I. Borowy u.a. (Hrsg.): Of Medicine and Men

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Title
Of Medicine and Men. Biographies and Ideas in European Social Medicine between the World Wars


Editor(s)
Borowy, Iris; Hardy, Anne
Published
Frankfurt am Main, Berlin, Bern u.a. 2008: Peter Lang/Frankfurt am Main
Extent
223 S.
Price
€ 39,00
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Sigrid Stöckel, Medizinische Hochschule Hannover

Der Titel klingt kurz und prägnant: „Of Medicine and Men“. Thema ist jedoch nicht Medizin, sondern Sozialmedizin bzw. Public Health in der Zwischenkriegszeit, in der sozialmedizinische Konzepte in nationalen wie internationalen Kontexten entwickelt, verbreitet und ausgetauscht wurden. Vorgestellt werden Protagonisten amerikanischer und europäischer Sozialmedizin, die im Rahmen der Rockefeller Foundation und der Hygienesektion des Völkerbundes (League of Nations Health Organisation, LNHO) arbeiteten und miteinander vernetzt waren. Mit dem Buch soll – so Iris Borowy in der Einleitung – eine Ärztegruppe vorgestellt werden, die als Pioniere einer internationalen, interdisziplinären und umfassenden „global health“-Kultur bisher zu wenig wahrgenommen wurden. Das Genre der Ärztebiographie erhält mit einem Beitrag von Patrick Zylberman über die „posthume Prüfung menschlicher Größe“ ein eigenes Gewicht. Zylberman weist darauf hin, dass die vorgelegten Biographien auf den Quellenkorpora der beiden supranational agierenden Institutionen beruhen und das Produkt einer epistemischen Gemeinschaft sind, die sowohl wissenschaftliche Kausalitätsvorstellungen wie auch moralische Wertungen teilte (S. 200). Wie die Beiträge zeigen, finden sich in der Gruppe jedoch fachliche und politische Unterschiede, die durch die jeweiligen nationalen Kontexte konturiert werden.

Die Biographien spiegeln die Entstehung europäischer Sozialmedizin und Politik von Ungarn und dem Königreich der Slowenen, Kroaten und Serben alias Jugoslawien über Großbritannien, Dänemark, Spanien und Deutschland. Der Band beginnt mit einem Beitrag von Socrates Litsios über Selskar Gunn als der entscheidenden Figur der Rockefeller Foundation in Europa. Anders als ihr wissenschaftlicher Leiter William Welch, der das Hauptgewicht auf Laborforschung legte, konzentrierte sich Gunn auf die Versorgung vor Ort. Mediziner sollten darin ausgebildet werden, die Bevölkerung über die Notwendigkeit einer hygienischen Lebensführung aufzuklären und entsprechende Infrastrukturen zu schaffen. Gunns Auffassung nach konnten die USA den europäischen Ländern nichts Besseres bieten als die dort selbst entwickelten Curricula. Litsios beschreibt Gunns unbeirrbares Engagement und sein Netzwerk innerhalb der Rockefeller Foundation. Leider kann er jedoch keine weiteren biographischen Einzelheiten schildern. Hilfreich wären an dieser Stelle zudem Informationen über die Rockefeller Foundation und ihren International Health Board.

In den Beiträgen über Bela Johan (Ungarn) von Erik Engebrigtsen und Andrija Stampar (Jugoslawien) von Zeljka Dugac werden die Persönlichkeiten durch die Rolle, die sie in ihren nationalen politischen Kontexten und Konflikten spielten, deutlicher erkennbar. Die Rockefeller Foundation unterstützte beide Länder nach dem ersten Weltkrieg mit Stipendien. So konnte Bela Johan in den USA sein bakteriologisches und hygienisches Wissen erweitern. Nach seiner Rückkehr baute er in Ungarn ein Nationales Hygiene-Institut auf und reformierte das Gesundheitswesen auf dem Lande. Wo sich Widerstand gegen die Reformen bildete, gelang es Johan, die neuen Strukturen mit nationalen Traditionen so zu verbinden, dass sie auch von nationalen Kreisen akzeptiert wurden. Mitte der 1930er-Jahre erhielt er Unterstützung durch das Innenministerium, in den folgenden Jahren auch von rechts-nationalen Kreisen. Da Johan sich dagegen nicht verwahrte, geriet er mittlerweile in Ungarn in Misskredit. Engebrigtsen relativiert diese Kritik jedoch, indem er Johans gesamtes Engagement als kontinuierlichen Kampf um politische Unterstützung interpretiert, bei dem die einzelnen inhaltlichen Kompromisse gegenüber dem Hauptziel eines öffentlichen Gesundheitswesens von geringer Relevanz seien (S. 64). Eine derartige Relativierung erscheint angesichts der positiven Bewertung der internationalen Public Health-Strategien verständlich, sie ignoriert aber die prinzipielle Ambivalenz bevölkerungspolitischer Steuerungen und ihr Missbrauchspotential. 1

Im Gegensatz zu Johan konnte Andrija Stampar als „Resolute Fighter for Health and Social Justice“ (Dugac) in den 1920er Jahren im Königreich der Slowenen, Kroaten und Serben keine dauerhafte Unterstützung für seine Reformen erhalten. Neben der politischen Unruhe im Vielvölkerstaat trugen Stampars radikale Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit daran die Schuld (S. 82). Mit Hilfe der Rockefeller Foundation gründete er ab 1922 unzählige Polikliniken und bakteriologische Institute sowie eine School of Public Health in Zagreb. Nachdem der König 1929 das Parlament auflöste, musste sich Stampar aus der Politik zurückziehen. Selbst eine Professur wurde ihm verwehrt. Daraufhin wechselte er zum Völkerbund, bereiste in seinem Auftrag Skandinavien, China und Russland wie auch die USA und Kanada und kehrte Ende der 1930er-Jahre nach Kroatien zurück. Beim Einmarsch der deutschen Truppen 1941 wurde er von der Gestapo gefangen genommen. Nach Kriegsende engagierte er sich für die Gründung der WHO, dessen erster Vorsitzender er 1948 wurde.

Ein ähnliches politisches Profil stellen Esteban Rodriguez-Ocana und Iris Borowy für den in Italien geborenen und in Spanien tätigen Gustavo Pittaluga heraus. Pittaluga engagierte sich erfolgreich für die Bekämpfung der Malaria, verlor aber nach der Übernahme der Regierung durch General Rivera die notwendige politische Unterstützung. Daraufhin wandte er sich der Malaria-Kommission des Völkerbundes zu und untersuchte Malaria-Epidemien in den europäischen Flussdeltas des Ebros, des Pos und der Donau. Bis zur Absetzung General Riveras hatte Pittaluga in Spanien keine Möglichkeit, seine Konzepte umzusetzen. In der Zweiten spanischen Republik 1931 bis 1936 erlebte er dagegen eine ausgesprochen produktive Phase, die er sowohl für Studien und Kongresse nutzte als auch für öffentliche Aufrufe für die politischen Rechte der spanischen Landbevölkerung (S. 182). Nach Ausbruch des spanischen Bürgerkriegs und der Machtübernahme durch Franco musste sich Pittaluga zunächst nach Frankreich, beim Einmarsch der deutschen Truppen nach Cuba zurückziehen. Anders als Stampar schaffte er es nicht, nach dem Zweiten Weltkrieg in sein Land zurückzukehren, und geriet nahezu in Vergessenheit.

Während Stampar und Pittaluga sich offen für ihre politischen Haltungen einsetzten, stellt Zoe Sprigings mit dem Briten Melville Mackenzie einen weiteren Mitbegründer der WHO vor, der von der Medizin wie auch von sich selbst unbedingte politische Neutralität verlangte. Sprigings weist darauf hin, dass er dieser Forderung umso leichter nachkommen konnte, als er seine eigenen Werte des britischen Kolonialismus mit einer weltumfassenden Humanität gleichsetzte. Die Trennung seiner persönlichen Meinung von allem, was er als Experte äußerte, verhinderte jedoch nicht, dass seine Handlungen stark von seinen Überzeugungen als konservativer britischer Staatsbürger geprägt waren (S. 112). Die Tatsache, dass nationalpolitische Aggressionen in den 1930er Jahren dem Völkerbund die medizinische Arbeit unmöglich machte, traf gerade Mackenzie schwer. Mit der Gründung der WHO versuchte er, den Traum einer internationalen Zusammenarbeit neu zu fassen.

Am Beispiel Thorvald Madsens weist Anne Hardy auf die wissenschaftlichen Leistungen des Leiters des Skandinavischen Serum-Instituts und Pioniers in der Standardisierung neuer biologischer Impfstoffe hin und betont darüber hinaus seine diplomatischen Verdienste als erster Präsident des Völkerbundes. Ihm war zu verdanken, dass deutsche und französische Forscher nach dem Ersten Weltkrieg trotz nationaler Spannungen miteinander in Kontakt traten (S. 138f.).

Die Kontakte deutscher Wissenschaftler zum Völkerbund, die Iris Borowy vorstellt, sind weniger bekannt. Die im deutschen Kaiserreich von Grotjahn, Gottstein u.a. entwickelte Sozialhygiene gilt als ein deutsches Modell, das kaum internationaler Unterstützung bedurfte. Hinzu kam, dass der Völkerbund als Ergebnis des Versailler Vertrages und der gegen deutsche Interessen durchgesetzten Nachkriegsordnung zunächst abgelehnt wurde.2 Ab 1924 kooperierten jedoch deutsche Sozialhygieniker unterschiedlicher politischer und ideologischer Provenienz mit der Hygienesektion des Völkerbundes, und 1925 wurde der Bakteriologe und Hygieniker Otto Olsen offizieller Mitarbeiter der Hygienesektion. Insbesondere in Fragen der Säuglingssterblichkeit sowie der gesetzlichen Krankenversicherung und ihrer mögliche Präventionspotenziale waren deutsche Mediziner an Studien und Debatten beteiligt, die trotz Differenzen zwischen sozialen und biologischen Erklärungsansätze in einer offenen Diskussionskultur verliefen (S. 152f.). Im Herbst 1933 rief das Auswärtige Amt alle deutschen Wissenschaftler auf, die Zusammenarbeit mit dem Völkerbund zu beenden. Olsen blieb dessen ungeachtet in Genf und hielt die Kommunikation zwischen der LNHO und dem Reichsgesundheitsamt aufrecht, die selbst nach Kriegsausbruch nicht völlig zum Erliegen kam. Die Mitarbeiter des Völkerbundes schätzten die Möglichkeit, ihrerseits an in Deutschland gesammelte Daten zu kommen (161).

Die Beiträge liefern interessante und unerwartete Beispiele europäischer Sozialmedizin. Teilweise sind die Darstellungen sehr voraussetzungsvoll, detailliertere Informationen über die nationalen politischen Konflikte in den jeweiligen Beiträgen wären ebenso hilfreich wie eine kurze Zusammenfassung der Geschichte der Rockefeller Foundation und des Völkerbundes. Obwohl die Kapitel nicht in jedem Fall biografisch ergiebig sind; zeigen die gewählten Beispiele jedoch Schnittpunkte der Entwicklung der Sozialmedizin, einer sich international verstehenden Medizin und des politischen Engagements der Akteure.

Anmerkungen
1 Vgl. die Problematisierung der „teleologischen Richtigkeit“ von Public Health Strategien z.B. bei Dorothy Porter / Roy Porter (Hrsg.), Doctors, Politics and Society: Historical Essays, Amsterdam1993, S. 5-6; Gabriele Moser / Jochen Fleischhacker, People’s health and Nation’s body. The modernisations of statistics, demography and social hygiene in the Weimar Republic, in: Esteban Rodríguez-Ocaña (Hrsg.), The Politics of the Healthy Life, an International Perspective, Sheffield 2002), pp. 151–179.
2 Paul Weindling, Epidemics and genocide in Eastern Europe 1890-1945, Oxford 2000, S. 218f.

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16.09.2011
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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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