O. Ette u.a. (Hrsg.): Caleidoscopios coloniales

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Title
Caleidoscopios coloniales [Koloniale Kaleidoskope]. Transferencias culturales en el Caribe del siglo XIX [Kulturelle Transferts in der Karibik im 19. Jahrhundert]


Editor(s)
Ette, Ottmar; Gesine, Müller
Series
Bibliotheca Ibero-Americana 138
Published
Madrid/Frankfurt 2010: Vervuert/Iberoamericana
Extent
481 S.
Price
€ 29,80
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Johanna Abel, Universität Potsdam

Der Tagungsband „Caleidoscopios coloniales“ bietet einen unverzichtbaren Apparat zur angewandten transnationalen Kultur- und Literaturgeschichte einer globalen Schlüsselregion. Entstanden aus der charakteristischen Zusammenarbeit Ottmar Ettes und Gesine Müllers am Institut für Romanistik der Universität Potsdam zur transarealen Karibikforschung ist er das Produkt einer facettenreichen internationalen Tagung zur Transkolonialität der Karibik im 19. Jahrhundert, wie sie im Sommer 2010 im Haus der Kulturen der Welt in Berlin stattfand. Mit seinen paradigmatischen Beiträgen liefert er nicht nur spannende und ausgefallene Lektüre renommierter Forscherpersönlichkeiten sowie innovative Neuansätze der jüngsten Karibikforschung, sondern erhellt grundlegende Denkfiguren einer dynamisierten Raum- bzw. Bewegungstheorie.

Die Karibik als Wegbereiter – Ein transarealer Bewegungsraum: Die Geschichte der Wechselspiele karibischer Kolonialismen im 19. Jahrhundert lässt sich mit dieser Sammelpublikation wie die Vorgeschichte der heutigen Globalisierung lesen. Phänomene der Deterritorialisierung und beschleunigter Relationalitäten sind seit dem 15. Jahrhundert bis heute Realität an diesem Zirkulationsort globaler Dynamiken. Die einleitenden Artikel der Herausgeber führen ein in Grundbegriffe eines Paradigmenwechsels von der statischen Raumgeschichte zur vektoriellen Bewegungsgeschichte. Die historische Dimension des 19. Jahrhunderts mit seinen Widersprüchen aus sozialer wie kultureller Emanzipation und der Zementierung kolonialer Strukturen zur Aufrechterhaltung der geostrategischen Interessen Europas wird mit dem Kaleidoskop-Begriff aus dem Publikationstitel konzeptuell veranschaulicht. Die Gleichzeitigkeit von politischer Mobilisierung und Statik, von zentralisierenden und multipolaren Strukturen lassen sich mit den Dreh-, Schüttel- und Spiegeleffekten eines Kaleidoskops perfekt veranschaulichen. Bevor das karibische „Kaleidoskop kolonialer Strukturen und Dynamiken“ Ende des 19. Jahrhunderts in seine tausend Partikel zersprang und das Inseluniversum in eine neue Phase der postkolonialen Abhängigkeiten eintrat, können die Transferbeziehungen innerhalb des Archipels als „Kaleidoskop von Kaleidoskopen“ variierender Kolonialreiche und Sprachgebiete zwischen den Amerikas, Europa, Afrika und Asien interpretiert werden. Weitere Konzepte, wie die sich dabei ereignenden Kulturtransfers, die Zirkulation von Wissen und Waren über die Kulturträger sich verzweigender Migrationsbewegungen, die aus den transarealen bzw. transarchipelischen Beziehungen resultieren, werden erläutert und perspektivisch auf zahlreiche Einzelbeispiele übertragen.

Wegkreuzung transkultureller Vektoren: Aus der Synopse der Beiträge des Bandes ließen sich laut den Herausgebern verschiedene Typologien von Transferbewegungen ableiten. Eine ihrer Typologien unterscheidet und bewertet die kulturellen Transferprozesse nach ihren Trägern, nach ihren Medien, nach den sozialen Modellen, die sie transportieren, und nach einem möglichen Theorietransfer. Die Unterteilung nach geografischen Arealen bekam aus Anschaulichkeitsgründen und zur effektiveren Gegenüberstellbarkeit kolonialer Zentren letztlich den Vorrang.

So teilt sich das Buch in fünf Kapitel zu 1. Kuba, 2. Guadeloupe und Martinique, 3. Haiti, 4. Afrika und 5. Europa und die Amerikas. Der zweisprachige Band wechselt dabei zwischen spanisch- und französischsprachigen Artikeln.

Im ersten Block zu Kuba erörtert Roberto González Echevarría den anthropologischen Gehalt des Festes in seiner Bedeutung für das Medium einer entstehenden Nationalliteratur auf Kuba, während Janett Reinstädler das Medium Theater nutzt, um die Vernetztheit einer transatlantischen Welt anhand reisender Theater- und Opernkompagnien Europas und deren Transkulturationsimpulse für die karibische Theaterpraxis im 19. Jahrhundert zu demonstrieren. Ana Mateos zeigt in ihrer Studie des kubanischen Gründungsromans Cecilia Valdés ebenfalls am Medium Literatur die subversive Adaption und Transformation europäischer Literaturmodelle durch einen kreolischen Autor. Auf das Transfermedium der Bildenden Künste ist Liliana Gómez Beitrag konzentriert und stellt Beziehungen zwischen politischen Diskursen kubanischer Kolonialpolitik und deren Inszenierung und Zirkulation in Lithografien zur sklavereibasierten Zuckerindustrie her.

Der zweite Block zu Guadeloupe und Martinique ist zum Großteil auf den Transfer sozialer Modelle fokussiert bzw. nimmt die Schlüsselposition von karibischen Transferakteuren genauer in den Blick. Während sich Marcel Dorigny kritisch mit dem Übergang zur Lohnarbeit nach der Abschaffung der Sklaverei auf Saint-Domingue und Haiti auseinandersetzt, unterstreicht Nelly Schmidt die Bedeutung der lokalen politischen Widerstände gegen die Sklaverei gegenüber abolitionistischen Diskursen weißer Oberschichten in den Zentren, welche die Erinnerungspolitiken zur Emanzipation der französisch kolonisierten Inseln aus der Sklaverei bis heute verfälschten.

Oruna D. Lara befasst sich ebenfalls mit den gesellschaftlichen Veränderungen nach der Abolition auf Guadeloupe, Martinique und in Guayana und analysiert die administrativen Bedingungen für den Zugang zur freien Arbeit. Bei ihm kommen auch transareale Beziehungen der Karibik und Asien zur Sprache, indem er mit der Immigration aus Indien und China eine zweite Welle transozeanischer Zwangsarbeit beleuchtet.

Caroline Oudin-Bastide widmet sich den psychosozialen Mentalitäten der Träger/innen der Sklaverei, den Sklavenhalter/innen und ihrer „leidenschaftlichen“ Beziehung zur „Bestrafungsgewalt“ (S. 201). Ihre Analyse eines ästhetisch-innovativen Dokumentarfilms zu diesem bis heute tabuisierten Thema ermöglicht ihr die differenzierte Unterscheidung von unterschiedlichen Gewalttypen und deren Funktionalität für die jeweiligen Akteure, denen sie auch genderspezifische Motivationen zuordnet. Albert James Arnolds Beitrag ist ebenfalls auf einzelne Kulturträger transkolonialer Dynamiken ausgerichtet. Er untersucht die Bedeutung der von Piraten im interkolonialen Wettstreit ausgelösten Transferbewegungen und lotet ebenfalls Erinnerungspolitiken aus, die der Piraterie eine marginale Rolle zuweisen, welche nicht ihrer historischen sozialen und kulturellen Einflussnahme entsprach.

Der dritte Block zu Haiti gestaltet sich kontrovers. Den Auftakt macht der für seine radikale Positionierung im Feld bekannte kanadische Karibikspezialist Chris Bongie mit seinem einschlägigen Essay zu Haiti im 19. Jahrhundert und seinen Nachwirkungen bis in aktuelle post/koloniale Forschungsdebatten des 21. Jahrhunderts wie den Haitianischen Turn mit seinen „kulturalistischen“ Untiefen (S. 261). Ihm folgt eine ebenso konsensquerende Analyse der postrevolutionären inselinternen Beziehungen zwischen Haiti und Santo Domingo aus dem reichen Kenntnisschatz der kürzlich verstorbenen deutschen Karibikexpertin Frauke Gewecke. Der Beitrag Chelo Naranjos knüpft thematisch an die Auswirkungen der haitianischen Revolution auf den gesamten Archipel an, indem sie die Instrumentalisierung des „Angstgespensts“ Haitis (S. 284) und die Furcht vor einer Wiederholbarkeit der Ereignisse auf anderen Zuckerinseln im konkreten Fall der Nachbarinsel Kuba aus historischen Dokumenten entwickelt. So führte eine transatlantisch zwischen Spanien und seinen letzten Kolonien in der Karibik suggestiv inszenierte Angstpolitik gegen eine Afrikanisierung der Inseln mit zur kolonialen Machtperpetuierung das ganze restliche Jahrhundert über. Aus brillant recherchierter literaturwissenschaftlicher Perspektive konzentriert sich Hans-Jürgen Lüsebrink auf das Transfermedium Presse in der neugegründeten Republik Haiti zu Beginn des 19. Jahrhunderts. So lag einer der Hauptgründe für die internationale Konsolidierung des postkolonialen Staates in der Imitation französischer Hofberichterstattung in den haitianischen Medien. Durch die Entwicklung raffinierter Schreibpolitiken im Stile der westlichen Repräsentationsmedien gelang die Machtlegitimierung im Angesicht konstanter Barbarisierung von außen.

Den dynamischen Transferbewegungen zwischen Afrika, den Amerikas und der Karibik widmen sich im vierten Abschnitt zwei Beiträge. Mit seiner Kriminalistik des „verborgenen Atlantiks“ (S. 237) schafft es Michael Zeuske die Dimension einer verleugneten transatlantischen Moderne mit den Mitteln akribischer Archivarbeit aus der Starre ahistorischer, statischer Räume zu heben, die sich in Jahrhunderten blickverengter, unilateraler Sklavereigeschichte im westlichen Gedächtnis eingeschliffen haben. Seine neuesten, spektakulären Funde zum Sklavenhändler und Amistad-Kapitän Ramón Ferrer als modernem Unternehmer verschiedenster Tochterunternehmen und Geschäftsidentitäten zwischen afrikanischen Handelszentren, der Karibik und den USA erhellt das vektorielle Verständnis einer transarealen Bewegungsgeschichte, die auch mit bisher kaum beachteten Kulturträgern wie bereits in der Karibik geborenen kreolischen Übersetzern und Schiffsköchen steht und fällt. Die Rolle der im karibischen Archipel neu entstandenen Kreolkulturen und deren interaktive und reziproke Transkulturalität afrikanischer Kulturelemente beleuchtet Michèle Guicharnaud-Tollis in ihrem Überblicksartikel über die auf unzähligen Ebenen stattgefundenen Kulturtransfers zwischen Afrika und der Karibik.

Verflechtungen von Kulturpolitik und Literatur: Im letzten großen Themenblock zu Transferbeziehungen zwischen Europa und den Amerikas finden sich sowohl konzeptuelle Zugänge zu Theorietransfers als auch weitere spezifischere Beiträge zur histoire croisée der karibischen Inselwelten. Hector Pérez Brignoli definiert anhand kartologischer Einbettungsversuche der Inselregion in ein Konzept von Zentralamerika den Kaleidoskop-Begriff bezogen auf die Karibik als 1. Kreuzung, 2. als Mikrokosmos und 3. als Grenze. Anja Bandau widmet sich dem Transfermedium der Testimonialliteratur in Bezug auf die Übersetzbarkeit bzw. Darstellungsregulierung der revolutionären Ereignisse in Saint-Domingue in Augenzeugenberichten weißer Siedler. Diese zirkulierten hemisphärisch im zirkumkaribischen Bewegungsraum zwischen Santo Domingo, New Orleans, Frankreich und New York.
Markus Messling setzt sich in seinem epistemologischen Beitrag mit den Entstehungsbedingungen der Disziplin Philologie im 19. Jahrhundert auseinander, die eng an außereuropäische, kreolische Sprachräume der Karibik geknüpft ist. Dabei hebt er die Existenz früher autokritischer Stimmen hervor, welche eine postkoloniale Hegemoniekritik am philologischen Diskurs selbstreflexiv vorwegnahmen. Thomas Bremers Beitrag über die Verflechtungsgeschichte karibischer Literaturproduktion im 19. Jahrhundert beschäftigt sich mit dem Fall Manzano und der einzigen erhaltenen Autobiografie eines ehemals versklavten Autors aus der Hispanokaribik. Das Ineinandergreifen von britischen Interessen über die Einflussnahme von Literaturförderern auf Schwarze Autoren in den spanischen Kolonien und frankozentrischen Propaganda-Zwecken mittels der Übersetzung ins Französische durch den Abolitionisten Victor Schoelcher wird an der transatlantischen Rezeptionsgeschichte des Buches nachvollzogen.

Das entscheidende Schlussbild der Publikation entfaltet sich im Artikel Gesine Müllers, die sich den kulturpolitischen Konsequenzen der unterschiedlichen Machtzentren in der kolonialen Karibik und den damit verbundenen Wissenszirkulationen widmet. Ihre Hauptthese von der Multirelationalität hispanokreolischer Kulturproduktion im Gegensatz zur Bipolarität frankokaribischer Beziehungen zum Mutterland unterstreicht sie durch „literarische Momentaufnahmen des Dazwischen“ (S. 452). Diese waren durch die fehlende „Integrationskraft“ (S. 465) eines kulturellen europäischen Zentrums wie Frankreich schon im 19. Jahrhundert weniger zentrifugal und sowohl intrakaribischer als auch hemisphärischer orientiert.

Dem hier dezidiert vertretenen romanistischen Ansatz Ettes und Müllers, der transfergeschichtliche Fragestellungen ins Zentrum rückt, ist es zu verdanken, dass sich die stark fragmentierte und international anglophon dominierte Karibikforschung für einen fruchtbaren Dialog über die lange isoliert erforschten Kolonialräume Spaniens und Frankreichs öffnen und dabei neueste Impulse aus plurilingualen Theorieuniversen berücksichtigen kann.

Commentaries

Von Naumann, Katja18.12.2013

Die Redaktion von geschichte.transnational möchte darauf aufmerksam machen, dass die Autorin in einem engen professionellen Kontext mit der Herausgeberin des Bandes stand. Dieser Umstand war der Redaktion bei der Vergabe der Rezension nicht bekannt. Wir bedauern den Verstoß gegen die akademischen Mindeststandards.


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15.11.2013
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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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