J. S. Torrie: "For Their Own Good"

Cover
Title
"For Their Own Good". Civilian Evacuations in Germany and France, 1939-1945


Author(s)
Torrie, Julia S.
Published
New York 2010: Berghahn Books
Extent
269 S.
Price
$ 95.00
Reviewed for Connections. A Journal for Historians and Area Specialists by
Nicholas John Williams, Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte, Universität des Saarlandes, Saarbrücken

Mit „For Their Own Good“ legte Julia Torrie jüngst eine transnational konzipierte Studie über die bislang wenig beachteten Evakuierungen in Deutschland und Frankreich während des Zweiten Weltkrieges vor. Die Evakuierungen dienen dabei als Kristallisationspunkt, anhand dessen die Dynamik in den Beziehungen zwischen dem nationalsozialistischen Deutschland und dem besetzten Teil Frankreichs untersucht werden. Dieses Verhältnis kann nicht als politische Einbahnstraße verstanden werden. Die nationalsozialistische Presse und Propaganda bemühten sich, die Evakuierungen in Frankreich entlang der Grenze mit Deutschland 1939 und insbesondere den „Exodus“ 1940 als chaotisch darzustellen und der geordneten deutschen „Rückführung“ gegenüberzustellen (S. 48f.), was aus deutscher Sicht (unter Nichterwähnung der vielen Unzulänglichkeiten bei der eigenen Evakuierung entlang der französischen Grenze 1939) auch die eigene, ideologisch begründete Skepsis gegenüber Evakuierungsmaßnahmen rechtfertigen sollte. Jedoch wurde die ursprüngliche Skepsis in der Frage der Evakuierungen auf deutscher Seite bald aufgegeben, und mit zunehmender Intensivierung des Luftkrieges trat die Notwendigkeit, Zivilisten in Schutz zu bringen, ab 1941 auch in Deutschland immer deutlicher zutage. Anhand zweier Fallstudien, der Evakuierung in Witten und der vonseiten der Bevölkerung spontan organisierten Demonstration gegen diese Maßnahme (S. 97–112) sowie der Evakuierung Cherbourgs (S. 112–127) macht Torrie deutlich, wie gegenseitige Lernprozesse in der Evakuierungsfrage eine Dynamik annahmen (S. 117f.), die sich der eindeutigen Dichotomie von Besatzern und Besetzten oft entzog.

Anschaulich beschreibt Torrie Wechselwirkungen, organisatorisches Ineinandergreifen und Rivalitäten zwischen der „Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt“, dem „Secours National“, dem „Comité Ouvrier de Secours Immédiat“ und dem „Entr’Aide d’Hiver“ (S. 39–48 und S. 69–72). Gegenseitige Klischees und nationale Rollenbilder spielten in diesen Beziehungen eine große Rolle. Das tatsächliche Spannungsfeld zwischen Zusammenarbeit und Rivalität gestaltete sich aber bedeutend komplexer, als auf den ersten Blick angenommen werden könnte. Die französischen Behörden im besetzten Frankreich vermochten sogar, sich in der Pufferzone zwischen Besatzern und Besetzten Verhandlungsspielräume zu erwirken, und ermöglichten dadurch einerseits eine Modifizierung deutscher Besatzungspolitik, setzten diese in gefilterter Form aber andererseits dann gegenüber der eigenen Zivilbevölkerung durch (S. 115f.).

Torrie verortet die Evakuierungen im Kontext der unterschiedlichen Formen von Migration im Umfeld des Zweiten Weltkrieges und argumentiert, dass es sich bei der Evakuierung für die Betroffenen nicht nur um eine Pflicht, sondern auch um ein Recht gehandelt habe. Ein Kapitel (S. 128–150) untersucht daher diejenigen, die aus ideologischen Gründen nicht an einer Evakuierung teilhaben durften, also in erster Linie Juden, Sinti, Roma, Homosexuelle und sogenannte „Asoziale“. Hier schlägt Torrie die Brücke zwischen den Evakuierungen und den nationalsozialistischen Deportationen und stellt damit in letzter Konsequenz die (wenn auch indirekte) Kontinuität zwischen Evakuierungen und Völkermord her. Zum Schluss geht die Autorin noch auf die unterschiedlichen Nachwirkungen der Evakuierungen nach dem Zweiten Weltkrieg ein. Auch hier erweist sich der transnationale Ansatz, der die wechselseitige Verschränkung der Ereignisse in beiden Ländern in den Vordergrund rückt, als besonders fruchtbar, angesichts der Existenz mehrerer Besatzungszonen in Deutschland bzw. zweier deutscher Staaten seit 1949, aber auch als große Herausforderung. Weiterhin geht Torrie auf die inneren Entwicklungsprozesse beider Länder in der Evakuierungsfrage ein, bei der in Deutschland Möglichkeiten und Grenzen der Durchsetzung der nationalsozialistischen „Volksgemeinschafts“-Verheißungen zutage treten (S. 73–93).1 Der Protest Wittener Bürgerinnen (es handelte sich vor allem um Frauen) gegen die geplante Evakuierung machte deutlich, wie inhärente Widersprüche der NS-Ideologie zum Protest gegen deren Umsetzung führen konnten.2 Insgesamt zeigt Torries Studie glaubwürdig auf, dass bei allen Unzulänglichkeiten die französische Evakuierungspolitik dank ihres stärkeren Interesses am familiären Zusammenhalt der Evakuierten letztlich eine erfolgreichere Politik war als die deutsche. Die deutsche Evakuierungspolitik hingegen war nicht nur durch ihre eigenen ideologischen Schranken eingeengt, sondern auch schlicht weniger realistisch und daher auch weniger flexibel im Umgang mit den unvorhergesehenen Schwierigkeiten bei den Evakuierungen.

Neben dem methodisch fruchtbaren transnationalen Ansatz fügt sich Torries Studie in neuere Forschungen und Erkenntnisinteressen zur europäischen Geschichte zwischen 1939 und 1945 ein. Bestimmen bei Goldhagen,3 Gellately4 oder auch bei Aly5 Fragen nach Schuld und Verantwortung, Tätern und Opfern der Schoah die Debatte, rückt in letzter Zeit das Verhältnis zwischen Regierung und Regierten im Alltag in den Vordergrund.6 Jenseits der Debatte über den Luftkrieg an sich stellten die Evakuierungen für die Betroffenen ebenso einschneidende Kriegserlebnisse dar wie der Luftkrieg selbst (S. 7). Im deutsch-französischen Vergleich bieten sie Gelegenheit, Möglichkeiten und Grenzen der Besatzungspolitik sowie der Zugriffmöglichkeiten einer totalitären Diktatur auf ihre eigenen wie auch auf die Bürger von Deutschland besetzter Gebiete aufzuzeigen. Dies soll nicht bedeuten, dass wissenschaftliches Interesse an den Evakuierungen sich den bisherigen Forschungskategorien entzöge; vielmehr ergänzt es obige Überlegungen und wirft etwa die Frage auf, inwiefern bei den Evakuierungen logistische Erfahrung gesammelt wurde (und vielleicht sogar gesammelt werden sollte), um spätere Massendeportationen vorzubereiten. Bei den Evakuierungen handelt es sich darüber hinaus um ein Feld, auf dem bis auf wenige Pionierstudien einzelner Regionen in den Grenzgebieten noch keine einschlägigen Monographien existieren. Im deutschen Fall sind die Evakuierungen vor Luftangriffen bisher am facettenreichsten von Katja Klee untersucht worden.7 In vergleichender, deutsch-französischer Perspektive bleibt Torries Arbeit die einzige. Umso unüberschaubarer ist das Feld der grauen Literatur zum Thema (das ein Interesse auf lokaler und regionaler Ebene an dem Thema zeigt), und es ist daher sehr zu begrüßen, dass in wissenschaftlicher Hinsicht dieses Desiderat nun bearbeitet wird, zumal die Evakuierungen in Großbritannien und deren Auswirkungen auf die Bevölkerung längst einen Teil der dortigen Debatten zum Zweiten Weltkrieg darstellen und auch in Osteuropa inzwischen zum Gegenstand jüngerer Forschung geworden sind.8

Der direkte Vergleich zwischen den Evakuierungen in Witten und Cherbourg (S. 94–127) ist interessant und erhellend, wäre jedoch noch aussagekräftiger, hätte Torrie in Frankreich und Deutschland je eine weitere Fallstudie durchgeführt und dadurch die transnationale Perspektive zur „verschränkten Geschichte“ ausgebaut. Regionale Unterschiede (aber auch Gemeinsamkeiten) wären auf diesem Wege vermutlich deutlicher geworden bzw. differenzierter zutage getreten, wobei dies den Wert der vorliegenden Studie nicht schmälert, sondern Raum für weitere Arbeiten lässt. Die zweite Frage betrifft Torries Konzept einer Evakuierung nicht nur als Recht, sondern als Privileg, und damit ihre Beschreibung eines Aspekts von „Volksgemeinschaft“. Die Existenz der vielen „wilden Heimkehrer“, die sie an mehreren Stellen untersucht, lässt Zweifel daran aufkommen, ob diese sich als „Nutznießer“ einer „Volksgemeinschaft“ (S. 6f.) sahen. Torrie zeigt glaubhaft auf, dass sowohl in Deutschland als auch in Frankreich die Bereitschaft, sich evakuieren zu lassen, immer mehr abnahm und Evakuierte daher im Verlauf des Krieges zunehmend ohne behördliche Erlaubnis zurückreisten. Gerade vor diesem Zusammenhang darf bezweifelt werden, dass die Evakuierungen als Privileg wahrgenommen wurden. Für Torries Argument wiederum spricht, dass die Nationalsozialisten durch die Nicht-Evakuierung von Teilen der Bevölkerung (S. 128–150) bzw. deren Verschickung zurück in die bombardierten Gebiete (S. 85f.) die alliierten Bombenangriffe bewusst für ihre Vernichtungspolitik sowohl im Rahmen des Genozids an Juden, Sinti und Roma als auch des Mordes an Kranken, Behinderten und Homosexuellen zu instrumentalisieren suchten. Die Frage der Wahrnehmung durch die Bevölkerung ist in diesem Zusammenhang allerdings eine andere. Damit wird auch in der Schlussfolgerung noch einmal deutlich, inwieweit jüngere Forschungen zum Thema Evakuierungen über den traditionellen Forschungsrahmen zum NS-System hinausweisen. Die Debatte um den transnationalen Rahmen im deutsch-französischen Vergleich mit einer methodisch gelungenen und inhaltlich rundum überzeugenden Studie bereichert zu haben ist ein Verdienst Torries, auf dessen Grundlage sich vielversprechende weitere Arbeiten erwarten lassen. Indes liegt nach ihrer hervorragenden Studie die Messlatte für künftige Arbeiten auf diesem Gebiet hoch, was zu begrüßen ist.

Anmerkungen:
1 Zum aktuellen Forschungsstand zur „Volksgemeinschaft“ siehe Ian Kershaw, „Volksgemeinschaft“. Potenzial und Grenzen eines neuen Forschungskonzeptes, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 1 (2011), S. 1–14.
2 Siehe Richard J. Evans, German Women and the Triumph of Hitler, Journal of Modern History 48 (1976); Detlev Peukert, Ruhrarbeiter gegen den Faschismus: Dokumentation über Widerstand im Ruhrgebiet 1933–1945, Frankfurt am Main 1976.
3 Daniel Jonah Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust, Berlin 1996.
4 Robert Gellately, Hingeschaut und weggesehen. Hitler und sein Volk, Stuttgart u.a. 2002.
5 Götz Aly, Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt am Main 2005.
6 Kershaw, „Volksgemeinschaft“, S. 1f.
7 Katja Klee, Im „Luftschutzkeller des Reiches“. Evakuierte in Bayern 1939-1953: Politik, soziale Lage, Erfahrungen, München 1999.
8 Zu Großbritannien siehe z. B. Mike Brown, Evacuees. Evacuation in Wartime Britain 1939–1945, Gloucestershire 2005; zur Sowjetunion: Rebecca Manely, To the Tashkent Station. Evacuation and Survival in the Soviet Union at War, New York 2009.

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22.04.2011
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