kolonialherrschaft polemisch jedoch keineswegs fundamental angriff.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Gerbings Buch einen wichtigen Beitrag leistet zur Geschichte der frühen metropolitanen Kolonialismuskritik migrantischer Akteure bevor die Entstehung nationalistischer Bewegungen in der kolonialen Welt und die politische Grammatik des sowjetischen Antiimperialismus radikalere politische Ansätze begünstigte.2
Angesichts der relativ begrenzten Handlungsspielräume, bedingt sowohl durch die Gesetzeslage, Abhängigkeitsverhältnisse sowie Formen sozialer Kontrolle, stellte die Dibobe-Petition ein bemerkenswertes Zeugnis politischer Interventionen von kolonialen Migranten in einem metropolitanen Umfeld dar. Gerbing legt in seiner sorgfältigen Untersuchung überzeugend dar, dass die Adressierung kolonialpolitischer Kreise und die Anknüpfung an reformerische Diskurse für afrodeutsche Aktivsten zwar nicht zwingend jedoch durchaus naheliegend war. Damit bietet die Arbeit einen wertvollen Ausgangspunkt für weitere Untersuchungen zu migrantischem Aktivismus in der kolonialen Metropole.

Anmerkungen:
1 Vgl. hierzu etwa Erez Manela, Die Morgenröte einer neuen Ära. Der „Wilsonsche Augenblick“ und die Transformation der kolonialen Ordnung der Welt, 1917-1920, in: Sebastian Conrad, Andreas Eckert, Ulrike Freitag (Hrsg.), Globalgeschichte. Theorien, Ansätze, Themen, Frankfurt am Main 2007, S. 282-312, bes. S. 288-293.
2 Wobei der Autor allerdings die Verfügbarkeit kommunistischer Befreiungsversprechen zu weit in die Zukunft verschiebt, wenn er schreibt, sie hätten erst Jahre später zur Verfügung gestanden (S. 119).

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29.06.2012
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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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