A. Digby: Crossing Colonial Historiographies

Title
Crossing Colonial Historiographies. Histories of Colonial and Indigenous Medicines in Transnational Perspective


Editor(s)
Anne, Digby; Ernst, Waltraud; Muhkarji, Projit B.
Published
Extent
280 S.
Price
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Sarah Ehlers, Leibniz-Institut für Europäische Geschichte Mainz (IEG) und Sonderforschungsbereich 640: Repräsentationen sozialer Ordnungen im Wandel, Humboldt-Universität zu Berlin

Mit Crossing Colonial Historiographies ist das Forschungsfeld zu Medizin in kolonialen Kontexten um einige Überschreitungen reicher geworden.

Arm daran war es bereits zuvor nicht, was nicht zuletzt dem Wirken der HerausgeberInnen zu verdanken ist.1 Sei es die Analyse der Verschränkung von Medikalisierung und kolonialer Durchdringung, sei es die Beschreibung von epistemologischen Bruchzonen zwischen indigener Praxis und westlicher Wissenschaft: Die Erforschung kolonialer Medizin bezieht ihren Reiz seit Jahrzehnten aus der Aufmerksamkeit für Verflechtungen und der Übertretung disziplinärer Grenzen. Hat dieses Wissensfeld durch das vor allem in jüngster Zeit verstärkte Interesse an globalen Fragestellungen neue Impulse erfahren, so stehen doch die Wissensbestände zu verschiedenen Regionen, Zeiten und Kolonialismen nur lose verbunden nebeneinander. Aus eben dieser Pluralität erschließt sich für die HerausgeberInnen der Bedarf an einer transnationalen Perspektive: Inwieweit ist hier von verschiedenen historischen Wirklichkeiten auszugehen, inwieweit sind unterschiedliche Forschungstraditionen und entsprechend distinkte Zugänge erkenntnisleitend?

Diese Leitfrage zieht eine Heterogenität an Themen nach sich, die auf den ersten Blick verblüffend, wenn nicht erschreckend wirkt. Mit unterschiedlichem theoretischen Rüstzeug widmen sich die einzelnen Kapitel Regionen Süd- und Mittelamerikas, Afrikas und Asiens; chinesischer, spanischer, portugiesischer, russischer, deutscher, niederländischer und britischer (Post-)Kolonialismus bilden hierfür den Rahmen. Die HerausgeberInnen reflektieren diese Herausforderung – gleich mit der ersten Fußnote – indem sie ein Kuhnsches Diktum auf die Welt der Geschichtsschreibung übertragen. „Practising in different worlds, […] two groups of [historians] see different things when they look from the same point in the same direction.“ (S. x) Hier Inkommensurabilität ins Felde zu führen, wirkt allerdings angesichts der versammelten Themen fast bescheiden. Weder stehen die AutorInnen am selben Punkt, noch sehen sie in dieselbe Richtung.

Miteinander verbunden werden die einzelnen Beiträge durch drei Grundentscheidungen: Erstens ist die Klassifizierung als „kolonial“ vergleichsweise breit angelegt. Somit stellt sich ein heterogenes Verständnis von Kolonialismus ein, das außerdem im Forschungsfeld marginal vertretene Regionen in den Vordergrund rücken lässt. Zweitens findet sich in allen Beiträgen eine Aufmerksamkeit für multiple Verbindungen, die gängige Analyseraster durchkreuzen. Es ist die ernstgemeinte Suche nach Kontinuitäten zu vorkolonialen und postkolonialen Zeiten, nach Netzwerken, die Nationalstaaten, koloniale Grenzen, Kontinente oder Imperien durchkreuzen, die Aufmerksamkeit für Brüche und Transformationen, die dem Titel alle Ehre macht. Drittens schreiben die AutorInnen gegen analytische Dichotomisierungen an, sei es die Gegenüberstellung von Metropole und Kolonie, sei es von indigener Tradition und moderner Biomedizin.

Die ersten vier Beiträge zielen auf die Ebene der Kategorisierungen. Guy Attewell untersucht den Werdegang des Beriberi-Therapeutikums tiryaq al-faruq im 19. Jahrhundert. Situiert in unterschiedlichen regionalen und kulturellen Kontexten zwischen Europa, Indien, Ceylon und den Westindischen Inseln, kann es sowohl als westliche, koloniale, islamische und indische Medizin beschrieben werden und verdeutlicht damit die Porosität dieser Kategorien für medizingeschichtliche Fragestellungen. Auch Carla Nappi wählt einen objektzentrierten Zugang, indem sie anhand den sich wandelnden Interpretationen des Raupenpilzes dongchong xiacao im frühneuzeitlichen China den postulierten chinesischen Charakter der Medizin in Frage stellt und sie vielmehr als koloniale Praxis identifiziert. Thomas Williamson widmet sich mit seiner Untersuchung von Amok in Malaysia einer medizinischen Kategorie mit kolonialen Wurzeln. Wahrgenommen als Phänomen temporären Wahnsinns und rauschhafter Gewalt zeichnet es sich bis heute durch wandelnde Sinngebungen aus. Im Zentrum des Kapitels steht dabei die Frage, wie die Erforschung von Amok mit seiner Inszenierung verknüpft war und ist, „how scholars study not things but processes, processes [in] which they themselves are implicated.“ (S. 53) Ebenfalls mit besonderer Aufmerksamkeit für die historiographische Genese setzt sich Anna Afanasyeva mit der Kategorie kolonial am Beispiel medizinischer Zugriffe des russischen Imperiums auf die kasachische Steppe auseinander. Zwar identifiziert sie parallele Entwicklungen, argumentiert aber gegen eine Übertragung der anhand von europäischen Kolonialmächten entwickelten Forschungsparameter: Die Attraktivität der Analysemodelle zu westlichem/europäischem Kolonialismus liege eher im Mangel einer eigenen historiographischen Tradition als in den Charakteristika russischer Imperialmedizin begründet.

Ein zweiter Schwerpunkt des Sammelbandes ist die Auseinandersetzung mit medical pluralism. David Sowell geht es um die Spannung zwischen staatlichen Gesundheitsprogrammen und lokalen Praktiken im mexikanischen Yucatán in unterschiedlichen kolonialen Konstellationen (1891-1960). Während der spanische Kolonialismus das Bewusstsein für eine „traditionelle“ Heilkultur hervorbrachte, um dann mit eben dieser zu interagieren, sieht Sowell im postrevolutionären Wirken der Junta Superior eine Form der biomedizinischen Kolonisierung, die sich im Geiste der Modernisierung gegen den Fortbestand lokaler Praktiken richtete. Mit der Analyse von Gesundheitsfürsorge im kolonialen und postkolonialen südöstlichen Tansania widerspricht Walter Bruchhausen der Annahme einer traditionellen Medizin als einem ahistorischen homogenen Abbild einer lokalen Kultur. Vielmehr beschreibt er eine unter der kolonialen Herrschaft entstehende medizinische Marktwirtschaft, in der afrikanische Heiler widersprüchliche Rollen spielten, die von privatwirtschaftlichen Interessen ebenso wie der Erwartung geprägt wurden, Heilfertigkeiten seien Gabe und damit Verpflichtung. Liesbeth Hesselink identifiziert hybride Identitäten in Niederländisch-Indien im späten 19. Jahrhundert anhand des „healer hoppings“ der javanesischen, chinesischen und europäischen Bevölkerung. Eine zunehmende Dominanz westlicher Medizin sei erst mit der Jahrhundertwende auszumachen, während für die Zeit davor Verbindungen in alle Richtungen gegen die Annahme einer ethnisch segregierten Medizinkultur sprechen. Markku Hokkanen nähert sich Hybridität anhand afrikanischem medizinischem Hilfspersonal und der sozialen Dimension von Medikamenten und beschreibt so die pluralistische medizinische Kultur in der Region des kolonialen Malawis.

Der Sammelband schließt mit zwei Kapiteln zu portugiesischem Kolonialismus und einer gesundheitspolitischen Auseinandersetzung mit den Nachwirkungen der kolonialen Vergangenheit Südafrikas. Jorge Varanda untersucht mit der Gesundheitspolitik der Diamang Gesellschaft im portugiesischen Angola Vernetzungen jenseits des nationalen oder kolonialen Rahmens. Für die Frage nach der Kopplung von kolonialen Projekten und dem dazugehörigen Staat verhelfen seine Befunde zu neuen Anstößen: Die in der kolonialen Peripherie angewandten Gesundheitspraktiken speisten sich aus biomedizinischem Wissen, das nicht in erster Linie Lissabon entstammte, sondern vielmehr in globalen Bahnen und vor allem zwischen belgischem und britischem Imperium zirkulierte. Cristiana Bastos Analyse der medizinischen Entwicklungen in Goa seit dem 17. Jahrhundert beschreibt ein Zusammenspiel von lokalen und kolonialstaatlichen Ambitionen, wobei sie erstere als weit wirkmächtiger identifiziert. Jo Wreford schließlich widmet sich dem Verhältnis von kolonialer Medizin und lokalen Ärzten („traditional healers“) in der HIV/AIDS-Bekämpfung im heutigen Südafrika. Als teilnehmende Beobachterin beschreibt sie die ebenbürtige Begegnung beider Systeme, die den Weg zu einer Hybridisierung und damit zur Überwindung der kolonialen Frakturen freimacht.

Auf breiter empirischer Grundlage stehen hier elf innovative Studien, die für sich genommen faszinierend sind, in der Gesamtschau aber vor allem Fragen zurücklassen. Mag eine Stärke des hier beispielsweise gegenüber Foucaultschen Ansätzen privilegierten medical pluralism-Konzept in seiner Nuanciertheit liegen: Die Lektüre ruft den Wunsch nach einem Fazit hervor, das die einzelnen Fäden wieder miteinander verbindet. Verhandelt der Sammelband die Globalität der kolonialen Medizin, so bleibt er doch eine Einschätzung zur Reichweite der präsentierten Erkenntnisse schuldig. Dies gilt auch bezogen auf die in der Einleitung angesprochene historiographische Tradition: Eine bilanzierende Reflexion über die Frage, welcher Natur denn nun die Verbindung zwischen Forschungsgegenstand und den etablierten theoretischen Vorzeichen ist, bleibt dem Leser selbst überlassen.

Zusammenfassend bleibt der Eindruck einer Momentaufnahme, welche die Richtungen erahnen lässt, in die sich die Forschungen in Zukunft entwickeln könnten. Einerseits wird eine große Draufsicht eröffnet, andererseits das Gesehene gleich wieder verkompliziert. Das Ergebnis ist nicht nur für Medizinhistoriker aufschlussreich und inspirierend zugleich.

Anmerkung:
1 Die HerausgeberInnen selbst haben entscheidende Beiträge zur Konzeptualisierung von medical pluralism mit Studien zum kolonialen Indien und Südafrika geleistet. Neben diversen Sammelbänden vgl. Waltraud Ernst, Mad tales from the Raj. The European insane in British India, 1800-1858, London, New York 1990; Anne Digby, Diversity and division in medicine. Health care in South Africa from the 1800s, Oxford, Berlin, New York 2006; Projit Bihari Mukharji, Nationalizing the body. The medical market, print, and daktari medicine, London, New York 2009.

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Published on
16.03.2012
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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/
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