Settler Colonialism, Settler Imperialism, Settler Communities...

: Settler Colonialism. A Theoretical Overview. Basingstoke 2010 : Palgrave Macmillan, ISBN 9780230220973 182 S. € 63,32

Bickers, Robert (Hrsg.): Settlers and Expatriates. Britons Over the Seas. Oxford 2010 : Oxford University Press, ISBN 9780199297672 357 S. € 44,29

Bateman, Fiona; Pilkington, Lionel (Hrsg.): Studies in Settler Colonialism. Politics, Identity and Culture. Basingstoke 2011 : Palgrave Macmillan, ISBN 9780230238770 307 S. € 69,66

: Replenishing the Earth. The Settler Revolution and the Rise of the Anglo-World, 1783-1939. Oxford 2009 : Oxford University Press, ISBN 978-0-19-929727-6 573 S. € 36,50

: Settler Sovereignty. Jurisdiction and Indigenous People in America and Australia, 1788-1836. Cambridge (USA) 2010 : Harvard University Press, ISBN 9780674035652 313 S. € 36,90

Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Norbert Finzsch, Universität zu Köln

Settler Colonialism, Settler Imperialism, Settler Communities, Settler Sovereignty: Neue Konzepte der Sozialgeschichtsschreibung

Die Begriffe “Settler Colonialism” und “Settler Imperialism” sind neu im Arsenal der Geschichtswissenschaft; ebenso neu wie die 2011 gegründete Zeitschrift „Settler Colonial Studies”, die namhafte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus den Gebieten der Genocide Studies, der postkolonialen Schule und der Geschichte der Imperialismen zu verbinden trachtet. Lorenzo Veracini, einer der profiliertesten Forscher auf dem Feld plädierte schon 2011 für eine analytische Entflechtung der Felder “Colonialism” und “Settler Colonialism”, da die Tendenz vorherrsche, den Siedlerkolonialismus als eine Sonderform des Kolonialismus zu sehen und so den Blick auf die Spezifika des Phänomens zu verstellen. Er schlug stattdessen die Untersuchung der dialektischen Beziehung zwischen beiden Feldern vor, sicherlich ein weiser Vorschlag, den er in seinem 2010 erschienenen Band „Settler Colonialism“ vertieft. Er gliedert seine theoretischen Überlegungen in vier Ebenen, Bevölkerung, Souveränität, Bewusstsein und Narrative. Früher hätte man gesagt, dass es sich hier um eine Bewegung von der Materialität des Siedlerkolonialismus zur ideologischen Ebene handelt. Klug ist auch seine Beobachtung, dass es beim Siedlerkolonialismus nicht nur um die beiden Gegenpole Siedler-Kolonisierer vs. indigene Kolonisierte geht, sondern die Figur eines Dritten hinzutritt, die er exogene Alteritäten nennt. Zu diesen zählt er sowohl subalterne exogene Gruppen (z. B. Métis) als auch die metropolitanen Institutionen, die intervenieren können und z. B. den Schutz der Indigenen verlangen können (ob sie ihn effektiv durchsetzen können und zu welchem Preis steht auf einem anderen Blatt).

Innerhalb der Bevölkerungsökonomie, die für den siedlungskolonialen Calculus entscheidend ist, postuliert Veracini eine zweidimensionale strukturelle Matrix entlang der Achsen „Indigenous vs. Exogenous“ und „Righteous vs. Degraded“. (S. 19, figure 1.1) Er positioniert mithilfe dieser Matrix verschiedene Gruppen von Siedlern und von Indigenen und weist ihnen so ihre Position innerhalb der siedlerkolonialen Gesellschaft zu. Siedlergesellschaften entstehen da, wo Siedlerinnen und Siedler dauerhaft in der Kolonie bleiben wollen. Dies ist nur möglich, wenn die Indigenen „transferiert“ werden, d.h. im realen Sinne über die Grenzen verschoben, getötet, diskursiv aufgehoben (im Hegelschen Sinne) oder „zivilisiert“ bzw. „assimiliert“ werden. Veracini macht sich in diesem Kapitel viel Mühe damit, die verschiedenen Formen dieses Transfers zu systematisieren und man ist dankbar dafür, auch wenn diese Form der Systematisierung wie ein theoretischer Overkill daherkommt. Mir ging es ein wenig so wie den Lesern Jorge Luis Borges’, der eine fiktive chinesische Enzyklopädie zitiert, um die Konstruiertheit von Ordnungssystematiken zu ironisieren.

Das zweite Kapitel zur Souveränität geht mit weniger theoretischer Rigueur vor. Siedler/innen sind durch ihren animus manendi gekennzeichnet, durch ihre Absicht, in der Kolonie zu bleiben. Daraus leitet sich ab, dass sie früh versuchen, eine politische Ordnung zu etablieren, die ihren Zielen zuträglich ist. Die Souveränität der Siedler liegt zwischen Selbstregierung und Oberhoheit (suzerainty) und überlappt sich mit ihnen. Dieses Kapitel ist deutlich historisch angelegt und führt zahlreiche Beispiele für die unterschiedlichen Formen der Siedlersouveränität vor. Er betont, diese Souveränität verlasse sich nicht auf den Staat, sondern hebe die legislative Kompetenz der Siedlergesellschaft hervor. Dies mag für weite Teile von Siedlergesellschaften außerhalb der Anglosphere zutreffen, für Kanada und die USA sind hier erhebliche Zweifel angebracht, denn der Staat wurde immer wieder angerufen und zur Intervention aufgefordert, wenn Siedler auf ihrem Marsch nach Westen Konflikte mit den Native Americans oder First Nations auslösten. Auch ist der amerikanische Siedlerimperialismus – und ich benutze an dieser Stelle bewusst einen anderen terminus technicus als Veracini – ohne die Intervention des Staates undenkbar. Es war die amerikanische Bundesregierung, die hunderte von Verträgen mit Native Americans schloss und brach, was zur Relozierung der betroffenen indigenen Gruppen führte. Die Geschichte des neuseeländischen Siedlerimperialismus ist ohne den Vertrag von Waitangi (1840) unvorstellbar, der Neuseeland zu einer britischen Kolonie machte und die Grundlage dafür brachte, den Widerstand der Maori gegen die Landnahme gewaltsam zu brechen. Auch waren die Gründungen englischer Kolonien auf dem nordamerikanischen Festland deutlich territorialisiert. Es fehlte der englischen imperialen Souveränität in nuce also keineswegs an Territorialität, wie Veracini unter Berufung auf Lauren Benton behauptet (S. 72). Auch ist die Berufung auf die East India Company als eine außerstaatliche Form der Souveränität ein wenig überzeugendes Argument. Indien war nie eine Siedlerkolonie und insofern läuft dieses Argument ins Leere (S. 73). Dieses Kapitel ist für mich das am wenigsten überzeugende im ganzen Buch.

Das dritte Kapitel mit dem Titel „Consciousness“ behandelt die ideologischen Konstrukte, die zur Aufrechterhaltung der Siedlerkolonien notwendig sind. Veracini konzentriert sich hier auf das australische Beispiel, das er am besten kennt und extrapoliert von diesem. Ihm ist zuzustimmen, wenn er von der grundsätzlich gewaltsamen Disposition siedlerkolonialer Projekte zur Vertreibung der indigenen Bevölkerung ausgeht. Gleichzeitig ist dem Siedlerkolonialismus die Tendenz inhärent, die begangene oder bevorstehende Gewalt zu leugnen. Dies ist eng mit dem jeweiligen Gründungsmythos der siedlerkolonialen Gesellschaften verbunden. Leugnung und Abwehr von Erinnerung sind somit ständige Begleiterinnen des Siedlerkolonialismus. Gewalttaten der SiedlerInnen werden somit in der Regel als defensiv portraitiert, Indigene werden als „verschwindende Rassen“ charakterisiert, um die demographischen Katastrophen des Kontakts mit den SiedlerInnen zu verschleiern, das Land der Indigenen wird als leer oder unbesiedelt/unkultiviert, daher als Terra Nullius beschrieben.

Ob es das Verständnis dieser Vorgänge fördert, längere Passagen aus Ray Bradburys Roman „The Martian Chronicles“ zu zitieren (S. 84-86), ist doch zweifelhaft. Alle aufgezeigten narrativen Strategien der Entschuldigung und Leugnung des siedlerkolonialen Projekts der Verdrängung sind doch bestens untersucht und man hätte hier auf die umfangreiche Forschung verweisen können.1 Veracini postuliert ein Freudianisches Konzept, die Primärszene (Beobachtung des Geschlechtsverkehrs zwischen Vater und Mutter durch das Kind), die er auf den Siedlerkolonialismus überträgt. Die Störung der kolonialen Perfektion durch den indigenen Anderen (Primärszene) führe angeblich zur Fetischisierung des indigenen Anderen. Ich habe kein Problem mit der Übernahme von Konzepten aus der Psychoanalyse in die Geschichte schlechthin – im Gegenteil, ich finde die Ausführungen Veracinis zur „Deckerinnerung“ (Screen Memory) der SiedlerInnen weiterführend und produktiv. Doch bei der angeblichen Primärszene geht er zu weit: Abgesehen davon, dass das angeblich Freudianische Konzept der Fetischisierung als Konsequenz der Primärszene sich in den „Gesammelten Werken“ nicht findet, erschließt sich dem Rezensenten der epistemologische Mehrwert einer Analogie zwischen dem GV der Eltern und der Erkenntnis, dass die Indigenen störende und daher zu eliminierende Objekte sind, überhaupt nicht.2 Wichtiger als die Psychologisierung des Gegenstands wäre ein tieferes Eingehen auf die History Wars in Australien gewesen, da Veracini sich ausdrücklich mit Australien auseinandersetzt, diese aber nur kurz streift, obwohl sich hier ein erstklassiges Beispiel dafür zeigt, wie die Apologetik des Siedlerkolonialismus funktioniert.

Das vierte und letzte Kapitel analysiert die Narrative der siedlerkolonialen Landnahme und setzt damit das vorhergehende Kapitel fort, wobei Veracini den Fokus auf die Dekolonisierung legt. Interessant und weiterführend ist die hier ausgeführte Differenz zwischen kolonialen Narrativen, die in der Regel die Form der Odyssee haben, und siedlerkolonialen Narrativen vom Typ der Aeneis Vergils, die in der Landnahme durch die aus Troja geflüchteten Helden auf dem Land der Latiner endet. Soweit kann ich Veracini folgen. Dann aber wird das Konzept des Palindroms für die siedlerkoloniale Landnahme eingeführt und wiederum fragt man sich nach dem kognitiven Mehrwert. Wenn siedlerkoloniale Narrative eine lineare teleologische Struktur haben (S. 99), wieso sind sie dann palindromatisch (S. 100)? Theoriearbeit heißt doch nicht, möglichst viele komplexe Begrifflichkeiten einzuführen, sondern sollte doch als Foucaultscher Werkzeugkasten begriffen werden, bei dem ein geeignetes Werkzeug ein bestimmtes Problem lösen helfen soll. Veracini macht das theoretische Licht mit dem sprichwörtlichen Hammer aus, anstatt den Lichtschalter zu benutzen.

Dabei hat das ambitionierte Buch Veracinis etliche blinde Flecken. Die Forschung wird recht eklektisch rezipiert. Die Métis Kanadas spielen praktisch keine Rolle. Die franko-kanadische Forschung wird nicht wahrgenommen, von der deutschen, die im Hinblick auf „Deutsch Südwestafrika“ Erstaunliches geleistet hat, ganz zu schweigen. Nirgendwo wird der Unterschied zwischen „Siedlerkolonialismus“ und „Siedlerimperialismus“ thematisiert, obwohl es auch hierzu Forschung gibt.3 Vor allem die Rolle der „Zentren“ (Eliten als Geldgeber und politische Profiteure) im Zusammenspiel mit der „Peripherie“ an der Frontier können bei Verwendung des Begriffs Siedlerimperialismus viel besser konzeptualisiert werden. Nützlich ist das Buch trotz meiner Kritik für alle jene, die am Anfang einer komparativen Untersuchung des Phänomens Siedlerkolonialismus oder Siedlerimperialismus stehen und nach begrifflichen Hilfsmitteln suchen, um Forschungsfragen zu entwickeln.

Einen ganz anderen Zugang verfolgt James Belich in seinem fast 600 Seiten umfassenden Oeuvre „Replenishing the Earth“. Er konzentriert sich auf die „Anglo-World“ und er fokussiert die Hochphase der siedlerimperialen Durchdringung zwischen 1783 (Friede von Paris) und 1939, wobei die Grand Apartheid Südafrikas ausgeschlossen wird. Die Untersuchung eines so riesigen Territoriums und so unterschiedlicher Zeitzonen ist dennoch herkulisch zu nennen und das alleine macht dieses Buch lesenswert und aufregend. Wer sich eine derartig gigantische Aufgabe stellt, muss vereinfachen und systematisieren.

Das Buch ist in drei Teile mit jeweils eigener Einleitung („The Anglo Explosion“, „Testing Wests“, „Recolonization at Large“) und 18 Kapitel gegliedert, die durchschnittlich dreißig Seiten umfassen. Zahlreiche Fußnoten am Ende jedes Kapitels und ein ausführlicher Index am Ende des Buches sorgen für eine große BenutzerInnenfreundlichkeit. Das benutzte Material ist ausschließlich aus der Sekundärliteratur gezogen, gelegentlich wird eine publizierte Quelle bemüht; Archivarbeiten unterblieben, was die LeserIn bei Art und Umfang der Studie nicht verwundert. Die theoretischen Grundlagen bei Belich sind überschaubar: Er unterscheidet „Netzwerke“, „Imperien“ und „Siedlungen“, betont aber deren Überlappungen und Austausch. Besiedlung setzte die Verdrängung der indigenen Bevölkerungen voraus, sei es in der Form der Marginalisierung oder des offenen Genozids. (S. 23). Belich lässt die Siedlungstypen der europäischen und nichteuropäischen Siedler Revue passieren. Er beginnt mit Spanien, Portugal, Britannien, Russland und China, alles Vorübungen, um herauszukristallisieren, was den „Anglo-Typus“ der Besiedelung ausmachte.

Überraschenderweise konstatiert er keinen wesensmäßigen Unterschied, sondern bindet die Anglo-Explosion an die Existenz der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts (S. 40). Diese wiederum verläuft krisenhaft, ist durch Auf- und Abschwünge, “Paniken”, Depressionen und Konjunkturschwankungen geprägt gewesen. Den Krisen, bzw. den auf sie folgenden „Booms“ gebührt nach Belich der Status der unabhängigen Variablen im Spiel der „Siedler-Revolution“ nach 1815. Dabei werden Großbritannien und die jungen USA nach 1815 Bestandteil eines rückgekoppelten (ökonomischen) Systems, das die Besiedlung der Welt durch „Anglos“ und mit ihnen assoziierte ethnische Gruppen möglich machte.

Dass diese Siedlungswellen irgendetwas anderes als “explosiv” sein konnten, bestreitet Belich immer wieder. Unterhalb von „Revolution“ und „Explosion“ gibt es kaum Begriffe, die das rapide Wachstum und die Wechsel von Krise und Aufschwung charakterisieren könnten. Dabei ist es doch klar, dass Bevölkerungszahlen in neugegründeten Städten “logistisches Wachstum” repräsentieren, dessen Kurve nach einer Zeit flacher verläuft und sich schließlich einer Parallele zur X-Achse nähert. Wenn Chicago 1840 4470 Menschen zählte und zehn Jahre später ist diese Zahl auf 29.963 angewachsen, ist das eben eine Steigerung von 670 Prozent! Schon im nächsten Jahrzehnt wuchs die Bevölkerung Chicagos auf 112.172 Menschen an, der Zuwachs aber betrug nur noch 374 Prozent. Man kann sich die „Explosionen“ auch schön rechnen: gemessen an der Bevölkerungszahl von 1840 wuchs Chicago in 50 Jahren (1890: 1.099.850 Menschen) um 24605 Prozent! Diese fantastischen Zahlen ergeben sich aber aus dem Effekt der kleinen Anfangszahlen, die in Räumen, die neu besiedelt werden, immer gegeben sind. Aus dieser wunderbaren Mathematik folgt, dass alles Wachstum und alle Krisen wild und spektakulär gewesen sind. Das Narrativ Belichs betont das Dramatische auf Kosten des Analytischen und zielt immer auf den maximalen rhetorischen Effekt. Teilweise kann das in Rede stehende Wachstum erklärt werden, etwa durch die sinkenden Transportkosten auf Land und See, wichtiger aber scheint Belich die Veränderung der mentalen Disposition von Auswanderungswilligen, die wiederum durch „Booster Literature“ hervorgerufen wurde (S. 159-161).

Auch wenn Krisen und Wachstum zu den Auslösern der Expansion gehörten, werden Marktmechanismen wie die Reaktion auf Preisveränderungen als Erklärungsansatz für die „Siedlerexplosion“ abgetan. Vielmehr waren es die Handelsgeschäfte der Siedler selbst, die rasches Wachstum generierten: Stapelprodukte spielten dabei keine Rolle (S. 415). Die offensichtliche Henne-Ei-Problematik bei diesem Ansatz wird nicht gelöst. Die Boomphasen der Anglowelt dauerten typischerweise etwa 20 Jahre, aber sie waren keine typischen „langen Wellen“ à la Kondratieff oder Kusnetz, sondern das Ergebnis der „Boom-Mentalität“ der SiedlerInnen. Nicht die Wolle in Australia, die Baumwolle im amerikanischen Süden, nicht die Viehherden des Westens noch das Gold in California befeuerten diese wellenartigen Veränderungen (S. 393), es war der „Settlerism“ der sich selbst an den Stiefeln aus dem Morast der Krise zog wie einst Baron Münchhausen. Diese „Rekolonisierung“ nahm immer größere Landareale unter den Pflug und vertrieb die Indigenen mit der gleichen Energie, mit der sie die abgelegenen Siedlergebiete in die Weltwirtschaft einband. Das Ganze riecht sehr nach Walt Whitman Rostows Modernisierungstheorie, trägt also in sich ein schlecht verhülltes Sendungsbewusstseins von der Überlegenheit der Weißen im Vergleich zu den Nicht-Weißen. Das Ganze wird verpackt in eine höchst problematische Sprache, die in Superlativen schwelgt und sich mitunter einer Gendertheorie bedient, die ebenfalls aus dem 19. Jahrhundert zu stammen scheint. Frauen tauchen, wenn überhaupt, nur als Gebärerinnen auf, ihre Rolle in der Wirtschaft wird auf zwei Seiten (S. 549 f.) diskutiert.

Wenig beachtet wird die wirkliche „Bevölkerungsexplosion“ im Mutterland, die eine gute Erklärung für die Zunahme der Bereitschaft war, auszuwandern. Bei allem Bravado und der beachtenswerten Tendenz, jeden etablierten Erklärungsversuch in Frage zu stellen, bin ich nicht überzeugt. Zu viele Fehler und Nachlässigkeiten sind im Text enthalten. Die „Panic von 1837“ war kein „double-header“ sondern dauerte eben mehrere Jahre an. Die ungeschickte Politik der US-Regierung, die die Second Bank of the United States kurz zuvor geschlossen hatte, wird in der Diskussion der Krise mit keinem Wort erwähnt. Überhaupt ist die Überlagerung verschiedener zeitlich zusammentreffender Entwicklungen, die hinter der Krise von 1837 standen, für Belich keine Erklärung. Er selbst enthält sich eigentlich einer Erklärung, sagt vielmehr nur, woran es nicht gelegen hat (S. 227). Ähnliches bei der Panic of 1857. Verschiedene Erklärungen werden diskutiert, alle werden letztlich verworfen und das Ganze gipfelt in dem Satz “Take your pick.“ (S. 229) Die Ablehnung der Baumwolle als Motor für die Wirtschaft des Südens und des Nordostens wird letztlich nur damit begründet, dass Versorgungslücken bei Lebensmittel im Süden nicht nachgewiesen werden konnten. Dass das gleiche Buch, das Belich hier zitiert (John B. Boles, A Companion to the American South, 2002) , in extenso auf die Bedeutung der Baumwolle für die Konjunktur des Südens eingeht, stört unseren wackeren Modernisierungstheoretiker nicht. An anderen Stellen wird es schlicht absurd: „The tragic Indian removals of the 1830s punished groups as the Cherokee for adapting too well to Europe.“ (S. 242) Die Liste der wenig subtilen Unterstellungen dieser Art ließe sich ad nauseam verlängern. Take your pick!

Kritisch ins Gericht mit Belich geht auch der Doyen der Rassismus- und Siedlerkolonialismus-Forschung, Patrick Wolfe, in seinem Beitrag in Fiona Batemans und Lionel Pilkingtons Sammelband „Studies in Settler Colonialism“(S. 288). In seinem Henry Reynolds gewidmeten Beitrag geht er den Spuren des Rassismus nach, die in der Genese des Siedlerkolonialismus aufzuspüren sind. Vollkommen zu Recht bemerkt er, bei der siedlerkolonialen Invasion gehe es nicht um ein Ereignis, sondern um eine Struktur, die durch Langlebigkeit und Perpetuität gekennzeichnet sei (S. 273). Rassismus im Dienst des siedlerkolonialen Projekts sei zum Einen eine Ideologie, doch müsse diese Ideologie „am Boden der Geschichte“ umgesetzt und praktiziert werden, um wirksam zu werden. Diese Rassifizierung (racialization) unterscheide sich aber dramatisch nach Ort und Zeit sowie ihrer inhärenten Strategie. Schon die Rassifizierung der Native Americans und der African Americans verlaufe in getrennten Bahnen, obwohl sie doch mehr oder weniger gleichzeitig und am gleichen Ort stattgefunden habe. Die Strategie der Ausbeutung (von Arbeitskraft oder Land) sei aber flexibel, so dass aus Indianern schwarze Sklaven werden konnten und vice versa.

Dieser Beitrag in dem Sammelband Batemans und Pilkingtons ist in meinen Augen auch das Beste, was das Buch zu bieten hat. Die beiden Herausgeberinnen gefallen sich in der Rolle der SammlerInnen von Beiträgen anderer WissenschaftlerInnen und haben selbst keinerlei Beitrag zum Band geliefert. Batemans Oeuvre ist zwar einschlägig, aber schmal; Lionel Pilkington ist in erster Linie Spezialist für irische Theatergeschichte. Dass bei diesem Herausgeberduo ein uneinheitlicher Band entstehen kann, leuchtet ein. So deckt der relativ schmale Band alles Mögliche ab, von der materiellen Kultur der Kolonisierung Irlands durch die Tudors im 16. Jahrhundert bis zur literaturwissenschaftlichen Analyse der Romane von J.M. Coetzee aus dem 20. Jahrhundert. Die 17 äußerst diversen Beiträge werden von einer lose geschriebenen und äußerst knapp gehaltenen Einleitung begleitet, die wenig mehr tut, als die Kapitel inhaltlich vorzustellen. Man fragt sich, was den Band zusammenhält, was die dahinter stehende Idee ist oder wo sich der rote Faden versteckt hat. Das in dieser Form viel zu allgemeine Statement „[…] a policy of expansion [is] based on the notion of ‚unoccupied‘ or ‚virgin‘ territories [and] is also founded on a commitment to annihilate native or indigenous peoples´[…] aus der Einleitung bietet jedenfalls nicht die nötige thematische Engführung für das vorliegende Buch. Drei der Beiträge beschäftigen sich mit Israel/Palästina, zwei mit Hawai’i, drei mit Australien, zwei mit Südafrika, zwei mit Irland, einer mit Kanada; der Rest läßt sich nicht eindeutig geographisch zuordnen oder besteht aus theoretisch-konzeptionellen Beiträgen, darunter Lorenzo Veracinis „Telling the End of the Settler Colony“, das virtuell identisch ist mit großen Teilen des vierten Kapitels von Veracinis oben besprochenem Buch. Um es zusammenzufassen: Dieses Buch benötigt niemand. Es hat keine Struktur, enthält kein Argument und es hinterlässt vor allem Achselzucken.

Dass Sammelbände nicht per se unstrukturiert sein müssen, beweist das Buch von Robert Bickers „Settlers and Expatriates“, das als Teil der mehrbändigen Oxford History of the British Empire erschienen ist. Als Teil dieser Serie geht es dem Herausgeber mehr darum, ein möglichst umfassendes Bild der britischen Communities in den Kolonien oder Dominions zu zeichnen, als vollkommen neue Ergebnisse vorzustellen. In zwölf Beiträgen wird hier der Geschichte der britischen Siedler in „Übersee“ nachgegangen, wobei nicht nur die typischen Siedlerkolonien thematisiert werden, sondern auch Plätze wie Argentinien, Ceylon, China und ja, Großbritannien, als dem Zentrum, in das die Briten eines Tages zurückkehrten oder den sie als transiente Kolonialbürger gelegentlich besuchten, um dann wieder in die koloniale Peripherie zu entschwinden. Der elegant geschriebene Essay von Elizabeth Buettner beschäftigt sich auch mit Karrieren nach der Dekolonisierung und der Rückkehr nach Großbritannien und sie erklärt ganz nebenbei die große Liebe der Engländer für Spanien. Robert Bickers eigener Beitrag – er hat darüber hinaus eine klare und gut gegliederte Einleitung beigetragen – befasst sich mit britischen Gemeinden in China zwischen 1843 und 1957 – ein respektabler Geschichtszeitraum. Trotz des Überblickcharakters lesen wir viel Neues und Überraschendes in diesem Band, auch für SpezialistInnen hält er noch die ein oder andere Trouvaille bereit, obwohl in der Regel keine Archivquellen bemüht wurden.

Für KennerInnen der nordamerikanischen Geschichte sind die Invasionsversuche der Briten in Buenos Aires höchst informativ, gerade weil sie das Hintergrundrauschen für die amerikanischen Ängste vor einer britischen Rekolonisierung Lateinamerikas darstellen. Die Monroedoktrin bekommt auf einmal eine große Plausibilität. Der entsprechende Beitrag von David Rock ist konzise und belegt die besondere Position Argentiniens für den Lateinamerikahandel der Briten und die relative – auch kulturelle – Autonomie der britischen Ex-Pats in Argentinien. Die besondere Rolle der Briten ist denjenigen, die sich an den Falklandkrieg von 1982 erinnern, kaum vorstellbar, doch existierte bis zum Zeitpunkt dieses Konflikts so etwas wie eine Special Relationship zwischen beiden Nationen. Ebenfalls informativ, aber äußerst lang und dabei sperrig geschrieben, ist der Beitrag von John Lonsdale über Kenya. Nach seiner Lektüre versteht man die Hintergründe des Mau-Mau-Krieges viel besser. Gerade weil die Hintergründe der britischen Landpolitik so gut erklärt werden, wundert es den Rezensenten, dass die Mau Mau als „terrorist movement“ eingestuft werden (S. 77). Bei der Mau Mau oder besser Kenya Land and Freedom Army (KLFA) handelte es sich um eine antikoloniale Befreiungsbewegung, die mit den (oft brutalen) Mitteln der Guerilla kämpfte. Wenn hier überhaupt jemand terroristisch genannt werden konnte, waren es die Briten, die weite Teile der Landbevölkerung in Internierungslagern zusammenpferchten. Klar argumentierend und luzide im Stil hingegen ist der Essay von David Washbrook zur britischen Community in Indien, der die Bedeutung der sozialhistorischen Trias von Race, Class und nicht zuletzt Gender noch einmal herausstellt. Vor allem die Bestrebungen des britischen Imperialismus, weiße Frauen vor dem angeblichen Begehren indischer Männer zu schützen, ist in dieser Pointiertheit allenfalls von Nancy Paxton (1999) herausgestellt worden. Überhaupt kennzeichnete es die britische Politik in Indien, den Kontakt zwischen BritInnen und InderInnen weitgehend zu unterbinden. Aus Platzgründen ist es nicht möglich, auf alle Essays einzeln einzugehen. Sie sind durch die Bank lesenswert. Was dieser guten Zusammenstellung lediglich fehlt sind entsprechende Kapitel zu Australien und Neuseeland, aber diese milde Kritik kann den Wert dieser gelungenen Sammlung von Aufsätzen zu den britischen Kolonien in „Übersee“ nicht mindern.

Als Überraschung im positiven Sinne stellt sich die Monographie Lisa Fords heraus. Hier ist eine Historikerin, die den längst überfälligen Vergleich der Siedlerimperialismen in Nordamerika und Australien wagt und mit überzeugenden Ergebnissen aufwarten kann. 4 Ford konzentriert sich bei ihrem Vergleich auf Georgia und New South Wales (NSW), eine nachvollziehbare Entscheidung, da dies einen synchronen (1788-1836) und symmetrischen Zugang ermöglicht. Allerdings kennzeichneten die Siedlergesellschaften in Georgia und NSW auch große Unterschiede; die Sklaverei in Georgia ist nur eine davon. NSW war eine Gefangenenkolonie, auch das markiert einen großen Unterschied im Selbstverständnis der Kolonisatoren.

Schließlich basierten die rechtlichen Beziehungen zu den Native Americans für die Vereinigten Staaten bis 1871 auf der Praxis der seriell gebrochenen Verträge, die de jure zumindest Native Americans wie gleichgestellte Vertragspartner behandelten, während die Landansprüche der australischen Aborigines durch die Behauptung, es handele sich um Terra Nullius und demzufolge könne das Land von der britischen Krone in toto beansprucht werden, von vornherein abgewehrt wurden. Die Ergebnisse, die Linda Ford in ihrer materialreichen, aus Archivbeständen gearbeiteten Studie vorlegt, schließen eine Lücke in der Geschichte der juridischen und politischen Souveränität der Siedlergesellschaften. In beiden Fällen, NSW und Georgia, ergab sich ein juristischer Pluralismus, der den Indigenen zunächst eine begrenzte Selbstregierung zusprach – solange dieses Zugeständnis nicht mit den vitalen Interessen der Siedlergemeinschaften kollidierte. Da dies nach 1830 unausweichlich der Fall war, unternahmen es beide Staaten, der australische Commonwealth und die USA, die Selbstregierung der Indigenen schrittweise abzuschaffen, was wiederum mit großen Landverlusten verbunden war. Die großen rechtlichen Auseinandersetzungen der 1830er Jahre in NSW und Georgia lieferten dafür die notwendige juristische Handhabe. Schließlich einte sowohl die amerikanischen wie die australischen Siedlersouveränität der Bezug auf das Common Law und die Entscheidungsfindung auf der Basis des Case Law. Dies ist ein faszinierendes Buch, das zudem vergnüglich zu lesen ist. Es lebt von der Analyse einzelner Rechtsfälle, die selten die höheren Gerichtshöfe erreichte, von den sich überlagernden Jurisdiktionen und von dem Dilemma, das in diesem vielstimmigen Konzert auch Platz war für Entscheidungen, die den Interessen der Siedler strategisch widersprachen.

Anmerkungen:
1 Nobert Finzsch, Discourses of Genocide in Eighteenth- and Nineteenth-Century America and Australia. Genderforum (Rac(e)Ing Questions II: Gender and Postcolonial/Intercultural Issues) 10 (2005), URL: http://www.genderforum.org/fileadmin/archiv/genderforum/racing2/finzsch.html (letzter Zugriff 28.3.2014)
2 „Um es klarer zu sagen, der Fetisch ist der Ersatz für den Phallus des Weibes (der Mutter), an den das Knäblein geglaubt hat und auf den es — wir wissen warum — nicht verzichten will.“ Sigmund Freud, Gesammelte Werke, Psychoanalyse, Fetischismus (1927), URL: http://www.textlog.de/freud-psychoanalyse-fetischismus.html (letzter Zugriff 28.3.2014).
3 Norbert Finzsch, “The aborigines ... were never annihilated, and still they are becoming extinct”. Settler Imperialism and Genocide in Nineteenth-Century America and Australia, in: A. Dirk Moses, (Hrsg.). Empire, Colony, Genocide. Conquest, Occupation, and Subaltern Resistance in World History, New York 2008, S. 253-270.
4 Ähnliches versucht das von der DFG geförderte und von Ursula Lehmkuhl (Trier) und Norbert Finzsch (Köln) beantragte Forschungsprojekt „Siedlerimperialismus in Nordamerika und Australien: Gouvernementale Ordnungsansätze, Kleinstereignisse und Mikropraktiken an der Frontier in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts“, wobei Ford ihren Fokus vor allem auf die juridische und politische Ordnung legt, während es Lehmkuhl/Finzsch um die kolonialen Kleinstereignisse geht.

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04.04.2014
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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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